Das Song-ABC

Hier geht es um die Inhalte von Kates Songs, was sie bedeuten, vielleicht auch für einen selbst bedeuten. Das Song-ABC wird sich Song für Song füllen. Und hoffentlich kommen viele weitere neue Lieder von Kate hinzu. Ausgeklammert bleiben vorerst die Demos und Coversongs. Wer einen Kommentar zum jeweiligen Song hinterlassen möchte, kann dies im Originalbeitrag tun.

A

Aerial / Aerial Tal / A Coral Room / All The Love / All We Ever Look For / Among Angels / An Architect’s Dream / And Dream Of Sheep / And So Is Love / Army Dreamers

B

Babooshka / Be Kind To My Mistakes / Bertie / Between A Man And A Woman / Big Stripey Lie / Blow Away (For Bill) / Breathing / Burning Bridge

C

Cloudbusting / Coffee Homeground / Constellation Of The Heart

D

December Will Be Magic Again / Deeper Understanding / Delius (Song Of Summer) / Don’t Push Your Foot On The Heartbrake / Dreamtime

E

Eat The Music / Egypt / Experiment IV

F

Feel It / 50 Words For Snow / Flower Of The Mountain / Fullhouse

G

Get Out Of My House

H

Hammer Horror / Heads We’re Dancing / Hello Earth / Home For Christmas / Houdini / Hounds Of Love / How To Be Invisible / Humming

I

I’m Still Waiting / In Search Of Peter Pan / In The Warm Room

J

James And The Cold Gun / Jig Of Life / Joanni

K

Kashka From Baghdad / Ken / King Of The Mountain / Kite

L

Lake Tahoe / L’Amour Looks Something Like You / Leave It Open / Lily / Love And Anger / Lyra

M

Misty / Moments Of Pleasure / Mother Stands For Comfort / Moving / Mrs. Bartolozzi / My Lagan Love

N

Ne T’Enfui Pas / Never Be Mine / Night Of The Swallow / Night Scented StockNocturn / Not This Time

O

Oh England My Lionheart / Oh To Be In Love / One Last Look Around The House Before We Go

P

Passing Through Air / Pi / Prelude / Prologue / Pull Out The Pin

Q

R

Ran Tan Waltz / Reaching Out / Rocket’s Tail / Room For The Life / Rubberband Girl / Running Up That Hill (A Deal With God)

S

Sat In Your Lap / Show A Little Devotion / Snowflake / Snowed In At Wheeler Street / Somewhere In Between / Strange Phenomena / Sunset / Suspended In Gaffa / Symphony In Blue

T

Tawny Moon / The Big Sky / The Confrontation / The Dreaming / The Empty Bullring / The Fog / The Infant Kiss / The Kick Inside / The Man With The Child In His Eyes / Them Heavy People / The Morning Fog / The Painter’s Link / The Red Shoes / There Goes A Tenner / The Saxophone Song / The Sensual World / The Song Of Solomon / The Wedding List / This Woman’s Work / Top Of The City

U

Un Baiser D’Enfant / Under Ice / Under The Ivy

V

Violin

W

Waking The Witch / Walk Straight Down The Middle / Warm And Soothing / Watching You Without Me / Wild Man / Why Should I Love You? / Wow / Wuthering Heights

X

Y

You’re The One / You Want Alchemy

Z


Aerial

aerial02

Mit dem Song „Aerial“ bricht endgültig die Morgendämmerung, die sich gegen Ende des Songs „Nocturn“ in einem orgiastischen Chor als eine Form spiritueller Sonnengruß im Viervierteltakt angekündigt hatte, über das Land herein. Wie der Name schon verrät, handelt es sich um ein romantisch inspiriertes „Nachtstück“ in Cis-Moll. Die erste Hälfte der Nachtmusik besteht aus langgezogenen, vom Metrum befreiten, ätherischen Rezitativen der Zauberin (überwiegend in Sekund- und Terzschritten voranschreitend), während im Schlusschor ein letztes Mal die beschwörende Kraft des Kollektivs zum Zuge kommt. Harmonisch findet ein spannungsgeladenes Wechselspiel zwischen Cis-Moll und A-Dur als Grund-, Sept-/ oder Nonakkord statt. Hier beginnt nun auch die rituelle Transformation (Selbstveränderungsprozess), die anhand von Victor Turners Ritualtheorie eingehender beleuchtet werden kann. Typisch für musikalische Szenen dieser Art ist, dass sich die Melodik der Chöre aus sehr einfachen, rezitativen Elementen zusammensetzt.
Auf der Textebene wird deutlich, dass der Ort am Horizont, an dem sich Meer und Sonne treffen, als Geburtsstätte des Feuerballs gedeutet wird. Die goldene Färbung des Wassers und des Himmels bzw. das Zusammenfließen dieser beiden Sphären wird mit dem Bild des Honigs, dem Futtersaft der Bienen, verglichen. Somit wird – wie bereits in „The Painter’s Link“ auch – die fließende, zyklische Geburt der Sonne aus dem Meer des unendlichen Kosmos zum sakralen Kontext eines rituellen, körperlichen Fruchtbarkeitsfestes erhoben.
Die Chorpassage aus „Nocturne“ stellt innerhalb von „An endless sky of honey“ eine Grenzsituation dar. Sie vertont den Moment zwischen Nacht und Tag, zwischen Schlafen und Erwachen (hier werden im Zuhörer/Zuschauer natürlich auch Assoziationen von Leben und Tod erweckt). Wenn mit einem lauten Tutti des Instrumentalsatzes auch der Chor in Takt 156 auf der Grundstellung von Cis-Moll endet, beginnt bereits das minimalistische Streichermotiv der Verwandlungsszene aus „Aerial“.
„Aerial“ kann als fulminanter Höhepunkt des zweiten Aktes bzw. der zweiten Seite des Doppelalbums betrachtet werden und spaltet sich auch in seiner Form als stampfender Tanz im Dreivierteltakt rhythmisch von den zuvor oftmals sehr lyrischen Szenen des zweiten Aktes ab. Das Textzitat „The song must be sung“ macht die Notwendigkeit einer dionysischen, musikalischen Beschwörung deutlich. Das eintaktige Begleitmotiv besteht die ersten 26 Takte lang lediglich aus pendelnden Achtelnoten zwischen den Harmonien Cis-Moll-7 und Cismoll-9, während der Bass in hoher Lage und auf Viertelebene folgende viertaktige Wellenlinie zeichnet: e’ e’ d’/ cis’ cis’ d’/ e’ e’ d’/ cis’ cis’ d’/.
Immer im zweiten Takt wird auf Schlag drei/Ton d’ ein rhythmischer Akzent gesetzt. Die ungewöhnliche Betonung des Dreivierteltaktes geht mit der Rück-Verwandlung der Zauberin zum Vogel einher und versinnbildlicht, dass auch auf der rhythmischen Ebene nichts so ist, wie es zu sein scheint. Die Welt steht Kopf. Stück für Stück wachsen ihr und der Band während der endlosen Kreistänze lange Schnäbel und Flügel. In den folgenden Worten des Theaterwissenschaftlers Friedemann Kreuder wird veranschaulicht, welch bedeutende, theatrale Rolle der Maske innerhalb des Rituals zukommt. Wenn sich die Zauberin und ihre Gefährten mit Vogelmasken und Federn schmücken, so findet aus Sicht des Rituals tatsächlich eine reale Verwandlung statt. Durch die Verwendung der Masken wird aber auch die psychologische Tiefenstruktur solch komplexer Rituale sichtbar.

„In afrikanischen Sprachen gibt es zumeist kein Lexem, das sich wörtlich mit ‘Maske’ übersetzten ließe. Ähnlich wie das altlateinische Wort ‘larva’ im Sinne von ‘Gespenst’, ‘Spukgestalt’ oder ‘dämonische Verkleidung’ wird die ‘Maske’ durch das bezeichnet, was sie angeblich repräsentiert: als Geist, Ahnengeist, Vorfahren oder als Tote u.Ä. Ritualmasken eignet eine thanatologische Dimension, indem sie Beziehungen herstellen, zwischen den Lebenden und den Verstorbenen einer Gesellschaft oder denjenigen Geisterwesen, die auf die Lebenden heilbringend einwirken sollen. Die Maske assimiliert den Träger mit demjenigen, was sie versinnbildlicht und verleiht ihm aus der Sicht der Teilnehmer am Ritual auch dessen Wirkungskraft… mit der Maske verband sich traditionell ein lebloses Objekt mit einem lebendigen Körper, traf anorganische Natur auf organische. Von daher ist die Maske Ausdruck unserer Doppelnatur als Verbindung von Natur und Kultur.“ (1)

Vasnetsov_Sirin_Alkonost

Aus den Baumwipfeln sind bedrohliche Vogelschreie und wildes Flügelschlagen zu hören. Im Zuschauerraum regnet es Federn. Durch die unermüdliche Wiederholung entsteht ein brodelnder, nahezu neurotischer, zwanghafter Charakter, der das Aufgehen der Sonne krampfhaft erzwingen will. In Takt zehn setzt dann die lallende Stimme der bereits ekstatisch ums Lichtfeuer spukenden Zauberin ein. In diesem letzten Teil des zweiten Akts wird deutlich, wie eng Psyche und Soma im rituellen Geschehen ineinander verschränkt sind. Das sich nun anbahnende, orgiastische Ausbrechen aus den alltäglichen, sozialen Strukturen wird in Form eines ungezügelten Balztanzes gen Sonnenaufgang verwirklicht.
“Aerial“ gliedert sich in fünf Formteile. Im Teil A besteht der Rahmen der einzelnen melodischen Phrasen überwiegend aus zähen, gebundenen, abwärts gerichteten Quarten (fis’-cis’). Der Formteil B stellt einen für sich isolierten Formteil dar. Er widmet sich der Sonne und besteht lediglich aus dem Halbsatz „… in the sun.“ Die Anrufung der Sonne besteht aus einem Auftakt fis’-gis’ (punktierte Achtelnote-Sechzehntelnote), gefolgt von einem Quartsprung zum Wort „sun“, auf dem Ton cis’’. Die rituelle Bedeutung des Wortes „sun“ auf cis’’ kommt zum einen durch seine Sonderstellung als höchster Ton innerhalb der Melodik und zum anderen auch in Form eines acht Takte langen Haltetons, als Ausbruch aus dem rhythmischen Spiel der pulsierenden Instrumente, zum Ausdruck.
Das Licht der Sonne erstrahlt somit erhaben über dem Klangteppich der Instrumente. Durch das ekstatische Tanzen der archaisch gekleideten Darsteller des Chores werden kleine Vogelschwärme aufgeschreckt, während die Marionette sich von ihren „Fäden” befreit und selbstständig Laufen lernt. In zwielichtiger Atmosphäre stürzte sich die belebte Puppe bereits auf eine weiße Taube, die sie als rituelles Opfer zerrissen und verzehrte hatte. Daraufhin färbte sich der Morgenhimmel, gleich einer makrokosmischen Analogie der Opferung, blutrot. Natürlich besteht hier auch eine metaphorische Beziehung zwischen dem besungenen Wein und dem Blut als Saft des Lebens.
Formteil C stellt auf der Textebene den manischen Größenwahnsinn der Teilnehmer des Rituals dar. Die intensive, orgiastische Wahrnehmung will immer mehr gesteigert werden, was sich nun auch im freien, wild improvisierten Spiel der Band hörbar macht. Immer wieder finden Ausflüchte in kurze B-Dur-Quartvorhalte und kleine Solopartien außerhalb des pulsierenden Rhythmus statt. Der Formteil D hingegen widmet sich thematisch und textlich dem Beginn der Vogelgesänge zur Morgenstunde.
Der ambivalente Gesang der Vögel wird mit dem menschlichen Lachen gleichgesetzt. Denn das Lachen der Menschen ist im Gegensatz zur Wortsprache sehr viel spontaner und voll archaischer Lebenskraft. Lachen kann sowohl einen Ausbruch freudigster Erregung, als auch eine Übersprungshandlung tiefster Bestürzung als Wurzel haben. In Formteil E bricht die Zauberin auf dem Klangteppich der neurotischen Akkordwiederholungen (Cis-Moll-7 und Cis-Moll-9) auf dem Ton gis’ nun in archaisches Gelächter aus, dem sich auch das Publikum aktiv und ekstatisch hinzugeben scheint, bis die maskierte Zauberin dann plötzlich gen Bühnenhimmel abhebt und ein lautes „Ha“ (auf der Grundstellung eines Cis-Moll-Akkordes) den zweiten Akt beendet. Für einen Wimpernschlag lang wird die Bühne abgedunkelt – dann bleibt nur der in Morgenlicht gebadete Birkenwald zurück.
Dass die Vögel einst vom Himmel herab stiegen, um den Menschen ihren süßen Gesang zu bringen, entspringt einem alten russischen Mythos, der sich auch in der Malerei verewigt hat. Im Gemälde rechts  sieht man zwei magische Mischwesen, rechts die Alkonost, links die Sirin (Wiktor Wasnezow, 1896). Auch in Rimski-Korsakows Oper „Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronia“ kündigt im 4. Akt der Gesang von Alkonost Fewronia den Stillstand der Zeit und das Vergessen der Vergangenheit an. (Thomas)

1: Kreuder, Friedemann: Maske . In:Theatertheorie. Stuttgart,  2014, S.204.

Kommentare

Aerial Tal

Eine Minute und zwei Sekunden lang ist Aerial Tal vom Album Aerial. Nur einige Akkorde, Vogelstimmen echt und mitgesungen, kein Text. Kann darüber überhaupt ein inhaltsreicher Beitrag geschrieben werden? Ich machte mich an die Arbeit, tauchte ein, stellte mir Fragen zum Song, die offenbar kaum einer bisher gestellt hatte und … ein Abgrund tat sich auf! Mein Nachdenken führte auf Dinge, die ich noch nirgendwo dazu auch nur ansatzweise gelesen habe! Das wird was ganz Neues, seid gespannt!
Aerial Tal ist einfach und schlicht. Eine Amsel beginnt einsam ihr Lied, dann kommt das Klavier dazu und spielt eine sich hypnotisch wiederholende Akkordfolge. Der Gesang der Amsel wird von Kate Bush in einer Imitation des Vogelstimmengesangs begleitet. Es ist ein entzückendes Duett zwischen diesen beiden Sängerinnen. Das Gurren von Tauben leitet in den nächsten Song über.
Aerial Tal ist ein reizendes Zwischenspiel, es verbindet zwei Songs der A Sky of Honey-Suite unmittelbar miteinander, bildet eine Brücke. Dieser kurze und irgendwie fremdartige Song enthält eine der zentralen Aussagen dieser Suite: Kate interpretiert das Lied der Vögel. Vielleicht hat es daher Verwendung als Teaser in der Werbung gefunden. Kate Bush beschreibt ihre Intentionen so: „Ich habe versucht, ein menschliches Äquivalent zum Vogelgesang zu finden. Ich liebe den Gesang von Vögeln sehr! Er ist wunderschön! Vielleicht liebe ich ihn gerade deswegen, weil es sehr emotional klingt, ohne dass er uns durch tausend Worte unsere Imagination nimmt.“ [1]
Ohne einen solchen Titel wäre Kate Bush einfach nicht Kate Bush, so meinte „Joanni“ im Bush-Forum [4], wie wahr! Zwischen den ruhigen Traumstücken ringsum ist es ein richtiger Wellenbrecher. Die Atonalität des Amselgesangs ist ein wirksamer Kontrast zu den harmonischen Songs ringsum. Es ist ein Stück, das einem beim Zuhören zum Lächeln bringt, es wirkt leicht und heiter. Obwohl es eigentlich überhaupt kein richtiger Song ist, hat er etwas Berührendes an sich. Wie und warum wirkt dieses Musikstück? Es ist hilfreich, dazu die musikalische Gestaltung [2] genauer unter die Lupe zu nehmen.

Reiner 4/4-Takt herrscht, es geht ohne Ablenkung voran. „Chirpily!“ steht als Spielanweisung da. Notiert ist das mit vier Kreuzen, es ist wohl ein E-Dur. Das Klavier spielt eine konstante Akkordfolge aus Achteln, die sich in jedem Takt zweimal wiederholt. Nur am Anfang und am Schluss des Songs fehlt diese Akkordfolge. Die Akkorde werden laut Partitur mit Pedal gespielt, das lässt die Akkorde miteinander verschwimmen. Die Akkordfolge (das „Pattern“) sieht so aus: E-Gis-H-Dis / Gis-Cis-E / Gis-Dis/ E. Das sind der E-Dur-Akkord ergänzt um die große Septime, der cis-Moll-Akkord (nicht in der Grundstellung), eine Quinte und als Einzelton der Grundton von E-Dur. Es sind alles Töne aus der E-Dur-Skala, von Akkord zu Akkord verringert sich die Anzahl der Töne im Akkord. Darüber erheben sich jedes mal anders in der rhythmischen Gestaltung und an anderer Position die Vogelgesangimitationen parallel zum Amselgesang, es ist ein richtiger Zwiegesang. Die erste melodische Phrase ist noch reiner Vogelgesang. Die Amsel macht die Einleitung, der Mensch nimmt das auf. Auch vor dem Klavier-Pattern erklingt Amselgesang. Das Pattern scheint auf den Gesang des Vogels zu reagieren. Am Ende (es beginnt zum Pattern, endet dann ohne) hören wir einen weiteren Vogel, die Taube, erst echt, dann nachgesungen. Laut Songbook ist der Text „a sea of honey, a sky of honey“, das ist aber eigentlich nicht zu verstehen. Es passt aber vom Rhythmus her.
Beim Anhören des Stückes kommt es mir vor, als ob es an zwei Stellen kleine Umstellungen in der Akkordfolge des Patterns gibt. In der Partitur findet sich das nicht. Es klingt so, als ob an diesen Stellen der erste und der dritte Akkord vertauscht worden sind. Hier kann ich mich aber auch durchaus irren.
Die im Pattern verwendeten Akkorde sind E-Dur und cis-Moll, E-Dur ist auch die Tonart des Stückes. E-Dur ist gemäß Beckh [3] die wärmste aller Tonarten. Sie steht für Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit, Liebeswärme. Es ist laut Beckh die „Sonnentonart“ und eine sehr poetische Tonart. Es herrscht in ihr die „Helligkeit einer anderen Welt, eine Welt der Träume, des Dichterischen, der höheren Bilderschau, in der wir der gewöhnlichen Tageswelt gänzlich entrückt sind.“ [3]. Die Paralleltonart cis-Moll ist laut Beckh ähnlich wie E-Dur, „nur ist da alles mehr in ein Element von Schwermut und Sehnsucht getaucht.“ [3]
Jetzt habe ich das Lied eingehend beschrieben. Die Biographen (und alle Texte über das Album, die ich kenne) lassen das maximal so stehen. Sie gehen noch nicht einmal auf die musikalische Gestaltung ein. „Aerial Tal“ scheint für sie nichts weiter als etwas für Kate Bush typisch Skurriles zu sein. Heiter kommt das Stück daher, Amsel und Kate Bush im Duett, leicht und beschwingt, etwas absonderlich. Man belässt es dabei. „Und doch klingt die Musik, zurückhaltend im Hintergrund, irgendwie mystisch. [….] da verbirgt sich noch mehr!“ [4], so „Dark Raven“ im Forum! Ja, genauso ist es! Aber was verbirgt sich da? Für mich sind einige Fragen unbeantwortet.
Warum steht dieses Stück genau an dieser Stelle in der Suite? Die Suite würde musikalisch auch ohne das funktionieren. Und warum werden genau diese zwei Vögel, Amsel und Taube, so prominent verwendet? Die Songs ringsum sind in cis-Moll, durch dieses E-Dur ist „Aerial Tal“ herausgehoben, gleichsam aus dem melancholischen Fluss in die Helligkeit einer anderen Welt gesetzt. Was kann das bedeuten?

Es gibt im Song keinen Text. Endlich mal ein Song, in dem man den Text nicht analysieren braucht, so könnte man denken. Aber Moment: es gibt die Überschrift. Was bedeutet die? Die Biographen schweigen sich darüber aus. Auch sonst findet sich nirgendwo ein Hinweis. War diese Frage zu schwer zu beantworten? Fragen über Fragen und keine Antworten. Ich werden versuchen, ein stimmiges Gesamtbild zu entwickeln. Das Bush-Forum [4] ist die einzige Quelle, in der auf diese Fragen wenigstens ansatzweise eingegangen worden ist. Die Menschen dort sind wirklich gut und sympathisch (leider ist kaum noch Aktivität da). „toriah“ warf eine wichtige Frage auf: „und nochmal werfe ich die frage in den raum: was bedeutet „tal“ ? dieses wort scheint es im englischen nicht zu geben, jedenfalls konnte ich noch keine übersetzung dafür finden. und mein englisch ist ziemlich fliessend..“. Von „killerstorm“ kam die Idee, dass dies vielleicht ein indisches Wort sein könnte: „The tal is the basic meter of all classical music in India.“ [4] Schauen wir uns diese Idee einmal genauer an.
Ein Tal oder Tala ist in der Musik Indiens, Bangladeschs und Pakistans ein metrischer Zyklus mit einer bestimmten Anzahl von Schlägen, die während einer musikalischen Darbietung im gleichen Muster wiederkehren. Tala könnte im Allgemeinen mit Rhythmus oder Takt gleichgesetzt werden, obwohl es in der westlichen Musik kein genaues Gegenstück zum Tala-Verfahren gibt [5]. Aerial Tal ist sehr klar rhythmisch strukturiert, das Klavier-Pattern gibt die Struktur vor. Es gibt also gewisse Übereinstimmungen mit dem Begriff „Tal“ aus der indischen Musik. Zufall? Aerial Tal würde dann so etwas wie Rhythmus der Luft, der Vögel bedeuten. Ich würde diese These für vollkommen überzeugend halten, wenn sie auch eine Beziehung zu den anderen offenen Fragen hätte. Aber da sehe ich keine Verbindung (was aber auch an meiner mangelnden Fantasie liegen könnte). Es muss also noch eine tiefere Schicht geben.
Um weiterzukommen, habe ich einen sehr fantasievollen Freund um eine Idee gebeten, was denn das Wort „Tal“ im Songtitel Aerial Tal von Kate Bush bedeuten könnte. Die Antwort fand ich sehr inspirierend. Der Songtitel Aerial Tal von Kate Bush könnte eine Variation des Begriffs „Aerial Toll-Houses“ sein, eine Lehre in der östlichen orthodoxen Theologie über den Prozess der Seelenreinigung nach dem Tod. In einigen Interpretationen repräsentieren die „Aerial Toll-Houses“ verschiedene Hindernisse oder Versuchungen, denen eine Seele auf ihrem Weg zum himmlischen Paradies begegnet. [6]
Luftzollhäuser (auch „telonia“ genannt, aus dem Griechischen für telonia = Zoll) sind ein Volksglaube, den es in der Orthodoxen Kirche gibt. Nach dem Tod eines Menschen verlässt danach die Seele den Körper und wird von Engeln zu Gott geleitet. Während dieser Reise durchquert die Seele ein Luftreich, das von bösen Geistern bewohnt wird. Die Seele begegnet diesen Dämonen an verschiedenen Stellen, die als Mauthäuser bezeichnet werden. Hier versuchen die Dämonen dann, sie der Sünde zu bezichtigen und die Seele, wenn möglich, in die Hölle zu ziehen. [7] Ergibt sich ein schlüssiges Bild, wenn wir Aerial Tal als musikalisches Luftzollhaus betrachten, als Übergangsstadien zwischen den Welten, zwischen Leben und Weiterleben?
Aerial Tal steht zwischen Liedern in cis-Moll und ist nach E-Dur gerückt. Nach Beckh [3] herrscht in E-Dur die „Helligkeit einer anderen Welt“. Das passt schon einmal. Vor dem Song kommt Sunset, das mit dem Sonnenuntergang endet, dem Vergehen des Lichts. Das ist so etwas wie ein Sterben. Nach Aerial Tal folgt Somewhere In Between. Schon der Songtitel sagt, dass wir hier in einer Zwischenwelt angekommen sind. Es ist die Welt vor der Wiederauferstehung in Nocturn und AerialAerial Tal steht dazwischen, es markiert den Übergang in diese andere Welt. Wir sind hier an einem Ort zwischen Vergehen und Werden, wo Zeit keine Bedeutung hat. Das Klavier-Pattern hebt ja geradezu durch seine hypnotische Wirkung die Zeit auf. Bisher passt das verblüffend gut. Finden wir in Aerial Tal auch die ins Jenseits leitenden Engel oder die Dämonen der Versuchung?

Was hat es mit der Amsel auf sich? In nahezu allen Kulturen werden Vögel als Darstellung der menschlichen Seele gesehen. In der Mythologie sind Vögel oft Glück bringende Erscheinungen. Bereits im Altertum verkörperten sie die menschliche Seele, die im Augenblick des Todes aus dem Körper tritt und davonfliegt. Auch in der christlichen Kultur gilt der Vogel als Sinnbild der Seele. Er erscheint auf Darstellungen Marias mit dem Kinde, in denen das Christuskind einen Vogel in der Hand oder an der Leine hält [8]. Vögel sind also ganz allgemein Symbole des Übergangs der Seele.
Oft finden sich bei Kate Bush Verbindungen zum keltisch-schamanischen Kulturkreis. Auch da werden wir fündig (worauf schon „Dark Raven“ [4] hinweist). „Die Amsel ruft uns vom Torweg zwischen den beiden Welten und drängt uns, einen spirituellen Pfad zu verfolgen oder selbstbewusster zu werden. Sie ruft uns in die Dämmerung, zeigt uns den Weg zu den Geheimnissen der Anderswelt und weist darauf hin, dass wir mehr über unsere versteckten Motivationen und Potenziale entdecken können. [9]
Im Schamanismus hütet die Amsel das Tor zur Traumwelt, sie steht an der Schwelle zwischen zwei Welten, der bewussten und der unterbewussten Welt [10]. Die Druiden nannten die Amsel „schwarzen Druiden“, weil sie Zugang zur sogenannten Anderswelt hatte [10]. Die Amsel kann also als Hüterin des Tores in eine andere Welt aufgefasst werden. Am Schluss von Aerial Tal erklingt der Ruf der Taube. Auch hier ist die Symbolik vielsagend. „In der christlichen Kunst ist die Taube Symbol für den Heiligen Geist, aber auch Bild für die Seele im Zustand des himmlischen Friedens. […] So viele Bedeutungen die Taube auch hat – immer weist sie über unser Leben hinaus auf etwas Heiliges, das uns von Gott entgegenkommt […].“ [11]
Ich fasse meine sich aus diesen Details ergebende Analyse von Aerial Tal nun zusammen. Der Sonnenuntergang von Sunset ist so etwas wie ein Einschlafen, ein Lebensende. Ein Moment der Stille folgt, in dem nur das Lied der Amsel erklingt. Die Seele (die Protagonistin) erreicht ein merkwürdiges Zwischenreich und wird von der Amsel empfangen. Die Amsel ist der Hüter dieser Schwelle, sie ist die Begleiterin durch dieses Zwischenreich, sie ist der „Zollhauswächter“. Das Klavier-Pattern setzt ein, hypnotisch, es hebt die Zeit auf. Hier gibt es keine Zeit mehr, wir sind jenseits der Zeit. Die Tonart wird aus dem cis-Moll gerückt in ein leuchtendes, überirdisches E-Dur. Auch die Tonart signalisiert, dass wir woanders angekommen sind. Die große Septime im ersten Akkord des Patterns aber ist eine Dissonanz, das ist nicht rein harmonisch. Es ist die „Befragung“ im „Aerial-Toll-House“. Die Amsel setzt ein mit ihrem Lied, die Stimme der Protagonistin singt dann dazu im Duett. Die Befragung geht positiv aus, die Seele ist im Einklang mit der Stimme des Wächters. Die Taube übernimmt, dann endet das Pattern und damit die Befragung, die Taube erklingt weiter. Etwas Göttliches kommt der Seele in Gestalt der Taube entgegen und gewährt so Einlass in das jenseitige Reich, in die Anderswelt. Die Taube singt unverständliche Worte, so wie Gottes Sprache oft schwer zu entschlüsseln ist. Die Tonart wird wieder zurückgesetzt in cis-Moll, wir sind angekommen „irgendwo dazwischen“ in Somewhere in Between. Die Reise der Seele (der Protagonistin) geht weiter.
Mir erscheint die Herleitung und die Begründung dieser Interpretation recht einleuchtend. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass dies eine Interpretation ist und dass Kate Bush dem Song selbst möglicherweise eine andere Bedeutung gibt. Es könnte auch sein, dass sie das Wort „Tal“ aus anderen Gründen gewählt hat, die nur ihr bekannt sind. Auskunft geben könnte sie nur selbst, leider hat sie zu solchen Dingen bisher niemand befragt. Diese Analyse ist ein Versuch, ein entzückendes, skurriles Interludium in seiner Bedeutung einzuordnen. Aber es ist durchaus legitim, es bei „entzückend und skurril“ zu belassen. © Achim/aHAJ

[1] „Alle Vögel sind schon da“. Interview mit Michael Loesl. Der Standard. 15.11.2005.
[2] Kate Bush: Aerial (Songbook), London 2006. Faber Music Ltd. S.96f
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner; Stuttgart 1999. S.263ff (E-Dur) und S.268 (cis-Moll)
[4] https://www.carookee.de/forum/Kate-Bush/129/7559763-0-30115?p=1#tm (gelesen 20.03.2024)
[5] https://www.britannica.com/art/tala (gelesen: 20.03.2024)
[6] https://chat.openai.com (aufgerufen 21.03.2024)
[7] https://en.wikipedia.org/wiki/Aerial_toll_house (gelesen 21.03.2024)
[8] L. Impelluso “Die Natur und ihre Symbole”; Berlin 2005; S.288
[9] https://www.keltische-schamanen.de/tiere-a (gelesen 20.03.2024)
[10] https://coachinglovers.com/besser-leben/krafttier-amsel/ (gelesen 22.03.2024)
[11] https://www.herder.de/el/hefte/archiv/2015/6-2015/die-taube-symbol-fuer-heiliges/ (gelesen 23.03.2024)

A Coral Room

Vom ersten Hören an hat mich dieses Lied in seinen leisen Bann gezogen. Es ist ein sehr inniges und zurückhaltendes Stück, intim, voll mit Emotionen der Trauer, bildgewaltig, wunderbar und zerbrechlich. Hier werden Gefühle offengelegt und mit dem Zuhörer geteilt, in jeder Note, in jedem Wort.
“A Coral Room” ist ein Lied darüber, wie die Zeit alles unter sich begräbt und langsam alles auslöscht. Erinnerungen sind eine versunkene Stadt, sie liegen unter der Oberfläche im Dunkel, sind überwuchert und verborgen, sind immer da. Aber manchmal werden sie sichtbar in diesem Meer des Vergessens und tauchen wieder auf. Wir bewegen uns auf der trügerischen Oberfläche eines Meeres, das alle vergangenen Dinge und Erinnerungen bewahrt und für uns bereithält. Mit diesem Gleichnis und diesen Bildern setzt Kate Bush die Trauer um ihre verstorbene Mutter um.
Das Lied ist durchkomponiert und individuell auf die Textzeilen bezogen umgesetzt, das in der Pop-Musik übliche strenge Schema aus Strophe und Refrain gilt hier nicht. Alles ist fein und durchsichtig gearbeitet, innehaltende Pausen, Klavier und Stimme, die sich ergänzen und umschweben.

© Robby Bakker

Zuerst wird die versunkene Stadt geschildert, mit ihren Trümmern und ihren Relikten, in versunkene Netze eingehüllt, wie von Spinnweben überzogen („covered in webs“), mit den vielen Menschen, die hier lebten. Ganz zart, bewegend und zurückhaltend kommt dann der Übergang zur Vergangenheit und zur Erinnerung: “Put your hand over the side of the boat. What do you feel?“. Eine innehaltende Pause, die Hand taucht ein in das Meer des Vergessens und die verstorbene Mutter ist wieder da, die Mutter in der Küche, ihr Krug und ihr kleines Lied über diesen Krug, ihre Stimme. Eine männliche Stimme wiederholt das kleine Lied, wie eine weitere verwehte Stimme aus der Vergangenheit (oder wie ein Echo eines anderen Familienmitglieds?). Mitten in der Erinnerung das wehmütige, verlorene „ho ho ho, hee hee hee“ – hier hört man in jedem Ton die versteckten Tränen. Die Erinnerung („Spider of Time“) kriecht aus einem Krug wie eine kleine Spinne, gut verborgen, immer da, überall kann sie sich verbergen. Sie fängt uns in ihren Netzen. Die zarten Spinnweben über der versunkenen Stadt erklären sich. Aber die Vergangenheit ist vorbei und kann nie mehr wiedererstehen, der Krug fällt und zerbricht. Hier ist der Schmerz in der Stimme und in der Melodie fast körperlich spürbar. Das Unfassbare wird begreiflich.
Im Songtext werden verschiedene Bilder verwendet, um die Erinnerung an die verstorbene Mutter zu visualisieren: die Spinne, die Spinnweben, das Meer, das Boot. Die Symbolik dieser Begriffe ist vielschichtig – siehe dazu (1) und (2) – und erweitert den Inhalt um eine fast schon mythische Dimension. Die Spinne wird oft als Symbol für die große Mutter und als Weberin des Schicksals dargestellt. Inmitten ihres Netzes verkörpert sie das Zentrum der Welt, Alle Menschen sind über ihr Netz als Nabelschnur mit den kosmischen Vorgängen und Gesetzen verknüpft. Das Meer ist in der Psychoanalyse das Symbol des Unbewussten, steht zudem auch für die gütige und strenge Mutter. Das Boot ist u.a. ein Symbol für den schützenden Aspekt der Großen Mutter. Es steht für den Schoß, die Wiege, die schützende Hülle auf dem Meer des Lebens. Bei den alten Norwegern wurden die Toten in einem Boot über das Meer hinaus in den Mutterschoß geschickt, in dem sie dann wiedergeboren werden sollten.
In der Bildsprache von “A Coral Room” werden all diese Aspekte des Mutter-Seins miteinander verwoben. Die Erinnerung an die Mutter bringt all diese verschiedenen Aspekte zurück. Die gute Mutter, die böse Mutter, die beschützende Mutter, die Göttin – und dazu Bilder der Ewigkeit, des ewigen Lebens.
Das Lied endet mit der Überleitung zur Erinnerung: “Put your hand over the side of the boat. What do you feel?“. Der Akkord verhallt. Die erste CD endet mit dieser Frage an den Zuhörer. Was fühlst Du, wenn du in das Meer der Erinnerung eintauchst? Dazu das Bild im Booklet – Kate und ihr Sohn blicken den Zuhörer (hier den Leser des Textes) direkt an – so als ob man gemeinsam im Meer taucht. Was siehst Du? Musik, Text und Bild sind eine Einheit.
Sehnsucht, Melancholie, Erinnerung – selbst die tonale Gestaltung spiegelt das wieder. Das Lied steht in cis-Moll, der Sehnsuchtstonart der klassischen Musik. Es ist eine warme Tonart voller Schwermut. Sie öffnet in unserem Herzen die verborgenen Quellen der Sehnsucht. Etwas von der leuchtenden Schönheit der parallelen Dur-Tonart E-Dur gießt sich auch über cis-Moll aus, anstatt Sonnenlicht ist es das sanftere Licht des Mondscheins. Cis-Moll ist in höchstem Maße eine romantische Tonart. Nocturnes von Chopin stehen in dieser Tonart, ebenso die Mondscheinsonate von Beethoven (3).
In diesem Lied wird der Zuhörer einbezogen in eine ganz private Welt. So etwas wird sonst nur einem Freund zuteil. Kate legt ihre Seele offen in einer fast erschreckenden Intimität. Sie tut dies für uns, ihre richtigen Zuhörer, ihre Fans. Sie fordert uns auf sich unseren eigenen Erinnerungen zu stellen und diese mit ihr zu teilen. Ich betrachte dies als eine Ehre. „A Coral Room“ ist hohe Kunst.
Eine Frage stellt sich mir und ich habe auf sie keine Antwort. Warum handeln so viele Lieder von Kate Bush vom Tod?
Achim/aHAJ)

(1) Clemens Zerling, Wolfgang Bauer: Lexikon der Tiersymbolik; München 2003; S.291
(2) Ulrike Müller-Kaspar (Hrsg.): Die Welt der Symbole; Wien 2005
(3) Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner; Stuttgart 1999

Kommentare

All The Love

© Robby Bakker

Jede(r) kennt das: Man weiß in einer bestimmten Situation, dass man Liebe hätte geben sollen, aber es war einfach nicht möglich. Dieser Schmerz über nicht angekommene, nicht zu erwidernde, verpasste, fehlgeleitete, verlorene Liebe trifft den, der sie nicht geben kann, vielleicht sogar am meisten. Aus diesem Schmerz hat Kate Bush einen ihrer – zumindest für mich – intensivsten Songs gemacht. Kate umarmt verschiedenste musikalische Stilistiken von Klassik über Jazz bis Experimentalpop und baut eine ihrer unvergleichlichen Klangcollagen zu einem bewegenden Klagegesang.
Die Grundstimmung dafür legt ein lautloses, männliches Hauchen zusammen mit einem chromatischen Motiv auf dem Piano, ein seufzender Atemzug, der im Stück immer wieder auftaucht. Der singende Bass von Del Palmer erinnert an die Spielweise von Eberhard Weber, und er führt zur Stimme von Kate hin. Sie hat in diesem Stück einen niedergeschlagenen, verzweifelten, verletzten Ton, und sie schwingt sich am Ende der Strophen zu fast orientalisch klingenden Melodiewindungen empor. Dazu passt auch der Text. Interpretiert man ihn ganz wörtlich, sieht man zunächst eine Sterbebettszene: Alte Freunde beweinen die Dahinscheidende, um die sie sich zu Lebzeiten viel zu wenig gekümmert haben. Dann abstrahiert Kate: „Only tragedy allows the relief of love and grief never normally seen.“ Nur in Extremsituationen können wir die Liebe und den Kummer rauslassen, die sonst zurückgehalten werden, weil wir uns schämen, zu starke Gefühle zu zeigen.
In der letzten Strophe wird es persönlich, hier spricht Kate ohne Zweifel von sich selbst: „The next time I dedicate my life’s work to the friends I make.“ Sie opfert sich und ihre Kunst für ihre Freunde auf, doch die verstehen sie nicht. Die Angst, die ihr das bereitet, ist nicht nur die Angst der Isolation im zwischenmenschlichen Bereich, sondern auch die Furcht der Künstlerin, als „weird“ abgeurteilt zu werden. Ironischerweise ist das ja gerade nach der Veröffentlichung von „The Dreaming“, auf dem „All the love“ ja zu finden ist, ganz massiv passiert.
Um die Wirkung zu steigern, hat Kate in verschiedenen Songs immer wieder zu einer fremden vokalen Sphäre gegriffen, etwa der georgische Chor in „Hello Earth“, oder die bulgarischen Stimmen in „Song Of Solomon“. Hier ist es auch so: Der Chorknabe Richard Thornton singt als Bridge zwischen Strophen und Refrain die Zeile „we needed you to love us too, we wait for your move“. Während diese Zeile gesungen wird, kommt der Rhythmus zum Erliegen, nur röchelnde Fairlight-Seufzer in verschiedenen Tonlagen begleiten die helle Jungenstimme, die wie ein verletzter Geist aus dem Jenseits mahnt. Es ist die vielleicht eisigste Stelle im gesamten Werk von Kate Bush. Daraufhin setzt der Refrain ein, der wiederum ein einziger Seufzer ist: „All the love you should have given“. Die Verzweiflung über die nicht gegebene Liebe wird so groß, dass sie keine Worte mehr findet und nur noch hilflos „all the love, all the love, all the love“ stammelt.
Den Abspann des Songs hat Kate mit einem genialen Kniff versehen. Zum einen rhythmisiert sie nun den Gesang des Chorknabens, zum anderen gibt es eine endlose Parade von Abschiedsgrüßen, die sie auf dem Anrufbeantworter gesammelt hatte. „So now when they ring, I get my machine to let them in“, heißt es am Ende der vorangegangenen Strophe. Zwischen sich und ihre Freunde hat sie eine Maschine geschaltet – die Angst vor dem Kontakt hat über die Bereitschaft zur Kommunikation gesiegt.
„All the love“ ist ein unter die Haut gehendes Psychogramm – über die Unfähigkeit und die verpassten Gelegenheiten, Emotionen zu zeigen. Aber es ist auch ein Hinweis auf die bedrohte Privatsphäre einer Künstlerin, die den Rückzug braucht, um schöpferisch zu sein. Die eine solche Menge an Liebe, wie sie Fans von ihr fordern, unmöglich geben kann. Auf dieser Deutungsebene ist diese großartige Ballade auch ein heimlicher Verwandter von „Get Out Of My House“. Last but not least: Eine Coverversion, die die Atmosphäre von „All the love“ kongenial auf alte Instrumente überträgt, hat Alphan Music geschaffen. (Stefan)

Kommentare

All We Ever Look For

Diesem Song nähere ich mich ein bisschen mit Ehrfurcht. Er gehört zu meinen absoluten Lieblingsliedern von Kate Bush. Zudem stammt er vom Album „Never For Ever“, das mich damals endgültig für Kate Bush gewonnen hatte. „All We Ever Look For“ ist wahrscheinlich nur Insidern bekannt, was ich sehr schade finde. Ich bewundere seine „abrupte Großartigkeit“ [1] und seine Thematik: der Song setzt „sich mit den Wünschen und Bedürfnissen auseinander, die sich von einer Generation zur nächsten wandeln“ [1]. Nicht nur die Thematik ist interessant, sondern auch die musikalische Gestaltung. Das Fairlight, ein Synthesizer, wird auf diesem Track mit großer Wirkung eingesetzt, viele Soundsamples werden integriert. An einer Stelle singt eine Gruppe von Hare-Krishna-Anhängern das „Maha-Mantra“, wobei Kate einen winzigen Teil einer Zeile aus diesem Mantra verwendet: Krishna, Hare Krishna“ – „a God“. Es folgen Vogelgezwitscher – „a Drug“ – und schließlich Applaus – „a Hug“ [2]. Diese Samples erklingen zu den Geräuschen einer Frau, die über einen Fußboden geht und Türen öffnet, hinter denen diese Töne warten. Es gibt keinen Text dazu. Die eben hinzugefügten assoziierten Worte „God“, „Drug“ und „Hug“ werden erst in der anschließenden Coda gesungen.
Ich liebe auch die wunderbaren Klänge, die sich durch das Lied ziehen. Kate Bushs Bruder Paddy spielt eine Koto (eine japanische Zither), Morris Pert spielt Pauken. Das alles gibt dem Lied ein fremdartiges Flair. Zusammen mit dem schreitenden Rhythmus entsteht der Eindruck eines altehrwürdigen, höfischen Tanzes. Auch die sparsam eingesetzten Backing-Vocals von Preston Heyman, Paddy Bush, Andrew Bryant und Gary Hurst gefallen mir [2]. Die Schönheit dieses Songs geht mir immer wieder unter die Haut. Vielleicht ist „All We Ever Look For“ ein Weckruf, auf jeden Fall vermittelt es eine Erkenntnis: „All we’re ever looking for / Is another open door.“
Kate Bush hat sich mehrmals zu diesem Song geäußert. Die Hauptthematik ist eine, die wir alle kennen – wir sind auf der Suche (nach Glück? Erfüllung? Sinn?), aber meist vergeblich oder auf eine falsche Art und Weise. „All We Ever Look For is about how we seek something, but in the wrong way, or at wrong times, so it is never found.“ [8] Unseren Eltern ging das schon so, dies überträgt sich abgewandelt auf die Kinder. „One of my new songs, ‚All We Ever Look For‘, it’s not about me. It’s about family relationships generally. Our parents got beaten physically. We get beaten psychologically.“ [6] In einem anderen Interview führt sie dies noch genauer aus: „It’s interesting the things that we do pick up from our parent – the way we look or little scratching habits or something and obviously the genetic thing must be in there. All the time it’s going round in a big circle – we are always looking for something, all of us, just people generally and so often we never get it. We’re looking for happiness, we’re looking for a little bit of truth from our children, we’re looking for God, and so seldom do we find it because we don’t really know how to look.“ [7]

Die polnische Flexi, die mit dem Titel All We Ever Look For gelistet ist, auf der aber wohl der Song Egypt drauf ist.

Wir alle streben nach einem Ideal, einem „Gott“, auch dies führt Kate Bush näher aus. „Belief is motivation, and without that you don’t do anything. I mean, if your ‚God‘ is to have a husband and children, and you actually fulfill that… Many people don’t see the thing they love and believe in as ‚God‘. Most of us aren’t happy, really, and it’s only because our God isn’t complete.“ [5] Es ist schon außergewöhnlich, dass sich Kate Bush so ausführlich zu dem äußert, was sie mit einem Song ausdrücken wollte. Das Thema schien ihr wirklich eine Herzensangelegenheit gewesen zu sein. Aber es ist ein Thema, das uns alle jeden Tag betrifft. Wir sind mit den Erwartungen anderer Menschen und unserer Familie (an uns) konfrontiert, das beeinflusst uns. Wir haben Erwartungen an uns selbst, streben nach einem Ziel. Wir sind ständig auf der Suche, öffnen alle möglichen Türen – aber sind es die richtigen? Und wir schaffen es meist nicht, uns darüber klar zu werden und es uns einzugestehen.
„All We Ever Look For“ ist ein tiefsinniges, fast bekenntnishaftes Lied. Die Aussagen von Kate Bush passen genau zum Text, hier verbirgt sich kein tieferes Geheimnis. Das wirkliche Wunder ist die subtile musikalische Gestaltung. Um das nachvollziehen zu können, werde ich mich am Text und den Noten [3] entlang hangeln. Das Lied ist im 4/4-Takt geschrieben, es gibt nur einige eingestreute 2/4-Takte. Die erste Strophe, beginnend mit „Just look at your father“ steht in Es-Dur. Der Chorus ab „All they ever want for you“ steht in E-Dur mit kurzen Ausflügen in die Paralleltonart cis-Moll. Es folgt dann eine kurze instrumentale Überleitung in Es-Dur. Der zweite Durchgang ist genauso tonartenmäßig gestaltet. Die zweite Strophe ab „The whims that we’re weeping for / Our parents would be beaten for“ steht in Es-Dur, der folgende Chorus in E-Dur. Im Text in diesem zweiten Chorus steht aber „All we ever look for“. Es wechselt jetzt die Sichtweise vom „they“ des ersten Chorus auf das „we“. In der zweiten Strophe hört man Männerstimmen im Hintergrund, die aber eigentlich nur so etwas wie unterstützende Akkorde singen. Im zweiten Chorus tritt Kate Bush als leise Hintergrundstimme dazu. Mit dem „we“ meint sie offensichtlich sich selbst.
Es gibt in diesem Ablauf zwei getrennte Welten. Es-Dur ist die Welt der Erzählerin. E-Dur, einen Halbton höher, ist die Welt der Erwartungen und Wünsche. Im ersten Chorus ist es die Welt der Erwartungen der anderen Menschen, im zweiten Chorus sind wir bei uns selbst angekommen. Es ist eine musikalische Wanderung von außen nach innen, zu uns selbst. Aber Es-Dur und E-Dur sind harmonisch sehr weit voneinander entfernt. Allein schon daran sieht man, dass die Welt unserer Erwartungen und Wünsche etwas ist, was von uns (Es-Dur) auf harmonischem Weg nur schwer erreichbar ist. Die Tonarten sind – wie immer bei Kate Bush – sehr subtil und treffend eingesetzt. Unsere reale Welt steht in Es-Dur. Diese Tonart ist „nicht nur tiefstes Dunkel, sondern zugleich die Wiederaufwärtswendung zum Licht“. Sie besitzt einen starken, positiver Charakter, einen Charakter des Heroischen [4]. Ja, die Protagonistin hat Zweifel, Ängste, aber sie lässt sich davon nicht unterkriegen. Im Inneren ist sie eine Heldin.

… und die polnische Flexi, die mit dem Song Blow Away gelistet ist, auf der sich aber wohl All We Ever Look For befindet

E-Dur steht für die Sphäre der Erwartungen, der Wünsche, der Suche. Beckh meint zu dieser Tonart, sie „hat die Helligkeit einer ganz anderen Welt, einer Welt der Träume, des Dichterischen, der höheren Bilderschau, in der wir der gewöhnlichen Tageswelt gänzlich entrückt sind“ [4]. Zugleich ist sie eine Tonart der Herzenswärme, der Herzensinnerlichkeit, der Liebeswärme [4]. Kate Bush schaut offenbar liebevoll und mit Verständnis auf die Erwartungen anderer Menschen. Aber sie hat auch keine Illusionen, Erwartungen sind Träume, sind nichts aus der gewöhnlichen Tageswelt. Aber nach dem zweiten Chorus geht der Song weiter, wir kommen in eine Phase der Verarbeitung. Der Übergang zur Coda ist rein instrumental mit den sich öffnenden Türen. Die Protagonistin probiert neue Wege aus. Wie oben schon geschrieben gibt es hier keinen Text. Dieser Übergang beginnt kurz im Es-Dur der Realität. Hier sind wir nach dem zweiten Chorus wieder angekommen. Dann aber wandelt es sich schnell in eine ganz neue Tonart, das es-Moll. Unser positives Es-Dur hat sich eingedunkelt. Die eigentliche Coda beginnt mit „All we ever look vor“ in es-Moll und geht auch so weiter, mit Ausnahme des letzten Satzes. Der ist wieder in Es-Dur: „But we never do score.“ Rein instrumental geht es dann in Es-Dur dem Ende zu.
Nach Beckh [4] „vollzieht sich [bei es-Moll] ein Übergang von der Sinneswelt in die geistige Welt, ein Übergang, der über die Schwelle führt, die Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Tagesansicht und Nachtansicht der Welt, Sinneswelt und geistige Welt voneinander trennt“. Diese Tonart „kann als die im geistigen Sinne ernsteste aller Tonarten verstanden werden“, sie lässt uns „vor allem den Ernst des Schwellenübergangs, mitunter die Tragik des Schwellenübergangs erleben“. Eine passendere Tonart für ein Akzeptieren der Situation lässt sich kaum finden. Ja, es gibt Erwartungen, das Umgehen damit und mit dem Scheitern ist eine ernste Sache. Kate Bush sagt es selbst – es bleibt uns aber nichts anderes übrig: „The last line – „All we ever look for – but we never did score.“ Well, that’s the way it is – you do get faced sometimes with futile situations. But the answer is not to kill yourself. You have to accept it, you have to cope with it.“ [6] Und so wandelt sich die reale Welt nach es-Moll, dunkelt sich ein. Es ist ein mühsamer Prozess der Verarbeitung. Aber am Schluss sind wir wieder in der Welt von Es-Dur: „You have to accept it, you have to cope with it“ [6]. Es gelingt!
Ich finde es faszinierend, wie der Song um diese Töne E und Es kreist und so zwei Welten subtil musikalisch getrennt voneinander abbildet. Die Botschaft hinter „All We Ever Look For“ liegt offen vor uns, hier verbirgt sich kein Geheimnis. Das Geheimnis liegt hier in den Fundamenten der Musik verborgen. Unser reales Leben und unsere Erwartungen und Wünsche haben nichts miteinander zu tun. Das Verarbeiten dieser Erkenntnis ist ein schwieriger Prozess, unsere Sinnsuche selbst ist ein schwieriger Prozess. Aber wenn wir durch diesen Prozess hindurch sind, sind wir mit uns im Reinen. „All We Ever Look For“ ist ein magischer und einfach wunderschöner Song von einem wunderschönen Album.
Kate Bush hat hier wahrscheinlich ihren eigenen Lernprozess beschrieben. Eine Passage aus einem der Interviews deutet darauf hin: „[…] everything in my life goes into my music. Everything that happens to me affects me, and it comes out in my music. If I did become perfect, and was no longer vulnerable, perhaps I wouldn’t get the same shocks of emotion that make me want to write.“ [5] Vielleicht erklärt dieser letzte Satz auch, warum wir schon so lange auf neue Musik von ihr warten. © Achim/aHAJ

[1] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.118
[2] https://www.katebushencyclopedia.com/all-we-ever-look-for (gelesen 27.01.2023)
[3] “‪Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.57ff
[4] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.124 (Es-Dur), S.263ff (E-Dur), S.102 (es-Moll)
[5] Mike Nicholls: „Among the Bushes“. Interview „Record Mirror“, 1980
[6] Derek Jewell“: „How To Write Songs And Influence People“. Interview „Sunday Times“. 05.10.1980
[7] Interview „Never for Ever“. EMI 1980
[8] Kate Bush: „Them Bats and Doves“. Kate Bush Club Issue 7. 09/1980.

Among Angels

Dies ist definitiv einer der ergreifendsten Songs von Kate Bush. Among Angels ist der Schlusstitel ihres Albums „50 Words for Snow“, ihres zweiten Albums von 2011. Wie viele Stücke dieses Albums zeigt er uns Kate Bush am Klavier, wieder einmal stellt sie die Fähigkeiten zur Schau, die sie als Teenager entwickelt hatte. Aber insbesondere in diesem Stück zeigt sich, welche Entwicklung sie seither in diesen Jahren gemacht hat, zu welcher Reife sie gelangt ist. Dieses karge, ergreifende Liebeslied an einen bedrängten, geliebten Menschen hat nichts mit Schnee zu tun, dem zentralen Thema des Albums. Es passt aber perfekt als Coda zur Atmosphäre dieses Albums voller glitzernder, winterkühler und übernatürlicher Träumereien.
Der Song ist offenbar einige Zeit vor dem Album entstanden, worauf Graeme Thomson hinweist. „Among Angels hatte sie allerdings bereits drei Jahre zuvor geschrieben und angesichts der Entstehungszeit, des Textes und der Stimmung, die Trauer, Liebe und Zweifel in sich vereint, fällt es schwer, den Song nicht als Reaktion auf den Tod ihres Vaters, der 2008 verstarb, zu verstehen“ [6].
Es passte einfach hinein in die Stimmung des Albums, es hatte seinen Ursprung in der gleichen Quelle der Inspiration. Deshalb wurde es aufgenommen, wie Kate Bush es in einem Interview sagte: „[…] although it has nothing to do with snow I felt that it’s, it had it’s place in there atmospherically, it just seemed to feel, you know, part of the same place that the other songs were coming from“ [7].

Als einziger live gespielter Song dieses Albums war er Teil von Kates Zugabe während der Before The Dawn-Konzerte, eine Live-Aufnahme wurde Ende 2016 auf dem gleichnamigen Konzertalbum veröffentlicht. Er war auch die B-Seite der Lake Tahoe-Picture-Disc, die zum Record Store Day 2012 veröffentlicht wurde [1]. Bei ihren Before The Dawn-Konzerten war Among Angels das einzige Stück, das Kate Bush allein auf der Bühne spielte, was zur Intimität des Songs beitrug. Among Angels ist ein Song, der von einem Gefühl der Einsamkeit und der Suche nach Trost und Erlösung handelt. Er handelt von der Verzweiflung, die wir empfinden, wenn wir uns an einem dunklen Punkt unseres Lebens befinden. Wir vergessen die Menschen, für die wir uns wichtig sind, die uns immer zur Seite stehen. Kate Bush nennt diese Personen die Engel. Das könnte man religiös interpretieren, aber das gibt der Text in seiner Gänze nicht her. Engel sind Menschen, die uns, ob physisch anwesend oder nicht, Trost spenden. Es sind Menschen, deren Liebe ewig und unerschütterlich ist und deren Unterstützung immer da ist. Das Lied ist damit eine tröstliche, zärtliche Aufmunterung.
Aber neben diesem Trost hat der Song auch eine sehr realistische, lebensnahe Perspektive. Er ist eindeutig auch eine Aufforderung zur Selbstreflektion: „Only you can do something about it / There’s no-one there, my friend“. Kate Bush ist Realistin, für sie haben wir alle die Fähigkeit, unsere eigenen Probleme anzugehen und unser eigenes Glück zu finden. Das Lied startet in dieser sehr geerdeten Stimmung, doch bald wird das spirituell überhöht und Kate Bush spendet uns himmlischen Trost zu zarten Akkorden: “I see angels standing around you / They shimmer like mirrors in summer / But you don’t know it”. „Während „Zweifel kommen und gehen“ („in and out of doubt“) spricht der Song von Liebe, Hoffnung, Tod, Glaube und Kampf“, so sagt es treffend Graeme Thomson [6]. 
Kate Bush schreibt selten aus einer rein persönlichen Perspektive, sie zieht die Distanz zu einer fiktiven Figur vor. Doch dieser Song kommt mir wie ein äußerst persönliches Lied vor. Dies gibt es manchmal bei Kate Bush, man denke an Moments Of Pleasure und A Choral Room. Vielleicht ist es an einen Freund gerichtet, vielleicht an die Sängerin selbst (der Tod ihres Vaters). Er zeigt tiefes Mitgefühl für die Person, an die es gerichtet wird. Der Song gibt jedoch nicht vor, zu wissen, wie man das heilt, was nicht in Ordnung ist. „Only you can do something about it“, lautet ja die erste Zeile. Dennoch ist das Lied voller Trost: „There’s someone who’s loved you / Forever / But you don’t know it“.

Among Angels ist der einzige Titel, bei dem Kate als alleinige Interpretin genannt wird. Es gibt kein Schlagzeug, keine Rhythmusinstrumente, wir hören das Klavier und einen fast schmerzenden, leisen Gesang, zärtlich, voller Emotion, wunderbar gesungen. Das ungedämpfte Klavier lässt die Obertöne durchgehend hören, was dem Ganzen eine ätherische Atmosphäre verleiht. In der Mitte des Songs kommen leise Streicher dazu im Streicherarrangement des amerikanischen Orchestrators Jonathan Tunick. Dies macht die Emotionen des Songs noch stärker. Ganz zart und ruhig sind diese Streicher, sie wirken wie ein zarter Schleier über der Musik, es sind verhallende Echos der Klaviertöne. „Fünf Minuten lang umkreist Kate Bush vorsichtig tastend die Melodie, bis sie sie schließlich packt und das Stück [….] zu Ende singt““, so sagt es Graeme Thomsom [6]. Der Song nimmt sich Zeit, lässt die Zeit stillstehen. Der Schluss ist ein Streicherakkord, der ganz allmählich verhallt. Der Beginn des Songs (Album-Version) ist bemerkenswert, es beginnt mit einer Art Fehlstart. Der Titel startet zunächst mit einem offenbar falschen Akkord, woraufhin Kate Bush ein „No“ als Entschuldigung murmelt und dann neu mit dem Grundakkord beginnt, mit einem D im Bassschlüssel. Dieser Fehler blieb „[…] auf der Aufnahme enthalten. Es waren eigentlich nur Kleinigkeiten, aber sie zeugen von einem tief empfundenen, neuen Verlangen, die Stimmung des Moments zu bewahren“ [6]. Kate Bush erläuterte das 2011 während ihres BBC Radio 4-Interviews: „I was going to take that off, so it just started with the top of the track, but a couple of friends said “No, no, no, don’t take it off!” Because it’s great because you actually get drawn into the song because you’re going “Oh, what happened there?“ [1]. Schön, dass sie es so gelassen hat!
Leider gibt es zum Album kein Songbook, für eine musikalische Analyse beziehe ich mich auf [4]. Es gibt häufige Taktwechsel in der Musik, was das Gefühl der Zeitlosigkeit verstärkt, weil es ein „Mitwippen“ verhindert. Notiert ist der Song in a-Moll, die Akkorde dieser Tonart bestimmen den Song. Tonika und Dominante der Paralleltonart C-Dur sind ebenfalls prominent vertreten. Aber es gibt auch Ausweichungen nach A-Dur, einer weiter entfernten Tonart.
Bei der Deutung der Tonarten beziehe ich mich auf Beckh [5]. Wie so oft sind die Tonarten bei Kate Bush auf den Punkt genau genutzt. Laut Beckh ist a-Moll schwermütig und poetisch. Es steht für die romantische Zwienatur, die Zwielicht-Natur, es ist die Sehnsuchtstonart. Damit gibt es genau die Grundstimmung des Songs wieder. A-Moll unterscheidet sich in seinem Charakter klar von C-Dur. Das ist die Tonart des klaren Lichts, die Tonart der nüchternen Klarheit. Bei aller romantischen Zärtlichkeit enthält der Song ja auch genau solche realistischen Momente der Klarheit. Aber da gibt es noch mehr. Nach Beckh „hat das schwermütige, poetische a-Moll schon durchaus Anteil an der Romantik von A-Dur“. A-Dur, das sind Lichteshöhen, das ist überirdische Leichtigkeit, das ist die Überwindung der Erdenschwere. A-Dur ist die Tonart des überirdischen Lichts, sie steht für höchste verklärte Seelenstimmung. Welche Tonart könnte besser für die Engel stehen und ihren Trost?
Zur Wirkung des Songs möchte ich Personen sprechen lassen, die ihn live bei den „Before The Dawn“-Konzerten erlebt haben. Stephen W. Tayler hat dabei mit Kate Bush zusammengearbeitet. “When I was invited by Kate to become the ‘Kate Vocal Navigator’ for the Before The Dawn live shows, we spent months with the crew and the band rehearsing and preparing. Every day at lunchtime, when the rehearsal stage was empty, Kate would come and practise a few songs at the piano with just me in the room, controlling her sound. One song she rehearsed every day was Among Angels. I was almost in tears every time she performed it. I was controlling her vocal live which was nerve-racking as it became a real struggle to concentrate. I was overwhelmed with emotion every time. You could hear a pin drop in the theatre.“ [2]
Die Musikjournalistin Jude Rogers war als Gast bei den Konzerten anwesend. „She came back for the encore, alone, and sat behind her piano. That’s when the weight of the night finally hit me. Pop shorthand still paints Kate Bush as a creature of wide, wild eyes and excess. She is much more about gentleness, thought, and small details.“ [3]

Among Angels ist ein wunderbarer, tiefsinniger Song. Er vermittelt eine Botschaft der Hoffnung und des Trostes in Zeiten der Verzweiflung. Gleichzeitig spricht er die universelle menschliche Erfahrung der Suche nach Sinn und Erlösung an. Stephen W. Tayler bringt es auf den Punkt: „I heard it for the first time when I was mixing the album 50 Words For Snow with Kate. The mood, simplicity, intimacy and emotion hit me right there and then. It’s such a profound and evocative song and such a stunning performance“ [2]. Wie bei allen großen Songs nützt er sich nicht ab, wie auch Stephen  W. Tayler feststellt: “I’ve heard Among Angels too many times to count, yet still feel the same emotions whenever I hear it, as if for the very first time.” [2] Das live zu hören, zum Abschluss eines großartigen Konzerts …. das muss eine überwältigende Erfahrung gewesen sein. Jude Rogers sagt es so und fasst für mich die Wirkung des Songs perfekt zusammen: „Among Angels says something magical in its shy notes and discordant moments: that people are there. There are angels that surround me, „like mirrors, that shimmer like summer“. I rest my „weary world in their hands“, lay my „broken laugh at their feet“. The music takes me to another place too, like a late Talk Talk song, quietly, effervescently. On Tuesday, that meant everything. Kate and I, for a moment, were alone, together.“ [3]
Among Angels ist einfach „Elegant und außergewöhnlich – ein grandioser Abschluss“ [6], wie es Graeme Thomson kurz und (zu) knapp zusammenfasst. Mich überwältigt der Song jedesmal, wenn ich ihn höre. Ich muss dann immer einen Moment ganz still sitzen und warten, bis die Emotionen abklingen.
Among Angels ist der Schlusspunkt von 50 Words For Snow. Neue Musik hat Kates Bush seitdem nicht veröffentlicht. Wir warten und warten und haben die Hoffnung irgendwie verloren. Der Song gibt uns ja Trost und Hoffnung und so will ich auch diesen Text mit etwas Hoffnung enden lassen. Könnte irgendwann etwas Neues kommen? Im Jahr 2011 hat sich Kate Bush in einem Interview dazu geäußert. „Well I’ve already got some ideas for the next one but I need to take some kind of break because I’ve been working so consistently for quite a long time now and I just need to sort of step back for a bit really, I think that’s very important ’cause I think if you work incessantly I think it’s quite dangerous. I think you start to lose you know a sort of picture of… I mean that’s just me; maybe it works for other people.“ [7]
Das gibt doch Hoffnung! Ein neues Album muss für Kate Bush eine neue Welt sein, so sagte es sie auch in diesem Interview: „I suppose I like to think that each album is really different from the one before. That’s really important to me ’cause I don’t want to feel like I’m making the same record all the time. I want it to be just a completely new challenge […].“ [7] Hoffen wir, dass sich irgendwann diese neue Welt für uns öffnet! © Achim/aHAJ

[1] https://genius.com/Kate-bush-among-angels-lyrics (gelesen 24.03.2024)
[2] https://www.loudersound.com/features/kate-bush-40-greatest-songs-of-all-time/2 (gelesen 24.03.2024)
[3] https://thequietus.com/articles/16137-kate-bush-beyond-the-hits (gelesen 25.03.2024)
[4] https://chordify.net/chords/kate-bush-songs/among-angels-chords (gelesen 24.03.2024)
[5] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner; Stuttgart 1999. S.78f (a-Moll), S.71f (C-Dur) und S.136f (A-Dur)
[6] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.406f und S.416
[7] https://musicfeeds.com.au/features/podcast-kate-bush-talks-50-words-for-snow/ (gelesen 31.03.2024)

An Architect’s Dream

Ungewöhnlich beginnt dieser Song. Ein Mann spricht – ohne Begleitung durch Musik – zu sich: „Yes, I need to get that tone a little bit lighter there. Maybe with some dark accents coming in from the side. Hmm… that’s good“  [1]. Der Mann ist ein Maler, und folgerichtig wird dieser Text auch von einem Maler gesprochen, von  Rolf Harris. Dann beginnt der eigentliche Song. Aber ist das nicht eher eine Meditation, eine dahingeworfene, genialische Improvisation? Ist es nicht eher ein impressionistisches, dahingetupftes Bild? Die Protagonistin beobachtet den Straßenmaler, darum geht es vordergründig im Text. Aber für mich singt Kate Bush auch über sich selbst und über ihre Art des Komponierens:  „[…] and also there one gets the impression, that she is singing about herself. About how the light changes while you are trying to catch it, and in the end the most satisfying part is the spot that wound up in the canvas by mistake.“ [2]
Nach der gesprochenen Einleitung setzt instrumental eine sich durch das ganze Lied ziehende Begleitung aus Rhythmusinstrumenten (Drums, Shaker) in Achteln ein. Es klingt wie das Ticken der Zeit – oder versinnbildlicht, wie der Pinsel des Malers Farbklecks um Farbklecks auf die Straße setzt. Ich höre Konzentration in diesem Rhythmus (vielleicht, weil ich selbst bei konzentriertem Arbeiten ähnliche Folgen vor mich hin summe).
Das Lied ist in cis-Moll geschrieben, streng im 4/4-Takt. Die dominierende Akkordfolge ist cis-Moll/Fis-Dur. Diese Akkorde wechseln über weite Strecken einander ab und verschleiern die Tonart (cis-Moll? Fis-Dur?) [1]. Cis-Moll ist die Sehnsuchtstonart, sie eröffnet in uns allen verborgene Quellen der Sehnsucht [3]. Fis-Dur ist die Tonart des Sonnenuntergangs, hier leuchten in der Musik die Sterne auf. Sie steht für den Übergang von der Sinnenwelt in die geistige Welt, sie hat etwas tief Ruhevolles, nach dem Gleichgewicht suchendes [3].
Die Begleitung durch die Grundakkorde ist ein ganz langsames Hin-und-Her-Wiegen. Meist bestimmt ein Akkord den ganzen Takt. Eine fast hypnotische Ruhe und Versunkenheit wird so erzeugt. „Watching the painter painting“ – voller Faszination beobachtet die Protagonistin den Maler. Die Musik nähert sich malerischen Stilmitteln an – die Akkorde erwecken das Bild von breiten Farbflächen, auf die der Rhythmus seine impressionistischen Lichtpunkte setzt.
An einigen Stellen gibt es eine fast aufgeregte Verdichtung – z.B. auf „And it’s the best mistake he could make“ – bestehend aus um cis-Moll und Fis-Dur kreisende, erweiterte Akkorde in Achtelnotenketten. Weitere dieser Akkordfolgen folgen ab „on a pavement“ in „Whenever he works on a pavement“ und ab „the light is changing“ in „And all the time the light is changing“. Das Herzklopfen ist zu spüren, wenn etwas Unvorhergesehenes während des Malens geschieht. All dies ist zärtlich gesungen, innig. Bei „Curving and sweeping / rising and reaching / I could feel what he was feeling“ wird es fast tänzerisch, die Protagonistin wird spürbar mitgerissen. Kate Bush ist fasziniert von Malerei, es ist eine Kunstart, die sie nicht beherrscht und gerade deswegen so bewundert. Für Kate Bush ist das Komponieren mehr wie Film, hier entfalten sich Bilder in der Zeit – genau diese Schnittstelle zwischen Malerei und Film wird in diesem Song thematisiert. Der Akt des Entstehens eines Gemäldes – das ist ähnlich wie das Komponieren, von Zufall und Glück (und Vorsehung) bestimmt.
„I love paintings… I love paintings. I really get a buzz out of seeing a beautiful painting, and it’s something I can’t do. But I suppose in a way, I think of it being more of a kind of moving image…what I do, because it’s connected with the unfolding of time. It’s much more like a movie where, in a lot of ways it is visual for me.“ [4]
Weitere subtile Verknüpfungen sind zu finden. Die verdichtete Herzklopfen-Akkordfolge gibt es auch bei der instrumentalen Stelle, die nach „So the lovers beginn with a kiss“  beginnt. Glückliche Zufälle gibt es nicht nur in Malerei und Musik, sie gibt es auch in der Liebe. Das Herzklopfen ist gleich, wenn etwas unerwartet Gutes passiert.  Interessant ist die Stelle, in der es um den Songtitel geht. Zur Textzeile „an architect’s dream“  gibt es vor „dream“ eine kurze Pause und dann eine fast dramatische Betonung auf „dream“. Was durch Kunst und Natur entsteht hat die Qualität eines wahr gewordenen Traumes. Dies fügt eine fast metaphysische Ebene dazu. Der Maler und sein Werk sind Sinnbild für das Leben an sich, die Schöpfung, die unablässige Evolution. Für die Freimaurer ist Gott der große Architekt des Universums, was  vielleicht den etwas geheimnisvollen Titel des Songs erklären könnte [5]. Der „Deal with god“ ist gelungen – Protagonistin und Maler sind eins, verstehen einander.
Zum Ausklang läuft der tickende Rhythmus aus, Donner ist schwach zu hören und ganz leise Vogelstimmen. Das Lied ist in den Gesamtkontext der Sky-Seite von „Aerial“ integriert. „The Painter’s Link“ wandelt sich dann wieder nach H-Dur, die sonnenwarme Realität wendet sich wieder ins Mystische [1].  „An Architect’s dream“ ist offenbar das erste Lied dieser Seite gewesen, die Keimzelle des Konzeptalbums. Es entstand 1998, während sie mit ihrem Sohn Albert schwanger war [6]. Die Freude über dieses vielleicht unerwartete Ereignis spiegelt sich im ganzen Song wieder. Faszination. Zärtlichkeit, Glück, Bewunderung, Freude, Wärme, die Wechselbeziehung zwischen Kunst und Natur – all das sind die Inhalte. Diese Gefühle waren vielleicht so intensiv, dass sie zur Entfaltung eines ganzen Albums geführt haben. Und auch das ist für mich ein glückliches, faszinierendes Ereignis.     (© Achim/aHAJ)

[1] Kate Bush: Aerial (Songbook), London 2006. Faber Music Ltd. S.77f
[2] Nils Hansson: „Surrealistic Washing“. Dagens Nyheter. 09.11.2005.
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.268 (cis-Moll) und S.102ff (Fis-Dur).
[4] Hugo Cassavetti: „C’est Lenoir“, Interview Radio France, 11.11.2005.
[5] diverse Quellen. z.B. http://freimaurer-wiki.de/index.php/Bible_moralisee (gelesen 28.08.2017)
[6] N.N.: „I’m not some weirdo recluse“. The Guardian. 28.10.2005

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And Dream Of Sheep

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„And dream of sheep“ ist für mich einer der schönsten Songs von Kate Bush. Hier wird mit ganz sparsamen Mitteln eine erstaunliche Tiefe erzielt. Unter einer warm-leuchtenden Oberfläche verbirgt sich in Text und Musik ein Abgrund.  Der Song leitet die zweite Seite „The ninth wave“ des Albums „Hounds of love“ ein. Kate Bush erläutert das zugrundeliegende Konzept selbst: „Wir reden über einen Sturm. Da ist ein Mensch bei Sturm über Bord gegangen und kämpft eine ganze Nacht gegen die Wellen, die Müdigkeit und die Gefahr, aufzugeben. Zu dieser Handlung habe ich alle Stücke der zweiten LP-Seite geschrieben.“ [1]. In „And dream of sheep“ wird der Rahmen dieser Geschichte aufgestellt: eine Schiffbrüchige treibt im nächtlichen Meer, mit Schwimmweste und Notlicht, kaum noch bei Bewusstsein.
Der Song steht in der Tonart cis-Moll, dazu kommen immer wieder prägend fis-Moll-Akkorde sowie H-Dur- und E-Dur-Akkorde [2]. Es gibt aus der melancholischen Mollstimmung immer wieder eine Art hoffnungsvolles Ausweichen in Dur, aber alles wird dann immer wieder in das Moll zurückgezogen. Der Takt ist ein ruhiger 4/4-Takt, der nur kurz unterbrochen wird durch 2/4-Einschübe (zwei Takte) und einen 5/4-Einschub (ein Takt zum Schluss). Die Melodie ist ein Wiegenlied, ganz einfach gehalten, die Töne bewegen sich in kleinen Wellen, so als ob die Protagonistin vom Meer geschaukelt wird. Auf und ab wird sie getragen, gewiegt, ganz sanft.
Um „And dream of sheep“ genauer zu interpretieren, ist es notwendig, fast Zeile für Zeile durchzugehen.
„Little light shining“ – das Klavier ertönt zu diesem Beginn, mit vollem, runden Klang, gut auf die Stimme abgestimmt. Im ganzen Song gibt es fast nur Klavier und Stimme, mit einigen weiteren Akzenten. Die Romantik wird durch ein cis-Moll noch betont. Diese cis-Moll-Akkorde gibt es nur zu Beginn der beiden Strophen (quasi als Einleitung) und dann zum Schluss in der Coda. Diese Tonart bildet den Rahmen des Songs. Cis-Moll ist die Sehnsuchtstonart der klassischen Musik. Es ist eine warme Tonart voller Schwermut, die in uns die verborgenen Quellen der Sehnsucht öffnet. Cis-Moll ist in höchstem Maße romantisch. Nocturnes von Chopin stehen in dieser Tonart, ebenso die Mondscheinsonate von Beethoven [3]. Lebt in E-Dur etwas von leuchtenden Sonnenschein, so in der Sehnsuchtstonart cis-Moll etwas von Mondschein [3]. Es ist ein überaus romantischer Beginn, der etwas ganz anderes erwarten lässt als das, was kommt. Bei den ersten Zeilen hatte ich beim ersten Hören (und auch später noch) ein Liebeslied im Kopf: die Protagonistin stellt eine Kerze ins Fenster, um dem Geliebten den Weg zu weisen.
„Little light will guide them to me“ – ein H-Dur-Akkord auf „them“ leuchtet herein, cis-Moll liegt dann wieder auf „me“. H-Dur symbolisiert das Irdische und schon gleichsam Zurückgelassene – in dieser hoch und verklärt über dem Irdischen liegenden Tonart entschwebt man schon wie ins Überirdische [3]. Eine „Vorahnung des Hinübergehens“ [3] mischt sich in die Harmonik.
„My face is all lit up / My face is all lit up“ – unter das cis-Moll mischt sich immer beherrschender der fis-Moll-Akkord, auf dem zweiten „up“ liegt aber wieder der überirdische H-Dur-Akkord. Bei „lit up“ und später bei „white horses“ und „buoy“ liegt ein leichtes Beben in der Stimme. Das zerbricht die ruhige Stimmung, mischt Angst und Kälte hinein. Die Tonart fis-Moll ist „tiefster Abgrund, tiefste Absturzgefahr [3]“ und deutet auf ein „Aufgewühltwerden bis in die tiefsten Seelengründe hinein“ [3] hin. Die Romantik des Beginns ist der Todesgefahr gewichen.
Der Text baut nun allmählich das Horrorszenario auf, aber versteckt hinter Beruhigung, Ruhe, Traum, Schlaf. Der Schrecken liegt in der Einbildungskraft, im Inneren.
„If they find me racing white horses / They’ll not take me for a buoy“ – die Strophe wird immer leiser im Ton. Zum H-Dur kommt der E-Dur-Akkord dazu. E-Dur ist die Tonart der Märchenpoesie, des Märchens. [3]. Es hat die „Helligkeit einer anderen Welt, einer Welt der Träume, des Dichterischen, der höheren Bilderschau, in der wir der gewöhnlichen Tageswelt gänzlich entrückt sind.“ [3] Die „white horses“ stehen für die Schaumkronen auf den Wellenkämmen, enthalten aber eine tiefere Symbolik. Pferde sind die heiligen Tiere des Meergottes Poseidon [10]. Ihre Erwähnung ist also auch eine versteckte Anrufung göttlicher, märchenhafter Hilfe.
Fast alle Zeilenenden gehen in einem Tonschritt nach unten. Die Musik zieht die Protagonistin zum Schluss der Zeilen hinab in den Schlaf und in das tiefe Wasser. Die Musik gibt den Sog des Untergehens wieder, schwingt hin und her, zieht dann aber hinab. Aufwärts geht es nur selten, bei „shining“, „guide them“, „open“ und (im Chorus) „sheep“ – aufwärts der Hoffnung, der Rettung und dem Leben  entgegen.
„Let me be weak, let me sleep and dream of sheep“ – dies ist der erste Chorus, meist H-Dur, ein fis-Moll-Akkord auf „week“, wieder H-Dur auf „sleep“, dann H-Dur/E-Dur/fis-Moll gemischt in einer harmonisch verschleierten Akkordfolge. Von Schafen träumen – im Deutschen gibt es das „Schäfchen zählen“, das mit dem Einschlafen verbunden ist. Es versteckt sich hier aber eine tiefere Symbolik. Das Schaf ist der Inbegriff eines Wesens, das alles erduldet, alles mit sich machen lässt. Es ist das Opfertier schlechthin, ein Sinnbild der Reinheit, Unschuld, Geduld und Sanftmut. [11] Die Protagonistin will sich der Situation hingeben – um diesen Kampf gegen das sich Ergeben handelt „the ninth wave“.
Im Hintergrund sind ferne Stimmen wie aus einem Funkgerät zu hören. Eine Frauenstimme sagt zärtlich „Come here with me now.“  Das war eine der Lieblingswendungen von Kate Bushs Mutter [4]. Ganz weit weg ist ganz leise das Tuten eines Besetztzeichens zu hören. Die Außenwelt ist noch da, Kommunikation ist noch denkbar – Stimmenfetzen wahrscheinlich aus dem Funkgerät des Schiffes im Sturm, Erinnerungen an die Person, die immer geholfen hat – aber es gibt keinen Anschluss, der Kommunikationskanal ist besetzt.
Die zweite Strophe beginnt mit „Oh I’ll wake up to any sound of engines“. Auf „engines“ bricht ein heftiger tiefer Streicherakkord hinein, ein Cluster, eine wilde Ballung von Tönen, wie ein Traum von einem Motor. Diese zweite Strophe wird vom fis-Moll des Abgrunds dominiert, nur zum Schluss auf „imagination“ gibt es ein Lichtzeichen durch den H-Dur-Akkord. Hier ist die Romantik des Anfangs verschwunden, alles klingt aufgeregter, dramatischer, verzweifelter.
Ab dem zweiten Chorus wird es dann immer stiller und leiser, ruhiger. Die Protagonistin nimmt allmählich die Opferrolle an – sie gibt sich den Schafen hin, lässt sich von ihnen davontragen. Mit „Ooh, their breath is warm“ beginnt die Coda in traumverlorenen, optimistisch-aufgehellten H-Dur- und E-Dur-Akkorden (auf „warm“ wird das Lied aber wieder hinabgezogen in das fis-Moll). Zu „warm“ und dann zu „deeper and deeper“ ertönen begleitende Töne, die wie irische Flöten klingen. Das ist heimatliche Musik aus der Kindheit, das sind träumerische Erinnerungen.  Die Flöte ist in der Symbolik zudem eng mit der jenseitigen, spirituellen Welt und ihren Göttern verbunden. Oft wird das Instrument von Göttern gespielt oder symbolisiert die Stimme eines Gottes. Im alten Ägypten hörten die Menschen in den langen Flötentönen die Stimme der Göttermutter Isis. [9]
„And they smell like sleep“ beginnt in E-Dur, endet aber wieder in fis-Moll. „And they say they take me home / Like poppies, heavy with seed“ – der E-Dur-Akkord ertönt dann auch wieder auf „like poppies“, danach kommt wieder diese verträumte Akkordkette, die aber diesmal mit cis-Moll auf „seed“ endet. Der Kreis des Liedes hat sich geschlossen. Das ist ganz zart gesungen, fast schon wie im Schlaf. Richard Wagner benutzt E-Dur für das „Schlummermotiv“ der schlafenden Walküre, die Tonart dient ihm in in der Oper „Die Walküre“ geradezu als Tonart des Einschlummerns [3] – über die Genres und die Jahrhunderte hinweg überlappen sich musikalische Zeichen und Ausdrucksweisen. „Poppies“ – Mohnblumen: Schlafmohn, Betäubung. Die antike Symbolik der Mohnblume ist düster. Bei den Griechen war der Mohn der Unterweltsgöttin Persephone geweiht. Hypnos, der Gott des Schlafes wurde oft mit Mohnblüten in der Hand dargestellt [12]. Lyrik, Tonart und Symbolik kreisen um das Einschlafen.
„They take me deeper and deeper“ – mit Meeeresgeräuschen und ohne begleitende Akkorde geht es immer weiter hinunter. Die Protagonistin sinkt wie von Narkotika („poppies“) betäubt tiefer und tiefer in den Schlaf und mit ihr versinkt auch die Melodie in der Tiefe und verdämmert. Ohne Pause beginnt „Under Ice“ und wir sind in einer düsteren Zwischenwelt. Das eher romantische cis-Moll wechselt abrupt in ein dunkles, bedrohliches a-Moll [2]. Dieser Übergang ist so, als ob das Licht in der Musik abgeschaltet wird. Für Kate Bush waren diese ersten beiden Stücke der Suite immer eine Einheit:“It [Under Ice] was totally connected to the track that had come before, and they were written together – And Dream Of Sheep goes straight into Under Ice and they were almost conceived as one […]” [5].
Zu den Songs von „The ninth wave“ hatte Kate Bush seit jeher Bilder im Auge. „And really, for me, from the beginning, The Ninth Wave was a film, that’s how I thought of it.“ [6]. Das muss offenbar auch schon 1985 so konkret gewesen sein, dass es Pläne zu einer filmischen Umsetzung gegeben hat. „I think in a way they’re, umm, probably the most visual songs I’ve written in that, when I was writing them, I had in mind what potentially might be done with them, visually, which isn’t normally the sort of way you go about writing a song. So it’ll be interesting if we can ever actually turn it into a film, which is what I’d like to do, and to see if it takes to it well.“ [7].  Dies hat sich damals nicht realisieren lassen – aus den Gedanken ist es aber wohl nie verschwunden. Für die Konzertreihe „Before the dawn“ wurde es dann endlich umgesetzt. Zu „And dream of sheep“ wurde dazu der Gesang neu aufgenommen. Ein Video entstand, das dann während der Show gezeigt wurde. Dafür ließ sich Kate Bush in einem Wassertank in den Pinewood Studios im englischen Buckinghamshire aufnehmen. Kate Bush zog sich bei den Dreharbeiten eine Unterkühlung zu und war gezwungen, am folgenden Tag mit den Dreharbeiten zu pausieren. „Am Folgetag hatte sie sich erholt und konnte weiterfilmen. Alle waren sich einig, dass es der Authentizität der Performance zuträglich war“. [8]  Das Video ist fast beklemmend – man kann die Unterkühlung der Protagonistin sehen und fast fühlen. Die Stimme zittert und klingt wie aus eisiger Kälte, beängstigend. Das gibt dem Song noch mehr Tiefe, als er ohnehin schon hat. Die träumerische Stimme der Version von 1985 ist einem bedrohlichem Realismus gewichen. Ein Meisterwerk in beiden Fassungen!                    © Achim/aHAJ

[1] Andreas Hub: “Kate Bush. Aufgetaucht”. Interview mit Kate Bush. Fachblatt Musikmagazin. 11/1985
[2] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.80
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.268 (cis-Moll), S.264f und 274 (E-Dur), S.171ff (H-Dur) und S.138 (fis-Moll)
[4] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH, S.273
[5] The 1985 Convention Interview. Tony Myatt asks Kate about Hounds of Love. Homeground – The Kate Bush Magazine. Anthology One. Crescent Moon Publishing. Maidstone. 2014. S.383-392
[6] Richard Skinner: Classic Albums Interview, BBC Radio 1, 25.01.1992.
[7] Peter Swales, Musician (unedited), Herbst 1985
[8] http://www.warnermusic.de/news/2016-11-22/im-video-and-dream-of-sheep-live-watet-kate-bush-durch-einen-grossen-wassertank (gelesen 13.01.2017)
[9] https://www.vsl.co.at/de/Concert_flute/Symbolism (gelesen 03.02.2017)
[10] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Poseidon (gelesen 03.02.2017)
[11] Martin Warnke: Ausgerechnet das Schaf. Ein Tier in Geschichte und Gegenwart. DIE ZEIT 14.03.1997
[12] http://blumensprache.blogspot.de/2008/10/mohnblume.html (gelesen 03.02.2017)

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And So Is Love

„And so is Love“ ist ein Song, der für Kate Bush ungewöhnlich ist. Es ist ein ruhiges, melancholisches Lied mit einem einfachen Text, der keine zweite Ebene erkennen lässt. Der Song drückt Gefühle aus, unverstellt. Er enthält kein Geheimnis – jedenfalls keines, das ich entdecken kann. Kate Bush so zu erleben – das ist ungewöhnlich.
Für einen traurigen Popsong ist „And so is Love“ sehr stimmig geraten. Nach der Textzeile „It must be love“ setzt eine Gitarre ein und begleitet im Wechselgesang die Gesangsstimme. Im Hintergrund gibt es dazu einen Synthesizer-Teppich, der dann doch an andere Songs von Kate Bush erinnert. Es gibt weitere Popelemente. Der Chorus „Ooh baby live your life for love“ erinnert mich zum Beispiel an den Background-Gesang der Supremes zur Begleitung von Diana Ross. Zum zweiten „And so is love“ geht die Stimme hoch hinaus, das ist ein emotionaler Aufschrei. Aus dem Text und dem Gesang ist eine gewisse Resignation herauszuhören. 

Mit dieser eher dunklen Stimmung passt der Song zur Grundstimmung des Albums. Kate Bush selbst weicht einer Deutung aus. Zur Textzeile „Life is sad and so is love“ lässt sie sich immerhin zu einer Bemerkung hinreißen [4]: „It was a line from Joseph Campbell [ein amerikanischer Mythenforscher], and I’m not saying it’s something I believe – quite often there are things said in a song that I don’t believe at all, but they are beliefs of other people, and sometimes that’s very relevant.“ Das klingt eher wie das Abweisen einer Deutung.
Musikalisch ist der Song einfach gehalten, so wie es sich für einen Popsong gehört. Der Takt ist ein reiner 4/4-Takt ohne jede Abweichung, die Tonart ist ein klares g-Moll [1]. Auch diese Tonart ist stimmig, nach Beckh [2] ist g-Moll das Passende für Melancholie und Resignation. Es ist eine dunkle Tonart, in der die Hoffnung fehlt. Sie ist der Ausdruck von etwas Schmerzlich-Verklärtem, „unter Tränen Lächelndem“. Sie ist seelisch ausdrucksvoll, aber auch ein Ausdruck von Schicksalsernst.
Das Besondere am Song sind die prominenten Gastmusiker. In einem Interview gibt Del Palmer dazu Auskunft [3]. „This one seems to have the most effective band sound to me; we had Gary Brooker (from Procul Harum) on Hammond organ and Eric Clapton on guitar, and that was just a couple of months after his son died. I admired him for doing that – he’d promised to do it and he wanted to stick to his commitment. Eric only really plays in one style, but he’s a genius at what he does, so that was a highlight for me.“
Nach dem ersten Halbsatz ist zu vermuten, dass bei der musikalischen Gestaltung eine mögliche Live-Aufführung angedacht war. Die Gastmusiker deuten darauf hin, dass möglicherweise der amerikanische Markt anvisiert wurde. Ein bisschen über den Song lässt sich aus einem Interview mit Kate Bush entnehmen, in dem sie u.a. über die Zusammenarbeit mit Eric Clapton spricht [5]: „I really wanted to get at the rawness of relationships, the way things just burn at people but never quite erupt. And Eric just sensed that. The track couldn’t say it, it just had to unfold, holding the tensions until the voice goes up into the higher octave. He followed brilliantly, like it was a conversation. It feels like the guitar is answering the voice. I was so moved by what Eric played.“

„And so is Love“ wurde als letzte Single des Albums „The red shoes“ veröffentlicht. In Großbritannien erreichte sie Platz 26. Im Video dazu (Ausschnitt aus dem Album-Film „The Line, the Cross and the Curve“) singt Kate Bush das traurige Lied in einem hohen, dunklen Raum. Ihr Gesicht sieht ungeheuer verletzlich aus. Sie zündet eine Kerze an, aber das macht den Raum nicht heller. Draußen herrscht offenbar ein Gewitter. Eine Amsel flattert herum und versucht, durch ein Fenster zu entkommen. Zum letzten Teil des Songs fängt Kate Bush den Vogel vorsichtig ein. Aber anstatt ihn draußen freizulassen, lässt sie ihn drinnen frei. Er stößt sich am Fenster zu Tode und fällt auf am Boden liegende Noten. Kate Bush bettet ihn auf ein blutrotes Samttuch und küsst ihn zum Abschluss des Songs. Das Video gibt einige Anhaltspunkte zur Interpretation des Songs. Gefühle – „the rawness of relationships“ [5] – sind so etwas wie ein gefangener Vogel. Man kann sie fangen, anfassen, aber man kann sie nicht so einfach freilassen. Sie werden sich zu Tode stoßen. Es geht um „the way things just burn at people but never quite erupt“ [5].
Interessant ist für mich, dass eine Amsel im Video auftaucht. Die Amsel (englisch „Blackbird“) ist ein bei Kate Bush wiederholt auftauchendes Symbol. In „Waking the Witch“ wird im Text auf sie Bezug genommen, auf „Aerial“ ist ihr Gesang zentral. Die Amsel scheint für Kate Bush für die unterdrückten Gefühle zu stehen – erst der Gesang lässt sie heraus.
Die Biographen haben über den Song keine hohe Meinung. Vielleicht waren sie nicht gewohnt, dass Kate Bush einfach mal unverschlüsselt ihren Gefühlen Ausdruck verleiht. Insbesondere am Gastauftritt von Eric Clapton lassen sie kein gutes Haar. Graeme Thomson schreibt [6]: „Eigentlich ist es ein einfacher, melancholischer Popsong in Moll, doch er ist getrübt durch ein schrecklich konventionelles, amerikanisch anmutendes Arrangement, das versucht, die unverkennbare Bluesgitarre von Eric Clapton – für sich allein bereits ein äußerst gewöhnlicher Sound für ein Kate-Bush-Album – mit einem irritierenden Synthesizer-Effekt zu kombinieren.“
Ron Moy [7] meint: „The track is nothing more than moderate filler.“ Er bemängelt den Text und die musikalische Gestaltung ohne Geheimnis: „It may be ‚from the heart‘, but it cannot help but come across like a series of identikit phrases, and the musical backing does nothing to move the song out of the mundane.“ Den Gastauftritt von Eric Clapton hält er für verzichtbar: „[…] his blues fills could have been the work of any journeyman musician, so the purpose of this contribution remains unclear.“
Für „Director‘s Cut“ hat Kate Bush den Song noch einmal aufgenommen. Die neue Version unterscheidet sich nicht sehr von der alten Version. Es klingt weniger verzweifelt, eher ein bisschen abgeklärt. Der Chor erinnert mich nicht mehr an die Supremes, er ist ruhiger und klingt mystischer. Die resignative Zeile „and now we see that life is sad“ änderte sie zu „…. life is sweet“, denn: „Ich fand es so verdammt deprimierend! Diese bedrückende Zeile konnte ich nicht so lassen.“ [6].
Ich kann „And so is Love“ als das genießen, was es ist – eine melancholische Popnummer. Ich brauche nicht unbedingt ein Geheimnis. Möglicherweise hätte Kate Bush solche Songs in Mengen schreiben können, wenn sie gewollt hätte. Schade eigentlich, dass sie es nicht getan hat! © Achim/aHAJ

[1] Kate Bush: The red shoes (Songbook). Woodford Green. International Music publications Limited. 1994. S.13ff
[2] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.248ff
[3] „Well red“. Interview mit Del Palmer. Future Music. November 1993
[4] Roger Trilling: „A Tightly Wound Conversation With The Rubberband Girl“. Details. März 1994
[5] Tom Moon: „A Return to Innocence“. Philadelphia Inquirer. Januar 1994
[6] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.319, 396
[7] Ron Moy: Kate Bush and Hounds of Love. Aldershot. Ashgate Publishing Limited. 2007. S.116

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Dieser Song vom Album “Never for ever” ist einer der großen englischen Antikriegssongs, getarnt als Top20-Hit [1]. Lieder als politische Kommentare haben oft ein Manko – sie erheben den Zeigefinger, sind belehrend. Ich achte die gute Absicht, höre es mir aber nicht sehr gern an. Wie schreibt und komponiert man so etwas, ohne dass es aufdringlich, plakativ und übertrieben wirkt? “Army Dreamers” zeigt, wie es geht.

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Kate Bush ist in ihren Anfangsjahren oft vorgeworfen worden, sie sei politisch indifferent und eher auf der esoterischen Spur. “Ich schreibe nur dann über so etwas, wenn mich politisch motivierte Handlungen emotional berühren”, sagte sie in einem Interview zu “Never for ever” [2]. Das Lied handelt von einem toten Soldaten, der von seiner Mutter betrauert wird. Eine Trauerfeier auf dem Flugfeld, sein Sarg wird hereingetragen von vier Soldaten. Sie denkt mit Wehmut an die Vergangenheit und an das, was aus ihrem Sohn hätte werden können. Geschickt werden so Muttergefühle – also eine sehr emotionale und persönliche Empfindung – mit einem politischem Statement verbunden. “It’s just putting the case of a mother in these circumstances, how incredibly sad it is for her. How she feels she should have been able to prevent it. If she’d bought him a guitar when he asked for it”, erläuterte Kate Bush in einem Interview [3]. Zur Zeit des Albums kam nur Nordirland in Frage als Land, in dem britische Soldaten im Einsatz getötet wurden. Dieser ganz klare politische Bezug wird aber im Song verschleiert. Im Song ist neutraler vom B.F.P.O. (British Forces Post Office) die Rede. Der Song beklagt den beständig hohen Preis, “den jeder Krieg von einer ganzen Generation junger und unterschätzter Menschen fordert: verhinderte Väter, Parlamentarier oder Rockstars, die nicht einmal die 20 erreichen.” [4] Verlorene Leben, unerfüllte Potenziale, Trauer und Tod  – das sind die Themen. Diese in den Tod führende Perspektivlosigkeit steht für Kate Bush im Vordergrund: “Es ist so traurig, dass es Jugendliche ohne Schulabschluss gibt, die keine andere Chance sehen, als zur Armee zu gehen, obwohl das eigentlich nicht ihr Wunsch ist. Das ist es, was mir Angst macht.” [2] Gesungen wird “Army Dreamers” mit leicht irischem Akzent. “Der irische Akzent war wichtig, weil ich den Song auf sehr traditionelle Weise angepackt habe, und die Iren haben stets ihre Songs benutzt, um Geschichten zu erzählen. […]  Ein irischer Akzent vermittelt eine gewisse Verletzlichkeit und wirkt poetisch. Und so kommt der Song dann auch anders rüber”, erläutert dies Kate Bush [2]. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Der irische Akzent verstärkt subtil den Zusammenhang mit Nordirland. Auf einer anderen Ebene verstärkt er zudem den emotionalen Bezug – Kates Mutter hat irische Wurzeln. Vielleicht gab es in ihrer Umgebung ähnliche Vorfälle, vielleicht haben ihre Mutter oder Bekannte davon erzählt. Dieser Akzent macht es persönlicher, intimer.

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“Army Dreamers” lebt auch von seinen inneren Widersprüchen. Ein todtrauriger politischer Text wird mit einer sanften, träumerisch-tänzerischen Melodie kombiniert, einem Walzer. Dies gehört nicht zusammen, dies spiegelt die Gefühle der Zerrissenheit der trauernden Mutter wider und transportiert diese Zerrissenheit direkt zum Zuhörer. Dieser träumerische Walzer wird durch die starke Benutzung von gesampelten Sounds – das Laden von Gewehren, militärische Befehle – direkt mit der Szenerie verbunden. Die Mutter steht vor dem Sarg bei der militärischen Trauerfeier, Gewehre werden präsentiert, Ehrenbezeugungen für den Toten. Das dringt vor zur Protagonistin des Songs, aber sie ist ganz bei ihrem Sohn, zärtlich, sanft, wehmütig. In all ihrer Trauer ist der Mutter aber die Falschheit der Situation bewusst. Im Song heißt es “Give the kid the pick of pips / And give him all your stripes and ribbons / Now he’s sitting in his hole / He might as well have buttons and bows” [5].
Bei der Art dieses Liedes war dies eine ganz unerwartete Hitsingle. Aber die Melodie ist eingängig, glänzend, meisterlich melodisch – ein Glücksfall. Es ist eine der Melodien, die ich nach einem Hören nicht schnell aus meinem Kopf bekomme. Kate Bush hat hier neue Mittel probiert – “It’s the first song I’ve ever written in the studio” [3] – und gewonnen. Der Song ist in h-moll notiert und schwankt ständig zwischen h-Moll und der parallelen Dur-Tonart D-Dur hin und her [5]. Die mögliche positive Gegenwelt steht dabei immer in D-Dur (Dur steht bei “Mammy’s hero”, bei “B.F.P.O”, bei den ganzen mit “should have been” beginnenden Möglichkeiten) [5]. Dies ist wieder einmal – wie so oft bei Kate Bush  – eine sehr subtile Nutzung der Tonarten. D-Dur ist “die Tonart des siegenden Helden, das Erreichen des höchsten Ziels, der siegreichen Überwindung, die eigentliche Siegertonart”, es ist die “sprießende, belebende Kraft, Wachstumskraft, Werdekraft.” [6]. Ja – all das hätte aus dem Soldaten werden können. Aber all diese Möglichkeiten sind ins Dunkle gewendet. Das siegreiche, verheißungsvolle D-Dur wird in sein düsteres, trauriges Gegenstück h-Moll verwandelt. Auf die “Should have been”-Sätze in Dur folgen immer die mit “But” beginnenden Sätze in Moll. Die Realität steht nicht in Dur.
Achim/aHAJ) [1] Pat Gilbert: Army Dreamers, Mojo 10/2014. S.74
[2] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.120/121
[3] Colin Irwin: “I find myself inspired by unusual, distinct, weird subjects”. Interview im Melody Maker 4.10.1980.
[4] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.213
[5] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.61f
[6] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.180 Kommentare

Babooshka

In Wagners Oper „Götterdämmerung“ geht es um Verrat, Täuschung und Maskerade – ….. Moment! Was hat die Götterdämmerung mit „Babooshka“ zu tun? Ich muss für den Zusammenhang doch weiter ausholen und von vorn anfangen.
„Babooshka“ – fast jeder wird diesen Titel im Ohr haben. Neben „Running up that hill“ und „Wuthering heights“ zählt er zu den bekanntesten und erfolgreichsten Songs von Kate Bush. In vielen Ländern erzielte er hohe Chartspositionen, in Großbritannien z.B. erreichte er den Platz 5 in den Single-Charts. Es ist ein sehr schwungvoller Titel, der seine Abgründe hinter Fröhlichkeit versteckt.
Mit markanten Akkorden beginnt der Song. Es geht es um das Verlangen einer Frau, die Loyalität ihres Ehemanns zu testen. Dazu nimmt sie den Namen Babooshka an und schickt ihm Briefe, in denen sie ihm eine jüngere Frau vorspielt. Sie fürchtet, dass er in ihr nicht mehr die Frau sieht, die sie mal war und sich so jemanden wie dieses jüngere Ebenbild zurückwünscht („Just like his wife / But how she was before the tears / And how she was before the years flew by / And how she was when she was beautiful“). Sie treibt es weiter und weiter und in ihrer Paranoia stellt sie die Falle auf – sie arrangiert ein Treffen. Ihr Mann trifft sich mit Babooshka, sie erinnert ihn an das frühere Ich und an das vergangene Wesen seiner Frau („Uncanny how she reminds him of his little lady / Capacity to give him all he needs / Just like his wife before she freezed on him / Just like his wife when she was beautiful“). Er verfällt diesem früheren Ich, dieser Babooshka („He shouted out, I’m all yours Babooshka“). Die Frau hat mit ihrer Paranoia die Beziehung zerstört, denn ohne diese Verkleidung wäre er wohl nicht auf die Idee gekommen, seine Frau aufzugeben. Hätte sie ihm diese Zuwendung offen gegeben – alles wäre gut geworden. So wird aus einer nostalgischen Erinnerung an die Vergangenheit ein Betrug. Es ist eine im Grunde traurige Geschichte über das Altern und die Abnutzung des Bewährten. Kann man dies durch einen Wechsel der Identität – also durch eine Täuschung – aufhalten? Zum Schluss hört man das Geräusch zersplitternden Glases – etwas zerbricht. Mangel an Vertrauen zerstört die Beziehung.
Kate Bush bezeichnet das nicht als Love Song, für sie ist der Inhalt eindeutig traurig, weil hier die Frau durch ihre Paranoia die Beziehung ruiniert. „I suppose I would say that I have written some love songs but I wouldn’t term that as one. Really I’m very annoyed at the way that the woman is behaving in this song because it is so stupid and in fact she’s just ruining the whole situation which was very lovely – and it’s only because of what’s going on in her brain that she does these things so – suspicion, paranoia all these naughty energies again and it’s really quite sad I think.“ [2] Der Song reiht sich damit ein in den Reigen komplexer Beziehungen des Albums, über denen der Albumtitel „Never for ever“ wie ein unheimliches Omen schwebt.
Woher kommt der Name „Babooshka“? Babushka bedeutet in der russischen Sprache Mütterchen, Oma, aber das hatte Kate Bush nicht im Sinn. Es lag allein am Klang, der so gut passte. „[…] well apparently it is grandmother, it’s also a headdress that people wear. But when I wrote the song it was just a name that literally came into my mind, I’ve presumed I’ve got it from a fairy story I’d read when I was a child.“ [3] In einem weiteren Interview erläuterte sie es noch genauer. „Well, it was very strange, because as I was writing this song the name just came and I couldn’t think where I’d got it from and I presumed it was from a Russian fairytale – it sounded like the name of a princess or something and it was so perfect for the music, it had all the right syllables and the right feel, so I kept it in.“ [2]
Der Ursprung war also wohl das russische Weihnachtsmärchen „Babuschka und die drei Könige“ (in [4] kann es in einer deutsche Fassung gelesen werden). Als das Lied – wohl in der Rohfassung – geschrieben war, passierten laut Kate Bush viele kleine „incredible coincidences“. „And after having written the song a series of incredible coincidences happened where I’d turned on the television and there was Donald Swan singing about Babooshka. So I thought, „well, there’s got to be someone who’s actually called Babooshka.“ So I was looking through Radio Times and there, another coincidence, there was an opera called Babooshka.“ [3] Diese Kinderoper „Baboushka“ (mit „ou“) aus dem Jahr 1979 basiert auf dem Märchen, Donald Swann ist der Komponist [5].
Kate Bush hat den Inhalt des Märchens bzw. der Oper noch gut im Kopf. „Apparently she was the lady that the three kings went to see because the star stopped over her house and they thought ‚Jesus is in there‘. So they went in and he wasn’t. And they wouldn’t let her come with them to find the baby and she spent the rest of her life looking for him and she never found him.“ [3] Kate Bush hat hier noch vergessen, dass die Babushka auf ihrer Suche nach dem Jesuskind die Weihnachtsgeschenke bringt [4].
Eine weitere kleinere „incredible coincidence“ war dann die Krönung. „And also a friend of mine had a cat called Babooshka. So these really extraordinary things that kept coming up when in fact it was just a name that came into my head at the time purely because it fitted.“ [3]
Vielleicht haben alle diese Dinge den Inhalt des Songs mit beeinflusst. Als „Babuschka“ werden fälschlicherweise die Matrjoschka-Puppen bezeichnet, diese bunt bemalten, ineinander schachtelbaren, eiförmigen russische Puppen mit Talisman-Charakter [6]. Hier verbirgt sich auch in einer Person eine andere Person, ein anderes Ich. Die Babuschka aus dem Märchen ist ebenfalls auf der Suche nach dem Glück und findet es nicht. Laut Colin Irwin [7] gibt es zudem eine Verbindung zu einem Volkslied, das vielleicht den Inhalt beeinflusst hat: „Babooshka is similarly based on a song called Sovay Sovay.“ [7]
„Sovay Sovay“ ist ein traditioneller englischer Folk Song [8]. Eine Frau verkleidet sich als bewaffneter Räuber. Sie überfällt ihren Freund und verlangt all sein Geld und Gold. Schließlich verlangt sie auch den goldenen Ring, den er von Sovay (eine Form von „Sophie“) als Geschenk bekommen hat. Er aber weigert sich, selbst wenn ihm das das Leben kosten würde. Schließlich gibt sich Sovay zu erkennen und sagt ihm, dass sie ihn getötet hätte, wenn der den Ring weggegeben hätte. Auch hier geht es um eine Frau, die ihrem Mann nicht vertraut, die ihm eine Falle stellt. Ich frage mich, was nach dem Ende von Babooshka passiert. Erschiesst sie ihn? Schließlich hat er den Test nicht bestanden – anders als der Mann in „Sovay Sovay“.
Das sehr erotische Video trug maßgeblich zum Erfolg der Single bei. Kate Bush tanzt mit dem Kontrabass (der den Mann symbolisiert), zuerst in Schwarz und mit einem Schleier, später dann in einem russisch-orientalisch angehauchten Amazonen-Dress. Die Buntheit der Babuschka-Puppen spiegelt sich diesem Kostüm wieder. Es ist inspiriert von einer Illustration, die Chris Achilleos 1978 für das Cover des Buches „Raven – Swordmistress of Chaos“ geschaffen hatte [1]. Colin Irwin ist vollkommen fasziniert: „The double-bass is alternately the object of her lust and her fury; she wraps herself around it, she grinds against it, she beats the hell out of it, she wrings its neck, she claws it, she slithers down its neck, she blows in its ear. Her face pouts and spits and leers and jeers and dreams and schemes and ravishes; and all the while bottom jerks and thrusts from one end of the studio to the other. It’s the most erotic thing I ever saw.“ [7]
Kate Bush dagegen findet sich überhaupt nicht sexy. „I’ve decided I can’t judge. People say the ‚Babooshka‘ video is sexy, but all I can see is that I haven’t turned my foot out or fully extended my arm or there’s a bit of make-up smudged or you can see there’s a gap between my teeth.“ [11] Das Video ist es natürlich nicht allein, auch die musikalische Gestaltung trägt zur Wirkung entscheidend bei (Noten aus [9]).
Den ganzen Song über wird strikt ein 4/4-Takt durchgehalten, was entscheidend zur Tanzbarkeit beiträgt. Notiert ist es in Es-Dur, der Es-Dur-Akkord spielt auch eine zentrale harmonische Rolle. An einigen Stellen wird als Abweichung der es-Moll-Akkord benutzt – auf dem „ka“ des zweiten „Babooshka“ in der Einleitung (sonst dominiert der Es-Dur-Akkord die Einleitung), auf „she send him scented letters“ sowie im Refrain und in der Coda auf dem „All“ in „All yours Babooshka“ (auf dem „ka“ des zweiten „Babooshka“ geht es in den Es-Dur-Akkord über, der auch die Coda beschließt).
Eine doppeldeutige Rolle spielt das „All yours“. Im Refrain ist es eine Grußformel von ihr an ihn in den Briefen. Die Code beginnt dagegen mit „He shouted out, I’m All yours Babooshka“ – das ist keine Grußformel, hier bedeutet es „Ich bin Dein“, von ihm an sie. Die Geschichte wendet sich ins Gegenteil.
Am Bass hören wir John Giblin und dieser Sound symbolisiert instrumental den männlichen Partner, wie es so oft der Bass tut auf den ersten Alben von Kate Bush (ohne [1] hätte ich das nicht bemerkt). Der Song endet mit einem Sample von zerbrechendem Glas, „one of the earliest examples of a sample created with the newly-available Fairlight CMI digital synthesizer [1].“ Die Beziehung zerbricht. Beziehungen sind fragil wie Glas.
Folgt man den Tonartenbedeutungen gemäß Beckh [10], so unterstützen die beiden Schwerpunkte Es-Dur und es-Moll die paranoide Geschichte. Es-Dur ist die Wiederaufwärtswendung zum Licht, es hat einen starken, positiven, kämpferischen Charakter. Die Frau kämpft, sie will die Wiedergeburt der Liebe. Es-Dur bedeutet auch Weihnachtsjubel, Weihnachtsfreude, Wiedergeburt des Lichts – passend zum Babushka-Märchen. Die Tragik des Schwellenübergang dagegen ist das es-Moll, es ist die Tonart des Verwelkens und Absterbens. Genau das bewirkt die Maskerade der Frau, sie verliert die Liebe ihres Mannes.
Typisch für „Babooshka“ sind diese schleichenden Übergänge von Es-Dur nach es-Moll. Dieser Übergang ist auch ganz charakteristisch für Wagners große Verrats-Oper „Götterdämmerung“. Es „bricht gleichsam ein großer Weltherbst herein, ein Welkwerden und Abfallen von vielem, was in der Menschenseele, im Menschenbewusstsein der Vergangenheit einmal blühendes Leben war.“ [10].
Im Text zur wichtigsten dieser Stellen aus der „Götterdämmerung“ findet sich Folgendes [10]: „In langer Zeiten Lauf zehrte die Wunde den Wald; halb fielen die Blätter, dürr darbte der Baum; traurig versiegte des Quelles Trank: trüben Sinns ward mein Gesang“. Dies singt im Vorspiel der Götterdämmerung eine der drei Nornen, eine der nordischen Schicksalsgöttinnen – und ist es nicht so ähnlich wie das, was in „Babooshka“ geschieht?
Es gibt noch mehr Parallelen zwischen „Babooshka“ und der Götterdämmerung. Auch in der Oper geht es um Verrat, Täuschung und Maskerade. Göttervater Wotan reißt die Welt der Götter durch Verrat in den Abgrund. Siegfried betrügt seine geliebte Brünnhilde, als er die Erinnerung an sie durch einen Zaubertrank verloren hatte. Er nähert sich ihr in einer anderen Gestalt und erobert sie für einen Anderen. Näherung an den Geliebten in einer anderen Gestalt, Betrug – dies steht auch in großen Buchstaben über „Babooshka“. Vielleicht sind diese Dinge bei der Komposition mit eingeflossen, die Tonarten und Kernpunkte der Geschichte legen es mir nahe. Aber ich habe viel Fantasie und ich lese zu viel, man darf es ruhig auch Überinterpretation nennen. Vielleicht hat Kate Bush einfach nur ähnlich empfunden wie Richard Wagner – zwei genuine Komponisten begegnen sich.
„Babooshka“ ist ein Hit mit überraschend viel Tiefgang. Für mich hat er damals erst richtig die Begeisterung für Kate Bush geweckt. Der Inhalt ist traurig, aber die Coda endet im eher positiven Es-Dur – es geht vielleicht doch gut aus. Die Unsicherheit und Unaufgelöstheit aber bleibt. Auch Hit-Singles von Kate Bush behalten ihre Geheimnisse (und deswegen macht es auch so viel Freude, ihre Songs zu analysieren). © Achim/aHAJ

[1] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Babooshka_(song) (gelesen 17.08.2018)
[2] NfE Interview – EMI (London)
[3] Peter Powell: Never for ever debut. Radio 1. 11.10.1980
[4] http://www.weihnachtsstadt.de/geschichten/sagen/babuschka-und-die.html (gelesen 17.08.2018)
[5] http://www.donaldswann.co.uk/pubchildren.html#children (gelesen 17.08.2018)
[6] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Matrjoschka (gelesen 17.08.2018)
[7] Colin Irwin: „Paranoia and Passion of the Kate Inside“. Melody Maker. 04.10.1980.
[8] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Sovay (gelesen 17.08.2018)
[9] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987.  S.62ff
[10] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S.124 und S.114f
[11] Phil Sutcliffe: „Labushka“. Sounds. 30.08.1980.

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Be Kind To My Mistakes

Bertie

bertie

Es ist ein ganz zarter Faden, der sich durch Kates Werk spinnt, für manche(n) vielleicht gar nicht wahrnehmbar: die Inspiration aus alter englischer Consort Music, aus der Epoche der Renaissance – consort ist der allgemeine Fachbegriff für Ensembles in dieser Zeit, die aus den Instrumenten einer Familie zusammengesetzt sind. Man kann die Tracks bequem an einer Hand abzählen, in denen sie sich dieser Klangsprache verschrieben hat: “Oh England, My Lionheart” – “The Infant Kiss” – “Bertie”. Darüber hinaus gibt’s ein paar Einsprengsel, die auf diese musikalische Epoche hindeuten, zum Beispiel die Bridge vor der letzten Strophe von “Hammer Horror” oder der an Countertenöre dieser Epoche erinnernde Knabengesang in “All The Love” und “Snowflake”.
Kate scheint die englische Renaissancemusik mit einer abhanden gekommenen Kindheit in Verbindung zu bringen. In “Oh England, My Lionheart” malt sie mit extrem hoher Stimme rührende, naive Bilder, man könnte durchaus sagen, aus der Sicht eines Kindes, und sie gruppiert dazu Cembalo und ein Blockflötenconsort. In “The Infant Kiss” schwingt ebenfalls – in diesmal sehr doppelbödiger Art und Weise – die Sehnsucht nach dem Kindlichen mit. Als Begleitung hört man ein Ensemble aus Gambeninstrumenten (engl.: viol1), die im England der elisabethanischen Zeit bei Komponisten wie John Dowland sehr beliebt waren.
Und sie bilden auch den musikalischen Rahmen für Kates “Kinderlied” par excellence: ihre von mütterlichen Freuden durchtränkte Hymne auf ihren damals noch kleinen Sohn Bertie. Susanna Pell und Richard Campbell bedienen hier die sonor tönenden Kniegeigen. Laut Graeme Thomson wurden die beiden Solisten bei einer Aufführung der Bachschen Matthäuspassion ausfindig gemacht.2 Hinzu tritt Eligio Quinteira, der mit seiner Renaissancegitarre den harmonischen und rhythmischen Rahmen zugleich vorgibt. Das Instrument ist ein viersaitiger Vorläufer unserer Konzertgitarre. Ich habe allerdings den Verdacht, dass Del Palmer den Sound bei der (Nach-)Produktion durch einen FIlter gejagt hat, denn Quinteiros Gitarre hat hier im Vergleich zu seinen eigenen, “naturbelassenen” Aufnahmen einen helleren, fast Cembalo-artigen Charakter. In der Bridge “(You give me joy…”), wo er in höheren Lagen spielt, wird das noch deutlicher. Robin Jeffrey komplettiert das Ensemble: Er steuert in den Refrains und am Schluss dezente Percussion bei, wie sie in der damaligen Epoche üblich war.
Die Rhythmenabfolge ist dabei interessant: “Bertie” fängt mit einem 4/4-Takt an, man könnte von einer “Allemande” sprechen, im Refrain wechselt das Metrum in einen schnellen Dreiertakt, was auf die Renaissance übertragen eine belebte “Courante” sein könnte. Kates helle, vergnügte Stimme ist zu diesem spielerischen Unterbau die ideale Ergänzung. Hier gibt’s keine verschiedenen Deutungsebenen, keine Dramen oder schauerlichen Gestalten – in “Bertie” singt eine beseelte, glückliche Mutter. Das ist meilenweit weg von der abgründigen Seite des “Infant Kiss”. Ich interpretiere das so: Die verlorene Kindheit, die Kate in “Oh, England…” und “The Infant Kiss” beschwört, kommt nun mit der nächsten Generation zurück. “Bertie” ist für mich ein unbeschwertes Kleinod, im Zentrum der ersten “Aerial”-CD eingebettet in die reichlich schwerere Kost von “π” und “Mrs. Bartolozzi”. Schade, dass es in diesem Consort-Stil (bisher?) so wenig Material von Kate gibt. Abschließende Frage: Ob dem nun fast erwachsenen Albert McIntosh das Lied peinlich ist? (Stefan)

1 http://www.earlymusicworld.com/id30.html
2 “Under The Ivy”, S. 294

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Between A Man And A Woman

Big Stripey Lie

bigstripeylie

Dieser Song ist für mich eines der größten Mysterien unter allen Liedern, die Kate Bush veröffentlich hat. Was will sie uns sagen? Über Jahre habe ich kein Wort verstanden – “Big stripey lie” strahlte für mich die Faszination eines dunklen Geheimnisses aus. Als die Idee für dieses Song-ABC aufkam, musste ich dieses Geheimnis einfach versuchen aufzulösen. Zumindest wollte ich für mich eine Idee dazu finden!
Ein Sound-Urwald, erfüllt von merkwürdigen klappernden Geräuschen, die nach vorne drängen. Die Musik ist total fremdartig, absolut dunkel, fast ohne jede Hoffnung. In diesem Dschungel ist die Protagonistin gefangen (“Oh my god it’s a jungle in here”). Die Situation muss hoffnungslos und verzweifelt sein (“All young gentle dreams drowning in life’s grief”). In dieser verzweifelten Situation nähert sich die große gestreifte Lüge, “like a wavy line”. Ist dies die Schlange aus dem Paradies, der Teufel [1]? Ist dies die Versuchung? Eine einsame, wunderbare Violinlinie setzt ein – eine süße Verlockung, eine Betäubung. Auch in anderen Songs von Kate Bush ist die Violine mit Gefahr verbunden (“Experiment IV” – Musik die vernichtet; “Violin” – die teuflische Musik, die in die Ekstase treibt). Die Protagonistin ist aus dem Paradies vertrieben – wieder nähert sich die Schlange. Die Musik wechselt auf einen neuen Akkord als Ruhepunkt – von fern schreit eine Stimme die Worte der Versuchung. Dreimal geschieht das, und jedesmal wird der Text dabei verändert. Die Zweifel verschwinden, es beginnt mit “I could be good for you”, dann heißt es “I know I could be good for you”, zum Schluss ohne Zweifel “Good for you”. Kate selbst schreit diese Zeilen aus der Ferne, kaum zu verstehen, eine innere Stimme spricht. Zu Beginn wird die große gestreifte Lüge benannt, zum Schluss ist fast wie im Halbschlaf nur noch ein halbherziges “Hmmm run away” möglich.
Die Schlange als Symbol des Bösen (groß, gestreift) wird auch im Dschungelbuch benutzt. In der Verfilmung hypnotisiert die Schlange Kaa ihre Opfer: “Trust in me, just in me. Shut your eyes and trust in me. You can sleep safe and sound. Knowing I am around”. Auch das natürlich eine Lüge.
Die Musik ist von hinkenden, schleichenden Motiven erfüllt. Auch die Musik schleicht sich an, sie setzt sich über den eigentlichen Rhythmus hinweg. Ähnliche Motive finden sich in der Musik zu Richard Wagners Rheingold bei der Schilderung des Zwergenvolks der Nibelungen. Alberich, der Anführer der Nibelungen, wird durch die Götter um den allmächtigen Ring und damit um das Paradies betrogen. Nach den Worten “Wirklich frei? So grüß euch denn meiner Freiheit erster Gruß!” verflucht er den Ring und damit die ganze Welt der Götter (vierte Szene des “Rheingold”). Bei dieser Szene z.B. werden im Hintergrund ebenfalls schleichende Rhythmen dieser Art benutzt – ähnliche Intentionen rufen ähnliche musikalische Lösungen hervor.
Ob damit das Geheimnis dieses Songs gelöst ist? Nur Kate selbst kann das wissen. Die große, gestreifte Lüge als Identifikation des Teufels in einem selbst – für mich habe ich damit einen Teil des Dunkels aufgehellt.
Achim/aHAJ)

[1] Andrew Male: Big stripey lie; Mojo 10/2014, S. 60

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Blow Away (For Bill)

Tod und Vergänglichkeit, aber auch Fortleben, darum geht es in diesem melancholischen Song. Die Anfangsakkorde nehmen die Akkorde von “Delius” auf und führen sie fort. Es geht offenbar um das gleiche Grundthema: wohin geht die Musik wenn wir sterben? Der Tod ist nicht das Ende, die Seele wandelt frei, bis sie sich zu einem neuen Leben entschließt. Die Hauptthemen des Albums “Never for ever” werden direkt angesprochen. In Interviews hat sich Kate Bush zu diesem Song recht offen geäußert. Drei “Anstöße” haben zur Komposition dieses Lieds geführt:Der erste Anstoß war ein Bericht über Nahtoderfahrungen, den Kate Bush in einer Zeitschrift gelesen hatte. “It was really brought on by something – I think it was The Observer. They did an article on all these people who when they’d had cardiac arrests had left their bodies and travelled down a corridor into a room at the end. In the room were all their dead friends that they’d known very well and they were really happy and delighted. Then they’d tell the person that they had to leave and they’d go down the corridor and drop back into their body. So many people have experienced this that there does seem to be some line in it, maybe. It’s some kind of defense hysteria, I don’t know, but they felt no fear and in fact they really enjoyed it. Most of them have no fear of dying at all. And I thought that a nice idea, what a comfort it was for musicians that worry about their music; (knowing) that they’re going to go up into that room and in there there’s going to be Jimi Hendrix, Buddy Holly, Minnie Riperton, all of them just having a great big jam in the sky, and all the musicians will join in with it.” [1]

blowaway

Die Vorstellung ist sehr anrührend und tröstlich, dass nach dem Tod die Seele des Musikers in einen Raum gelangt, in dem alle verstorbenen Musikerkollegen warten, um gemeinsam Musik zu machen. Im Song werden verschiedene Musiker aufgeführt. Buddy Holly war schon länger verstorben, die anderen erwähnten Sänger waren kurz vor der Komposition verschieden: Marc Bolan 1977, Keith Moon und Sandy Denny 1978, Sid Vicious 1979. Minnie Riperton – eine amerikanische Sängerin mit außergewöhnlich hoher Gesangsstimme – starb am 12.Juli 1979. Am 18. November 1979 spielte Kate Bush den Song live in der Royal Albert Hall beim Konzert für das London Symphony Orchestra. Dazwischen muss der Song also abgeschlossen worden sein. [2] Der Text beginnt mit “One of the band told me last night” – aber das war für Kate Bush nur ein fiktiver Einstieg in das Lied. Es handelt sich nicht um eine reale Person. “No, there isn’t such a person who actually said it, but I’m sure I know so many people that think that. I myself do feel that sometimes and it just seemed for someone in my band fictionally to open up to me, made it a much more vulnerable statement. ” [1]  Diese Personalisierung macht das ganze Lied zu etwas Intimen und erhöht damit die Wirkung auf den Zuhörer. Der zweite Anstoß war eine Frage, die Kate Bush im Kopf hatte: Wohin geht die Musik, wenn wir sterben? “Although the song had been formulating before and had to be written as a comfort to those people who are afraid of dying, there was also this idea of the music, energies in us that aren’t physical: art, the love in people. It can’t die, because where does it go? It seems really that music could carry on in radio form, radio waves… There are people who swear they can pick up symphonies from Chopin, Schubert. We’re really transient, everything to do with us is transient, except for these non-physical things that we don’t even control…” [3]  Bei dem Satz ” It seems really that music could carry on in radio form, radio waves…” musste ich spontan an das Cover des Albums “Aerial” denken, das solche Wellen darstellt. “Aerial” ist im Britischen auch die Antenne – und schon bilden sich neue Beziehungslinien beim darüber Nachdenken. Der Tod von Bill Duffield war der dritte Anstoß. Der Lichttechniker war während der Tour of Live am 2. April 1979 durch einen Unfall ums Leben gekommen. “Bill is Bill Duffield, the gentleman who died on our tour and in so many ways he made me want to write the song right from the beginning. It was such a tragedy and he was such a beautiful person that it only seemed right that there should be something on the next album for him. ” [1] “Blow away” reiht sich damit ein in die Gruppe von Bush-Songs, die Erinnerungen an Verstorbene sind. Er ist aber noch nicht so ausgefeilt und bewegend wie später “Moments of pleasure” und “A coral room”. Vielleicht hält ihn der unerbittliche Thomson daher für nicht so gelungen [2]. Er wertet ihn als originell, aber wenig ansprechend und hält ihn für ein inhaltlich etwas wackliges Konstrukt. Zu dieser Wertung beigetragen hat wohl auch die unruhige musikalische Gestaltung. In den Strophen wechselt permanent der Takt zwischen 2/4, 4/4 und 3/4 hin und her [4]. Es entsteht so ein unsteter Rhythmus, der eher an ein Erzählen erinnert statt an einen Song. Aber die Songsituation (“One of the band told me last night” …) ist ja auch eine Erzählsituation. Im Chorus werden die toten Musiker direkt angeredet, die Situation ist eine andere, hier herrscht ein geradliniger Viervierteltakt vor. Der Song ist mit fünf Kreuzen notiert [4]. Es scheint ein gis-Moll zu sein, das aber oft nur angedeutet und verschleiert ist. Gis-Moll ist “das Schmerzliche des scheidenden Lichts”, es ist die “Tonart des Scheidens vom Tageslicht, vom Lebenslicht” [5]. Im Chorus (bei “Please don’t thump me, Don’t bump me, Don’t dump me back there.”)  ist die Harmonik nach Dur gewendet, ins Licht hinein. Gis-Dur, das ist das “Licht in der Finsternis, ein tiefschwarzes Licht, das dieser Tonart vor allem den mystischen Charakter gibt” [6]. Die Charakterisierung dieser Tonart bei Beckh [6] klingt wie eine genaue Situationsbeschreibung – hier “[..] scheinen sich weite Wunderreiche der Nacht oder geheimnisvolle Reiche des Überirdischen vor uns aufzuschließen, wir sehen uns auf einmal in mystische Tiefen des eigenen Innern, des Innersten der Welt hineingeführt, ein Licht beginnt aufzuleuchten, wo wir bis dahin nur Dunkel vermuteten.”  Der Tod ist nicht das Ende, in der Tiefe gibt es ein Licht. Thematische Linien deuten sich an, die zu “The ninth wave” und weiter hinaus in die Zukunft führen. “Blow away” ist vielleicht nicht der beste Song von Kate Bush. Aber er ist ehrlich und direkt. Er enthält schon viele Elemente, die in der Zukunft zur schönsten Entfaltung kommen werden. Folgt man diesen Linien in die Zukunft, so kann man die Entwicklung von einer genialisch frühreifen Songwriterin zu einer großen Komponistin nachvollziehen.   (© Achim/aHAJ) [1] Kate Bush NfE Interview EMI (London) 1980
[2] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH., S.202f
[3] Kris Needs: “Fire in the Bush”.  ZigZag. 1980(?, Interview)
[4] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.65f
[5] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S.171 und 179
[6] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S,198f Kommentare

Breathing

Ohne Zweifel ist dies ein Höhepunkt im Schaffen von Kate Bush. Der letzte Titel des Albums „Never for ever“ beginnt mit dramatischen Akkorden. „Outside gets inside“ singt Kate Bush dazu, mit einem fast unmerklichen Beben von Angst in der Stimme. So beginnt „Breathing, das „herausragende Meisterwerk des Albums“ [1]. Graeme Thomson kann seine Begeisterung kaum zügeln. Zum ersten Mal sei Kate Bush „eine wirkliche Verbindung aus Experiment und Emotion“ gelungen, das ist für ihn „eine überwältigende Kombination“ [1]. Der Song war die erste Single-Auskopplung aus „Never for ever“ und erreichte Platz 16 in Großbritannien. Auch Kate Bush selbst war mit „ihrer kleinen Sinfonie“ zufrieden, wie sie in mehreren Interviews nach Erscheinen des Albums bestätigte: „From my own viewpoint that’s the best thing I’ve ever written. It’s the best thing I’ve ever produced. I call that my little symphony, because I think every writer, whether they admit it or not, loves the idea of writing their own symphony. The song says something real for me, whereas many of the others haven’t quite got to the level that I would like them to reach, though they’re trying to. Often it’s because the song won’t allow it, and that song allowed everything that I wanted to be done to it.“ [2] Und wirklich – der Song hat etwas symphonisches, er entwickelt seine Geschichte in klassischen Schritten, von der Einleitung hin bis zur Schlussnote. „Breathing“ ist ein emotionaler Kommentar über die ganz realen Gefahren, die von einem möglichen Nuklearschlag in unserer verwundbaren Welt ausgehen. Wie so oft bei Kate Bush kam dabei der Anstoß dazu von etwas, was sie im Fernsehen/Film gesehen hatte: „[..] in the case of Breathing, most of the information came from a documentary about a man who had been following up the negative results of nuclear products.“ [3]

breathing1

Es ist ein charakteristisches Muster bei Kate Bush, dass dann nur persönliche Betroffenheit und Berührtheit den Kompositionsprozess anregt. „Breathing“ ist daher trotz seiner Thematik kein typischer politischer Song.
„When I wrote the song, it was from such a personal viewpoint. It was just through having heard a thing for years without it ever having got through to me. ‚Til the moment it hit me, I hadn’t really been moved. Then I suddenly realised the whole devastation and disgusting arrogance of it all. Trying to destroy something that we’ve not created–the earth. The only thing we are is a breathing mechanism: everything is breathing. Without it we’re just nothing. All we’ve got is our lives, and I was worried that when people heard it they were going to think, ‚She’s exploiting commercially this terribly real thing.‘ I was very worried that people weren’t going to take me from my emotional standpoint rather than the commercial one. But they did, which is great.“ [2] Das Nuklearschlag-Thema wird nicht auf die ganze Menschheit bezogen – es wird auf eine Person heruntergebrochen und damit emotional zugänglich. Der Text gibt die Sicht eines Embryos im Mutterleib wieder, der nicht nur das Nikotin einatmen muss, das seine Mutter inhaliert, sondern in einer Welt nach dem Atomschlag auch strahlendes Material. Das ungeborene Kind hat schon einmal in einer früheren Inkarnation gelebt und weiß, wie schön die Erde war. Jetzt in dieser postapokalyptischen Welt möchte es nicht geboren werden: „It has all its senses: sight, smell, touch, taste and hearing; and it knows what is going on outside the mother’s womb. And yet it wants desperately to carry on living, as we all do, of course.“ [4] Das ist eine bedrückende Geschichte, in der sich Politik und Krieg, die schrecklichen Auswirkungen auf die Menschen und spirituelle Aspekte (Wiedergeburt) vermischen. Beim Schreiben hatte Kate Bush die Befürchtung, dass der Song zu negativ sein würde. Aber es ist Hoffnung darin – er ist eine warnende Botschaft aus der Zukunft.
„I was worried that people wouldn’t want to worry about it because it’s so real. I was also worried that it was too negative, but I do feel that there is hope in the whole thing, just for the fact that it’s a message from the future. It’s not from now, it’s from a spirit that may exist in the future, a non-existant spiritual embryo who sees all and who’s been round time and time again so they know what the world’s all about. This time they don’t want to come out, because they know they’re not going to live. It’s almost like the mother’s stomach is a big window that’s like a cinema screen, and they’re seeing all this terrible chaos.“ [2] Diese Bilder finden sich auch im Video wieder. Kate Bush schwebt in einer großen Blase, wie ein Baby im Mutterleib, dem vermeintlich sicheren Ort.Der Song schafft es, dies so in eine Form zu gießen, dass alle diese Einzelheiten und Assoziationen mitschwingen und spürbar sind. Die persönliche Betroffenheit und die gefühlten Emotionen nehmen Form an. Für mich ist „Breathing“ perfekt durchgestaltet, die Musik unterstützt alle Emotionen in beeindruckender Form. Die Strophen sind eher dramatisch, der Unterton ist bedrohlich. Die Eingangsakkorde erinnern mich an die aufwühlenden Anfänge großer klassischer Sinfonien. Verstörende Taktwechsel – 2/4, 3/4, 4/4 –  verstärken das Drama [5]. Ein d-Moll beherrscht die Harmonik, die Tonart des Grabes und des Todes [6]. Der Chorus dagegen ist eher weich, zärtlich, wiegend – voller Liebe für die Mutter, die Natur, das Leben. Hier ist auch die „Taktwelt“ mit ihrem reinen 4/4 noch in Ordnung [5]. Die Harmonik hier ist lichter –  Fis-Dur-Akkorde („die Schwellentonart [6]) und B-Dur-Akkorde (Glaube, Hoffnung [6]) hellen die Stimmung auf und trösten. Nach dem zweiten Chorus folgen die ernüchternden Erklärungen über die Bombe. In einer Überleitung erklärt eine männliche Stimme die Auswirkungen – den hellen Blitz, den Feuerball. die Pilzwolken und die verschiedenen Größen solcher Bomben. Diese Stimme ist im Hintergrund und kaum zu verstehen. Sie klingt wie eine amtliche Verlautbarung, die im Radio verkündet wird und die die Mutter nebenbei hört. Im Vordergrund geistern wabernde, tonal nicht zuzuordnende Akkordfetzen herum. Eine Sicherheit ist auch melodisch nicht mehr da. Dann fügt sich langsam wieder die Melodie des Chorus zusammen, ein zärtlicher Bass übernimmt die Kontrolle. Das ist ein tröstendes Wiegenlied in der Finsternis. Ganz allmählich aber verwandelt sich das in den dunklen Schluss. Das Wiegenlied rutscht ins Düstere ab und ändert sein Wesen – ein Totentanz. Ein hoffnungslos klingender Hintergrund-Chor singt sein Abschiedslied: „We are all going to die without!“. Leben ohne Atmen ist nicht möglich. Dieser Chor ist für mich ein Gesang der Sterbenden, der Gestorbenen, der Toten. Kate Bush selbst schreit dazu das Suchen nach Atem, nach Leben heraus, immer verzweifelter, nach Luft ringend. Aber es gibt keinen Ausweg. Die Luft entweicht (so klingt es) und mit einer dunklen, ersterbenden Schlussnote endet der Song. Ein letzter Herzschlag (Nuklearschlag?) – Tod. „Breathing“ ist „ein komplexes und intensives Stück voller Liebe, Schrecken und Vorahnung“ [1]. Ich möchte Graeme Thomson hier noch ergänzen: es ist gewalttätig und leidenschaftlich. In den Interviews von 1980 wollte Kate Bush den Song nicht als zu negativ darstellen. Aber 1982 mit etwas Abstand (und mit einem sehr viel düsteren Album im Gepäck) revidierte sie ihre Einschätzung. Einen Schimmer von Hoffnung gibt es ihrer Meinung nach nicht: „Yes and I actually think Breathing was a very violent song too, just because it was so negative. I mean, they’re a lot of just awful imagery. I mean it’s really terrible, it’s so negative, without hope at all. And yet hope people seem to treat it on quite a normal level. […] It’s more or less saying that this baby that’s being born, that is a baby that’s perhaps has had several lives before, is about to be destroyed inside it’s mother, because it’s living off it’s mother, and it’s mother will die, and it will die even before it’s sees the day of light. And I think that’s really negative!“ [7]
Für mich schießt sie hier in der Wertung über das Ziel hinaus. Die Dur-Harmonik lässt im Chorus eine Spur von Hoffnung durchscheinen. Aber in der Gesamteinschätzung hat sie natürlich Recht. Das Lied endet ohne ein Happy End, es endet in der Todestonart. Gesanglich gelingt Kate Bush ein Durchbruch auf eine andere Ebene: auf dem Höhepunkt wird der Gesang zu einem Brüllen, voller Schmerz und Leid. Das weist schon in die Zukunft (z.B. auf „Pull out the pin“). Bisher war das Publikum einen eher hohen, feenhaften Gesangsstil gewohnt, jetzt erweiterte sich spürbar die gesangliche Vielfalt.

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„Breathing“ ist eines der wenigen Lieder, zu denen Kate Bush im Detail erzählt, wie er entstanden ist und was ihn inspiriert hat. Der Song entwickelte sich gleichsam von selbst: „That track was easy to build up. Although it had to be huge, it was just speaking — saying what had to be put on it.“ [2]. Dabei kam dann ein Steinchen zum anderen, eine Assoziation folgte auf die andere und all dies gab dem Lied schließlich seine Richtung. „I wanted to write a song, and I came up with some chords which sounded to me very dramatic. Then up popped the line, „Outside get inside,“ as I was trying to piece the song together, and I thought it would be good to write a song about a baby inside the womb. Then I came to a chorus piece, and decided that the obvious word to go there was „breathing“, and I thought automatically that it had been done before. But asking around, I couldn’t understand why it hadn’t, because it’s such a good word. Then „breathing“ and the baby turned into the concept of life, and the last form of life that would be around — that would be a baby that was about to be born after the blast. It was a very personal song. I thought at the time that it was self-indulgent, and it was something I just did for myself, really. For me it’s a statement that I hope won’t happen.“ [8] Um diese Emotionalität zu erreichen, musste die Band den Background ein um das andere mal während der Aufnahmesessions wiederholen. Zuerst fehlte das Gefühl, alles klang zu perfekt und zu „rein“ – aber ohne Gefühl funktionierte es für Kate Bush nicht. Erst als die Musiker losließen, da hob der Song auf einmal ab. „I think the most exciting thing was making the backing track. The session men had their lines, they understood what the song was about, but at first there was no emotion, and that track was demanding so much emotion. It wasn’t until they actually played with feeling that the whole thing took off. When we went and listened, I wanted to cry, because of what they had put into it. It was so tender. It meant a lot to me that they had put in as much as they could, because it must get hard for session guys. They get paid by the hour, and so many people don’t want to hear the emotion. They want clear, perfect tuning, a ‚good sound‘; but often the out-of-tuneness, the uncleanliness, doesn’t matter as much as the emotional content that’s in there. I think that’s much more important than the technicalities.“ [2] Das zeichnet Kate Bush aus. Sie muss dem Klang, den sie in ihrem Kopf hört, so nahe wie möglich kommen, bis schließlich „ein geheimnisvoller, magischer Moment voller Wahrheit entsteht.“ [1] Es wird oft übersehen, dass das Erzeugen von Magie Detailarbeit erfordert und Besessenheit. Es ist ein „wieder und wieder“, bis endlich dieser Moment der Wahrheit da ist. Eine besondere Inspiration war das Album „The Wall“ von Pink Floyd. Zuerst war dieses Album ein Schock (kann danach noch etwas gesagt werden?), dann schließlich ein neuer kreativer Anschub, der sich direkt auf „Breathing“ auswirkte. „It got to the point when I heard it I thought there’s no point in writing songs any more because they’d said it all. You know, when something really gets you, it hits your creative centre and stops you creating…and after a couple of weeks I realized that he hadn’t done everything, there was lots he hadn’t done. And after that it became an inspiration. Breathing was definitely inspired by the whole vibe I got from hearing that whole album, especially the third side. There’s something about Floyd that’s pretty atomic anyway.“ [9] Kate Bush war zu „Breathing“ so offen und zugänglich wie selten. Ihre Worte erklären, wodurch dieser Song so lebendig ist. Jedes ihrer Worte spricht davon: „Breathing“ ist Herzblut und Leidenschaft. Es ist kaum möglich, sich dem zu entziehen, es geht so direkt ins Herz. (© Achim/aHAJ)
[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH, S.212-213
[2] Kris Needs: Fire in the Bush. Interview in ZigZag. 1980? (zitiert nach http://gaffa.org/reaching/i80_zz.html – gelesen 21.07.2016)
[3] Kate Bush im „Kate Bush Club Newsletter“ Ausgabe 14 (Herbst 1993).
[4] Deanne Pearson: The Me Inside. Smash Hits. Mai 1980
[5] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.67-68
[6] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.150, 102, 247.
[7] The Dreaming Interview. Von der CBAK 4011 CD (picture disk)
[8] Kate Bush im „Kate Bush Club Newsletter“ Ausgabe 6 (Juli 1980).
[9] Colin Irwin: Paranoia and Passion of the Kate Inside. Melody Maker. 04.10.1980
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Burning Bridge

Cloudbusting

Dieser Song ist der Hammer. Anders kann ich es nicht sagen. Selten gibt es solch eine makellose Einheit zwischen Text, Musik und zugrundeliegender Geschichte.

Der Song handelt von einer Beziehung zwischen Sohn und Vater, die durch äußere Kräfte bedroht und zerstört wurde. Er basiert auf dem Buch „Book of Dreams“ von Peter Reich, dem Sohn des berühmten und umstrittenen Psychoanalytikers Wilhelm Reich. Im Lauf seines Lebens driftete Wilhelm Reich immer mehr ins Esoterische ab. Eine seiner Ideen war eine Regenmaschine, der „Cloudbuster“, zu der Vater und Sohn zusammen gingen, um Regen zu machen. Wegen seiner immer obskureren Experimente mit sogenannten „Orgon-Akkumulatoren“ – Orgon ist eine von ihm postulierte spezifische biologische Energie – geriet Wilhelm Reich ins Zwielicht. Ein verfügtes gerichtliches Verbot der Verwendung dieser Geräte sowie die Verfügung, diese sowie alle seine Bücher zu vernichten, wurde von Reich nicht akzeptiert. Nachdem ein Mitarbeiter Reichs gegen das gerichtliche Verbot verstieß, Orgon-Akkumulatoren über Grenzen der US-Bundesstaaten zu transportieren, wurde Reich 1956 zu einer zweijährigen Haftstrafe wegen „Missachtung des Gerichts“ verurteilt. Reich starb während der Haft im November 1957. [1]
Ein Vater wird verhaftet und stirbt, das Kind bleibt allein zurück. „Cloudbusting“ ist ein Rückblick, eine Erinnerung, ein Traum, ein Wunschtraum. Immer wenn es regnet ist diese Erinnerung wieder da, ist der Vater wieder da im Kopf. Kate Bush fasst die Essenz des Songs in zwei Sätzen zusammen: „But it’s very much more to do with how the son does begin to cope with the whole loneliness and pain of being without his father. It is the magic moments of a relationship through a child’s eyes, but told by a sad adult.“ [2]  Kate Bush war zufällig auf das Buch gestoßen. Die Magie des Buches schlug bei ihr ein wie ein Blitz. „It must have been nearly ten years ago, when I used to go up to the Dance Center in London, that I went into Watkins‘ occult bookshop for a look, and there was this book and it said, A Book of Dreams, by Peter Reich. I’d never heard of his father, Wilhelm Reich, but I just thought it was going ‚Hello, Hello,‘ so I just picked up the book and read it and couldn’t believe that I’d just found this book on the shelf. I mean it was so inspirational, very magical, with that energy there. So when I wrote and recorded the song, although it was about nine years later, I was nevertheless psyched up by the book, the image of the boy’s father being taken away and locked up by the government just for building a machine to try to make rain. It was such a beautiful book!“ [3] Die Geschichte war wohl deshalb so faszinierend, weil sie verschiedene typische Bush-Motive bündelt. Es geht um komplizierte Beziehungen zwischen Menschen, die Geschichte enthält geheimnisvolle und mysteriöse Elemente, es gibt kein richtiges Happy-End, es endet bittersüß, es löst Bilder aus, an denen sich ein Song entlang entwickeln kann. Kate Bush erläuterte das im Detail in verschiedenen Interviews: „And it’s a very unusual, beautiful book, written by this man through the eyes of himself when he was a child, looking at his father, and the relationship between them. Very special relationship, his father meant so much to him. His father was a psychoanalyst, very respected, but he also had a machine that could make it rain, and the two of them would go out together and they would make it rain. And in the book there was such a sense of magic, that it a way the rain was almost a presence of his father. Unfortunately, its a very sad book in that the peak of it is where his father was arrested, taken away from him, because of his beliefs he’s considered a threat. And it’s how the child has to cope from that point onwards without his father. And the song is really using the rain as something the reminds the son of his father. Every time it rains instead of it being very sad and lonely, it’s a very happy moment for him, it’s like his father is with him again.“ [4]

Jeder Satz von Kate Bush spiegelt die Faszination wieder, die das Buch ausgelöst hat. Es geht um das „Wunder einer Beziehung“. „It’s a very magical sense in the book for me this sort of encaptulated the wonder of their relationship, and unfortunately the book leads up to where his father is arrested because his beliefs are considered somewhat outrageous. And to the child it’s it’s coping from then on without his father. And the song is really about that adult looking back at the magic of their relationship, how much they loved it and how for him now that his father is not there anymore that every time it rains he thinks about how they were together out there on the machine cloudbusting. And it makes him happy he’s finds a way with coping with it.“ [5] Über kaum einen ihrer Songs hat sich Kate Bush so ausführlich geäußert. Neun Jahre hat diese Geschichte in ihr gereift und auf den richtigen Moment gewartet, um als Song wiedergeboren zu werden. „Yes, but I read that so long ago and it’s just been waiting to come out for nine or ten years. The thing is, I had to wait till I was at the right point to write that song in such a way that I could do it proper justice.“  [3] Pulsierende Streicher und ein staccatoartiger Rhythmus kennzeichnen „Cloudbusting“. Die Streicher aus dem Fairlight wurden später durch reale Streicher ersetzt – wahrscheinlich, um die Wärme und Emotionalität zu betonen.  „There were very few track on this album that I wrote on the piano -Running Up That Hill, Hounds of Love, Watching You Without Me. Most of them were Fairlight based. Cloudbusting I wrote on the Fairlight and I just felt it would be much more interesting with real strings, so we transcribed the Fairlight arrangement from string players to reed. And then they redid it.“[4] Dieses rhythmische Streicherpochen klingt wie ein Herzschlag in der Dunkelheit, die Protagonistin schreckt aus einem Traum auf: „I still dream of Orgonon / I wake up crying“ (Textzitate aus [6]). Es ist ein Alptraum, da sofort alles wieder präsent ist, Verhaftung und Tod, Verlassenheit. Es fühlt sich an, als ob der Vater wieder ganz nah ist: „And you’re just in reach / When you and sleep escape me.“ Bei „You’re like my yo-yo“ im zweiten Teil der Strophe kommen Trommeln dazu und Hintergrundtöne, die wie ein stimmenloser Chor (Synthesizer?) klingen. Im Song wird der Vergleich mit einem Jo-Jo gezogen, das mit in der Dunkelheit leuchtender (radioaktiver) Farbe bestrichen ist. „You’re like my yo-yo / That glowed in the dark. / What made it special / Made it dangerous, / So I bury it / And forget.“  Zu dieser merkwürdigen und geheimnisvollen Passage gibt Kate Bush selbst eine Erklärung.
„The song is very much taking a comparison with a yo-yo that glowed in the dark and which was given to the boy by a best friend. It was really special to him; he loved it. But his father believed in things having positive and negative energy, and that fluorescent light was a very negative energy –as was the material they used to make glow-in-the-dark toys then– and his father told him he had to get rid of it, he wasn’t allowed to keep it. But the boy, rather than throwing it away, buried it in the garden, so that he would placate his father but could also go and dig it up occasionally and play with it. It’s a parallel in some ways between how much he loved the yo-yo –how special it was– and yet how dangerous it was considered to be. He loved his father (who was perhaps considered dangerous by some people); and he loved how he could bury his yo-yo and retrieve it whenever he wanted to play with it. But there’s nothing he can do about his father being taken away, he is completely helpless. “ [2] Die Protagonistin kann das vielleicht gefährliche Jo-Jo verstecken und immer wieder herausholen. Den für die Öffentlichkeit vielleicht gefährlichen Vater kann sie nicht verstecken und es gibt auch keinen Weg, ihn wieder lebendig zu machen. Nur die Erinnerung vermag das, und die wird durch Ereignisse immer wieder hervorgerufen: „But every time it rains / You’re here in my head / Like the sun coming out“. Diese Verbindung zwischen Jo-Jo und Vater ist fein ausgearbeitet und aus der Hintergrundstory abgeleitet. Wilhelm Reich begann im Januar 1951 das „Oranur-Experiment“, mit dem er erforschen wollte, ob sich mit Orgonenergie Radioaktivität neutralisieren lässt [1]. Der Chorus („Everytime it rains“ ) endet mit einer Beschwörungsformel. „Ooh, I just know that something good is going to happen / And I don’t know when / But just saying it could even make it happen.“ Wenn man eine Erinnerung an einen Toten ausspricht – kann er wieder lebendig werden? Der Song steigert sich zu einem Marsch, fast einem Trauermarsch (es gibt kein Happy-End). Ein Streichermotiv kommt dazu, welches die emotionale Stimmung verstärkt. Der Chorus wird zweimal wiederholt und beschließt den Song in einer dritten Wiederholung als intensiv ausgearbeitete Coda. Ab Mitte dieser Coda wird es immer hymnischer, eine Melodie (instrumental) schwingt sich auf wie ein sehnsuchtsvolles Lied. Diese Melodie wird zum Schluss wiederholt, der Marsch gewinnt immer mehr an Energie. Ein Chor kommt im Hintergrund dazu, ferne Stimmen, die eine hypnotische Wirkung auslösen. In der Livefassung aus den „Before the dawn“-Konzerten zieht dieser sich immer weitere steigernde Schluss das ganze Publikum hinein in einen gewaltigen Sog, das Publikum wird mitgerissen und übernimmt den Chor. Für mich ist das wie ein gemeinsames Aufsteigen in den Himmel. Der Zauber der Erinnerung triumphiert, das Tor zum Himmel und zur Vergangenheit wird weit aufgerissen. Einen passenderen Schluss für ein Livekonzert kann es kaum geben. Der fulminante Rhythmus wird am Schluss aufgenommen und dann beendet durch die Töne einer anhaltenden Lokomotive, das Lied vollzieht eine Vollbremsung. Kate Bush sagte, dass dies eine Notlösung gewesen sei – es fehlte ein guter Schluss für das Lied. „That did all fall apart over a period of about ten bars. And everything just started falling apart, ‚cause it didn’t end properly, and, you know, the drummer would stop and then the strings would just sorta start wiggling around and talking. And I felt it needed an ending, and I didn’t really know what to do. And then I thought maybe decoy tactics were the way, and we covered the whole thing over with the sound of a steam engine slowing down so that you had the sense of the journey coming to an end. And it worked, it covered up all the falling apart and actually made it sound very complete in a way. And we had terrible trouble getting a sound effect of steam train so we actually made up the sound effect out of various sounds, and Del was the steam. [Laughs] And we got a whistle on the Fairlight for the ‚poo poop.’“ [7] Zum mitreißenden Schwung trägt der strikt durchgehaltene 4/4-Takt bei, es gibt keine Taktwechsel/Brechungen im Rhythmus wie so oft sonst bei Kate Bush [6]. So ist „Cloudbusting“ geprägt durch ein fast manisches, beschwörendes Fortschreiten. Die Tonart ist ein cis-Moll, zentrale Akkorde sind der cis-Moll-Akkord und der H-Dur-Akkord, die über weite Strecken des Songs wie ein Pendel (hin und her) benutzt werden [6]. Cis-Moll symbolisiert leuchtende Schönheit und Wärme, aber alles mehr in ein Element von Schwermut und Sehnsucht getaucht. Cis-Moll eröffnet alle in unserem Herzen verborgenen Quellen der Sehnsucht, es ist die Sehnsuchtstonart schlechthin [8].  H-Dur steht gemäß Beckh [8] für Verklärung, es ist die Tonart des Hinübergehens. Ganz vereinzelt kommen andere Akkorde hinzu, so wie der fis-Moll-Akkord auf „crying“ (in „I wake up crying“), auf „coming“ (in „you could see them coming“) und auf „saying it would ever make it“ (in „Just saying it would ever make it happen“). Fis-Moll ist tiefster Abgrund, tiefste Absturzgefahr, es ist der „Abgrund des Leidens“ [8]. Allein die Akkorde erzählen schon die Geschichte.

Das Video zu „Cloudbusting“ setzt all dies perfekt um. Es ist kein Musikvideo – eher ein kleiner Film (ein Hoppsassa-Tanzfilmchen wäre auch nicht angemessen gewesen). Die Herausforderung für Kate Bush war groß – als Schauspielerin aufzutreten war für sie neu und das Darstellen eines Kindes dazu eine besonders anspruchsvolle Aufgabe.  „I think it’s something I’d obviously worried about. When you’re not a child there are lots of things that could be a problem. Like I could look old and not young. And we were also – excuse me – trying to take away the feminine edge so that in a way I could be a tomboy rather than a little girl. Trying to keep the thing as innocent as possible. And I think rather than being that worried about playing a child, I was just worried about the whole process of acting, because it’s something I’ve not really done, in a true sense. I’ve preformed in lots of ways, but not really acted. And it was something that I was wary of and I was actually surprised at how much I enjoyed it.“ [4] Es war klar, dass dies mit einem gestandenen Schauspieler als Wilhelm Reich besonders bildmächtig werden würde. Schon von Anfang an hatte Kate Bush hier Donald Sutherland im Sinn.  „The brief, really from the start, was that I wanted a great actor to play the father. I wanted it to be a piece of film rather than a video promotional clip. I wanted it to be a short piece of film that would hopefully do justice to the original book. And let people understand the story that couldn’t really be explained in the song. So we wanted a great actor. We thought of Donald Sutherland and thought „well, chances are we won’t get him, but why not try?“ So we found a contact and explained the story and sent the script to him, and he was interested in doing it. And just happened to have the days free when we were shooting. So, um, pretty incredible really!“ [4] Ein erster Kontaktversuch führte zu keinem Ergebnis, da der Schauspieler nicht an einem Videodreh interessiert war. Aber wenn sich Kate Bush etwas in den Kopf gesetzt hat, dann gibt sie nicht auf. Donald Sutherland erzählte das in einem Interview zum dreißigjährigen Jubiläum des Albums „Hounds of Love“ sehr humorvoll und mit viel Respekt und Zuneigung. “Barry Richardson, who was the hairdresser on Nic Roeg’s Don’t Look Now, asked me if I’d do a music video with Kate Bush. I told him no and we went on to other conversations. A couple of days later there was a knock on my door. I lived in the Savoy Hotel (in London). On the river. Suite 312. I loved it there. So cosseted. So private. Only the floor butler rang the door. I opened it. There was no one there. I heard a voice saying hello and I looked down. Standing down there was a very small Kate Bush. Barry had told her where I lived. What can you do? She wanted to explain what her video was about. I let her in. She sat down, said some stuff. All I heard was ‘Wilhelm Reich’. I’d taken an underground copy of his The Mass Psychology of Fascism with me when I went to film (Bernardo) Bertolucci’s Novecento in Parma. Reich’s work informed the psychological foundations of Attila Mellanchini, the character Bernardo had cast me to play. Everything about Reich echoed through me. He was there then and now he was here. Sitting across from me in the person of the very eloquent Kate Bush. Synchronicity. Perfect. She talked some more. I said OK and we made ‘Cloudbusting’. She’s wonderful, Kate Bush. Wonderful. I love that I did it. (What do I remember) about doing it? I remember being in the car and the hill and them taking me, taking Reich, away and looking back through the back window of the car and seeing her, seeing Reich’s son Peter, standing there. And I remember the first morning on set seeing her coming out of her trailer smoking a joint and I cautioned her, saying she shouldn’t smoke that, it’d affect her work, and she looked at me for a second and said she hadn’t been straight for nine years and I loved her.” [9] Regie bei Dreh des Videos führt Julian Doyle, der von Terry Gilliam empfohlen worden war.  „I’m a big fan of Terry Gilliam, I don’t know if you know him, suburb director. And I was interested in working with him and he put me in touch with Julien, who works with Terry on his movies. He’s a cameraman and this was really his first role as director. Terry was involved with the storyboard as well, and this is how I met Julian. We spent a lot of time on this video and what was nice was the way that everyone became so concerned with the story and also concerned with giving justice to it. You know everyone wanted it to be something special.“  [4] Ganz einfach war die Zusammenarbeit trotzdem nicht, da zwei detailversessene Menschen aufeinandertrafen. Terry Gilliam musste zwischendurch als Mediator eingreifen. „They had a great time shooting, but somewhere in the editing a conflict developed and I became the mediator. Kate knows exactly what she’s doing, she knows what she wants. She’s the sweetest person on the planet but she’s absolute steel inside!” [9] Das Video ist ein gelungener Kurzfilm, es nimmt die Atmosphäre der Jahre um 1955 auf und beeindruckt mit seiner Regenmaschine.  „Well the book very little details of what the actual machine looked like. But from what I could gather the reality of the machine wouldn’t look right. On screen it’s got to be exaggerated. So it was trying to design something that would look powerful and possible of doing it but that wouldn’t be comical, because we didn’t people to laugh at it, we wanted people to be astounded by the machine. So it was really designing something that was a cross between an […] gun and a pipe organ. I just felt that it had to have these huge funnels that would reach to the sky and could be moved around. And the whole thing should be rotatable. And so we worked with some designers that worked on the Alien and I think it looked pretty good.“ [4] Entworfen wurde der Cloudbuster dann von Personen, die auch am düsteren Design des Films „Alien“ mitgewirkt hatten [10], ob HP Giger selbst mitgewirkt hat ist unsicher. Diese Maschine ist ein Geheimnis, ein Mysterium, sie hat wirklich bedrohliche Aspekte. Kate Bush nahm dann Kontakt mit dem Autor der Vorlage, Peter Reich, auf. Sie war sich unsicher, ob er die Umsetzung mögen würde. „These were worrying moments for me–what if he didn’t like it? If I’d got it wrong? But he said he found them very emotional and that I’d captured the situation. This was the ultimate reward for me.“[11] Peter Reich war aber sehr angetan. “​Sometime in 1985, a package arrived with a video cassette and an autographed album,” says Peter Reich. “My wife and children, who were five and two at the time, listened, watched and were entranced. Quite magically, this British musician had tapped precisely into ​a unique and magical fulfilment of father-son devotion, emotion and understanding. They had captured it all.” [9] Auch über das Video gibt es nur anerkennende Worte. ​“Watching it for the first time, and ever since, not infrequently, the video’s emotional power is overwhelming and enduring, even after 30 years – or 60 years, for me. I did meet Kate once or twice. She gave me a very British umbrella, how very appropriate, one rainmaker to another.​” [9] Was kann sich eine Songwriterin und Komponistin mehr wünschen als Anerkennung von dem Menschen, dessen Geschichte sie erzählt hat! „Cloudbusting“ ist groß, selbst in den kleinsten Details, es ist ein Meisterwerk, kaum vergleichbar. Ich bewundere es, ich liebe es.  (© Achim/aHAJ)  
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Reich (gelesen 11.08.2017)
[2] Kate Bush: „Hounds Of Love songs“. KBC article Issue 18.
[3] Peter Swales: Interview im Musician (unedited). Herbst 1985
[4] J.J. Jackson: Interview auf MTV. Unedited. November 1985
[5] N.N: Interview in Night Flight. Unedited version. November 1985
[6] Kate Bush: Hounds of Love (Songbook). London 1985. EMI Music Publishing Ltd. S.14ff
[7]  Richard Skinner: „Classic Albums interview: Hounds Of Love“. Radio 1. Gesendet 26.01.1992
[8] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Stuttgart 1999. Verlag Urachhaus. S268 (cis-Moll), S.171ff (H-Dur), S.138 fis-Moll
[9] Alex Denney: The story behind Kate Bush’s Cloudbusting video. http://www.dazeddigital.com/music/article/27217/1/the-story-behind-kate-bush-s-cloudbusting-video (gelesen 10.08.2017)
[10] https://en.wikipedia.org/wiki/Cloudbusting (gelesen 13.08.2017)
[11] Zwort Finkle (= Kate Bush?): „Cousin Kate“ . KBC article Issue 21 (Winter 1987).

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Coffee Homeground

„Coffee Homeground“ vom Album „Lionheart“ – einer der wenigen Songs, die für das Album neu entstanden waren [1] – ist unter den Songs von Kate Bush eine Besonderheit. Ron Moy [2] sagt es vielleicht am treffendsten, indem er feststellt, dass dieser Song ein amüsantes Gothic-Flair besitzt und dass er mit fast allem im populären Musikkanon der letzten hundert Jahre wenig zu tun hat. Ron Moy ergänzt, dass dies seine Attraktivität stark erhöht. Ich stimme zu. Andere Analytiker und Hörer waren eher verwirrt und konnten den Song nicht recht einordnen. Graeme Thomson sieht in ihm ein Mischung aus Krimi und Brecht-Parodie [1]. Rob Jovanovic meint, dass er von der Musik her die Begleitung für einen Jongleur oder Hochseilartisten im Zirkus sein könnte [3]. Paul Kerton nennt ihn einen fröhlichen Energieausbruch und stellt Anklänge an Marlene Dietrich fest [4]. Ron Moy stimmt dem zu und vermeint die jüngere Schwester von Marlene Dietrich zu hören [2].

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Worum geht es in diesem Song? „Coffee Homeground“ ist aus der Sicht eines vermutlich paranoiden Mannes verfasst, der zu Besuch bei einer Frau ist, die er für eine Giftmörderin hält. Er lehnt unter Vorwänden alle möglichen Getränke ab, weil er in ihnen Gift vermutet (Bitter Almond – Bittermandel, Belladonna – Tollkirsche, Hemlock – Schierling). Er fragt sich, wo die Klempner geblieben sind, die vor kurzem dort noch arbeiteten. Er fürchtet abgehört zu werden. In Bildern an der Wand meint er den in England berüchtigten Mörder Crippen zu erkennen. Crippen ging in die Geschichte ein als erster Verbrecher, der dank Funktelegrafie gefasst wurde, als er über den Atlantik in die USA entkommen wollte [12].
Kate Bush wurde zu diesem Song inspiriert durch einen etwas merkwürdigen Taxifahrer, der offenbar unter Verfolgungswahn litt. „[Coffee Homeground] was in fact inspired directly from a cab driver that I met who was in fact a bit nutty. And it’s just a song about someone who thinks they’re being poisoned by another person, they think that there’s Belladonna in their tea and that whenever they offer them something to eat, it’s got poison in it. And it’s just a humorous aspect of paranoia […].“ [6]
Diese dunkle Geschichte von Paranoia, Mord, Gift und Intrige ist gestaltet wie eine Moritat, die in einem dunklen Hinterhof zu einer Drehorgel gespielt wird. Es gibt Passagen mit beinahe volkstümlich anmutender Blasmusik, Kate imitiert sogar einen pseudo-bayerischen Akzent, es herrscht Rummelplatzatmosphäre [4]. Der Song nimmt damit den Theaterfaden der ersten Seite des Albums wieder auf [3]. Faszinierend ist, wie die einzelnen Rollen des Songs voneinander abgesetzt werden. Angerissene, verschliffene Töne mit starkem deutschen Akzent in den Strophen, die Silben gleiten zwischen den Tönen – dies ist der männliche, paranoide Protagonist. Diese Übernahme einer andersgeschlechtlichen Rolle in der Geschichte war damals für Kate Bushs Publikum noch ungewohnt. „It would have been very difficult to make people understand I was singing as a man in that scene. That’s a problem sometimes. A lot of people don’t realise I’m a little boy in ‚Peter Pan’ and a male who a female is trying to poison in ‚Coffee Homeground‘.“ [9]
Der erste Teil des Chorus („Pictures of Crippen / Lipstick-smeared. / Torn wallpaper. / Have the walls got ears here?“) wird im Gegensatz dazu von einer hohen Stimme gesungen, ohne deutschen Akzent. Das ist offenbar die Giftmischerin. Im zweiten Teil des Chorus („Well, you won’t get me with your Belladonna–in the coffee / […] with your hemlock / On the rocks.“) kommt es zu einem Wechselsang zwischen den beiden Stimmen. Die giftigen Kredenzen („in the coffee“, „in a cup of tea“, „with your hemlock“) werden von der hohen Stimme der Giftmischerin gesungen. Da sie hier „your“ singt, scheint es sich nicht um eine reale Person zu handeln. Ist es vielleicht eine eingebildete Stimme im Kopf des Protagonisten?

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Ganz zum Schluss sind dann einige deutsche Worte in die Coda eingebettet („With your hemlock on the rocks. / Noch ein Glas, mein Liebchen? / With your hemlock on the rocks / Es schmeckt wunderbar! / With your hemlock on the rocks. / Und?“ Dies findet sich leider nicht im Booklet, sondern nur in transkribierten Texten [5].  Dies – obwohl die Perspektive der Giftmischerin – wird wieder von der tiefen Stimme gesungen. Wer singt eigentlich? Wie viele Personen sind es? Die Ebenen verschwimmen. Für mich sind das keine realen Personen, sondern Stimmen im Kopf des Protagonisten, der irgendwo in einem kleinen Café sitzt, der von einer Kellnerin seine Getränke serviert bekommt und den seine Paranoia übermannt. Homeground, das ist der „home ground“, der eigene Platz, das vertraute Gelände – aber es fühlt sich nicht sicher an.
Die Tonart des Songs ist ein Ges-Dur und damit mit fünf b ganz weit weg von klaren, nüchternen Tonarten mit wenigen Vorzeichen [7]. Es gibt viele chromatische Abtönungen, die es noch romantisch-märchenhafter machen. Insbesondere im Chorus („Pictures of Crippen / Lipstick-smeared. / Torn wallpaper. / Have the walls got ears here?“) ist die Chromatik extrem [7], was sehr viel zum Spannungsaufbau und zur paranoiden Atmosphäre beiträgt. Ges-Dur ist nach Beckh [8] die Schwellentonart, der „Übergang, der über die Schwelle führt, die Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Tagesansicht und Nachtansicht der Welt, Sinnenwelt und geistige Welt voneinander trennt.“ Die Tonart spiegelt die Stimmung des Songs wieder, setzt sie um.
Der Song war einer derer, bei denen Text und Musik zugleich entstanden, wie Kate Bush in einem Interview sagte. „Well, Coffee Homeground would have been a song where the words and the music were coming together probably at exactly the same time. Actually, that’s the only song which I wrote when I visited America […]. Which is quite interesting, as it’s not at all American…“ [11] Im gleichen Interview wies ihr Bruder Paddy auf Bertold Brecht als Inspiration hin. Bertolt Brecht war zwar kein Komponist, aber Librettist. Eine Verwandtschaft des Songs zur von Kurt Weill vertonten „Dreigroschenoper“ mit Liedern wie der „Moritat von Mackie Messer“ ist auch zweifellos erkennbar [10]. Paddy Bush erläuterte, dass dieses Brecht-Flair entstand, als Kate Bush die Idee mit dem deutschen Akzent hatte. „As a matter of fact, Coffee Homeground vibrantly mutated. When the very first demos of it were done, it had a decidedly different flavour. The Brechtian treatment didn’t appear until much later on, that only took shape when Kate got the idea of treating the song with a slightly German sort of flavour.“ [11]
Je weiter der Aufnahmeprozess fortschritt, desto mehr verstärkte sich dies noch gemäß Paddy Bush. „The Brechtian feel is something that appeared only gradually, during the actual recording, and became more definite as time went on.“ [11] All dies hat dazu geführt, dass „Coffee Homeground“ ein außergewöhnlicher und origineller Song geworden ist. Er erinnert wunderbar an vergangene Zeiten der Zwanziger und an die Moritaten von Weill und Brecht. Perfekt wird dies insbesondere im Chorus mit zeitgenössisch anmutenden Vokallinien verknüpft. Der Song bildet eine Brücke zwischen den Zeiten, er verbindet und verschmilzt die paranoiden Details der Geschichte zu einer außergewöhnlichen und liebevollen Einheit. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.142 und 153
[2] Ron Moy: Kate Bush and Hounds of Love. Aldershot. Ashgate Publishing Limited. 2007. S.22
[3] Rob Jovanovic: Kate Bush. Die Biographie. Höfen. Koch International GmbH/Hannibal. 2006. S.95
[4] Paul Kerton: Kate Bush. Bergisch-Gladbach. Gustav Lübbe Verlag GmbH. 1981. S.91
[5] https://www.songtexte.com/songtext/kate-bush/coffee-homeground-7bd3fecc.html (gelesen 02.05.2019)
[6] Lionheart Promo Cassette. EMI Canada
[7] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.72f
[8] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.102
[9] Phil Sutcliffe: „Labushka“. Sounds 30.08.1980
[10] https://prlbr.de/2017/kate/coffee-homeground/ (gelesen 15.05.2019)
[11] http://gaffa.org/reaching/i85_swa.html (gelesen 15.05.2019)
[12] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Hawley_Crippen (gelesen 04.05.2019)

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Constellation Of The Heart

Manche Lieder haben es etwas schwer. „Constellation of the heart“ erschien 1993 auf dem Album „The red Shoes“, der Song wurde wenig beachtet, auch bei den Fans bekam er keine besondere Aufmerksamkeit. Wenn ein Kommentator überhaupt näher auf diesen Song einging, dann negativ. Ein typisches Beispiel ist Rob Jovanovic in seiner Biographie: „[Der Song] war der zweite Song auf der Platte, der ein wenig so klang, als ob Prince ihn verfasst hatte – obwohl der damit wieder nichts zu tun hatte. Falls Kate damit versuchen wollte, die amerikanische Funkszene zu erobern, war das gründlich danebengegangen – falls nicht, dann auch.“ [1]. Wie so oft bei Jovanovic wird eigentlich nicht auf den Song eingegangen. Er legt ein unterstelltes Zielszenario zugrunde und misst den Song dann an dieser von ihm aufgestellten These. In einem Punkt muss ich Jovanovic aber Recht geben. Man kann diesen Titel als eine Art Verbeugung vor dem Stil von Prince verstehen. Der Titel des Songs ist vielleicht sogar auch von Prince inspiriert. Es gibt einen Prince-Song „Condition of the heart“ auf dem Album „Around the world in a day“ von 1985 [2] und diese Ähnlichkeit im Titel ist doch auffallend.

Sind diese eher negativen Einschätzungen berechtigt? Für mich beruhen sie auf einem etwas oberflächlichen und flüchtigen Blick. Das Album „The red Shoes“ ist ein von Selbstzweifeln und Verlustgedanken durchzogenes Werk. Viele der Lieder kreisen um die Angst vor Veränderungen und der Zukunft. „Constellation of the heart“ klingt eher fröhlich-funkig, finden sich die dunklen Grundströmungen des Albums da wieder? Was will uns dieser Song im Kontext des Albums sagen? Fangen wir mit dem Inhalt (nach [3]) an. In der Geschichte geht es offenbar um eine Raumfahrt zu fremden Welten. Der Bordcomputer (meine Interpretation!) hat seine Aufmerksamkeit weg vom Himmel nach innen gewandt, weil dort und nicht im Himmel das zu lösende Problem festgestellt wurde („We take all the telescopes / And we turn them inside out / And we point them away from the big sky“). Der Captain (gesungen von Kate Bush) liegt offenbar im Schlaf (vielleicht eingefroren, auf langen Weltraumreisen wäre das eine Methode, die Strecken zu überstehen) und wird vom Bordcomputer geweckt: „Well we think you’d better wake up captain / There’s something happening up ahead / We’ve never seen anything like it“. Der Captain verlangt nach mehr Informationen, ohne will er sich dem Problem nicht stellen. Aber es gibt keine weiteren Informationen, er muss handeln. Diese zentrale Strophe ist ein virtuoser Zwiegesang zwischen Bordcomputer und Captain. Der Captain wird gezwungen, sich mit der „Bedrohung“ zu befassen („What am I supposed to do about it? / We don’t know, but you can’t run away from it / Maybe you’d better face it“). Graeme Thomson ist von der Komplexität dieses Zwiegesangs ganz angetan. „[Er] besticht durch Gesangsstimmen in kaum je dagewesener Verflechtung, ein Labyrinth aus syntaktisch verschränkten Frage-und-Antwort-Spielen zwischen Kate Bush, Paddy und Colin Lloyd Tucker“. [4]. Die Zeiten sind nicht mehr so unbeschwert wie früher. Der folgende Satz bringt die Situation auf den Punkt: „She can’t run away, like in HOL, she has to stand and face it […].“ [10]. Der Captain hat Angst, dass dieser Blick ins Innere etwas ist, das schmerzen wird: „What am I gonna do? / It is gonna hurt, it is gonna hurt me bad?“ Der Bordcomputer versucht, die Angst zu nehmen. „Who said anything about it hurting? / It’s gonna be beautiful / It’s gonna be wonderful / It’s gonna be paradise“. Der Captain nimmt das an, wendet sich der Situation (dem Leben?) mit allen seinen Ängsten und Zweifeln zu, es ist eine Art Weg zum Himmel. Per aspera ad astra – über raue Pfade gelangt man zu den Sternen. „Constellation of the heart“  ist ein für Kate Bush typischer Song mit wechselnden Perspektiven. Die Strophen des Bordcomputers werden von einem Chor aus Männer- und Frauenstimmen gesungen („We take all the telescopes“ usw.), der Captain wird von Kate Bush verkörpert. Den Refrain „The constellation of the heart“ singt ebenfalls Kate Bush, in einem sehr zärtlichen Tonfall.  Es ist unklar, ob sie hier in ihrer Rolle als Captain spricht. Für mich singt sie hier selbst und kommentiert damit den Zwiegesang zwischen Bordcomputer und Captain. Dies ist etwas, was Kate Bush betrifft, sie singt es, es ist ihr Herz, ihr Inneres. Das Wechselspiel zwischen den zwei Perspektiven erlaubt es Kate Bush, eine existentielle Fragestellung kurz und knapp zu beleuchten. Eine Sicht ist dazu da, um die Situation voranzutreiben und die entscheidenen Fragen zu stellen. Die zweite Sicht wird dazu genutzt, die Antworten zu finden. Hier übergibt uns Kate Bush ihre Schlussfolgerungen als Rat. Musikalisch sind die Ebenen nicht sehr herausgearbeitet bzw. voneinander abgesetzt. Es geht im gleichen Rhythmus und der gleichen Stimmung weiter. Der Song erscheint daher auf den ersten (zweiten) Blick eintönig und konventionell – und das kann man ihm durchaus zum Vorwurf machen. Im Text gibt es klare Verweise auf andere Songs. Es wird zurückgeschaut auf „The big sky“ vom Album „Hounds of love“: „We take all the telescopes / And we turn them inside out / And we point them away from the big sky“. Wir sind acht Jahre später, die Zeit der Unbeschwertheit ist vorbei. Der Blickwinkel wandelt sich. Statt verträumt nach außen zu schauen geht der Blick nun nach innen.

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„The lyric describes telescopes being turned inside out and pointed towards the heart, “away from the big sky“, which is a direct reference to the track The Big Sky and seemingly a disavowal of old subjects.“ [11] „Just being alive, it can really hurt“ – diese Zeile ist eine zentrale Aussage aus dem Song „Moments of pleasure“ vom selben Album – ein Song über den Verlust, dem man im Leben nicht ausweichen kann. Bei solchen Verweisen überlege ich, ob für Kate Bush ihr ganzes Werk ein zusammenhängendes Kontinuum ist. Lieder stehen nicht einzeln, sie greifen Themen auf, die das Leben von Kate Bush bestimmen, sie kommentieren sich untereinander. Es gibt keine Aussagen von Kate Bush dazu, ob der Song von einer literarischen Quelle angeregt wurde. In einem britischen Forum wurde die Vermutung geäußert, dass der Roman „The black corridor“ von Michael Moorcock eine Inspiration gewesen sein könnte [10]. „It is about a journey through space where eveyone is in suspended animation for the trip when the captain is awoken by the ship’s computer. He deals with the crisis and decides to stay awake for the rest of the trip. Gradually he begins to lose his mind. Check the book out and you’ll see the connections, particularly the first page.“ Vielleicht ist der Song aber auch vom SF-Klassiker „2001“ beeinflusst. Auch hier wird eine Crew von Astronauten im Kälteschlaf durch das All befördert, der Captain sieht sich mit großen Problemen konfrontiert, die durch den wahnsinnig gewordenen Bordcomputer hervorgerufen wurden. Dieser Film endet ebenso wie der Song in einer Art Paradies/Himmel- Die bei Kate Bush oft „sprechende“ Tonart ist schwer festzulegen. Notiert ist das in einem e-Moll, aber die Tonart ist verschleiert, es taucht auch der E-Dur-Akkord auf [3]. Die Strophen werden von einem stereotyp wiederholten Akkordablauf über zwei Takte bestimmt: Em7 – Hm7 – Hm7/D  – E7sus4 [3]. Abweichungen gibt es im Refrain zum Text „Constellation of the heart“: Esus4 – Dsus4 – Asus4 – Am – G – Em jeweils über vier Takte. Das ist noch unklarer in der Tonalität, es ist vielleicht ein A-Dur, dass dann wieder in das e-Moll hinübergleitet [3]. In der Coda ertönt dann das „The constellation of the heart“ zur ersten Akkordfolge. Das Sternbild des Herzens ist sozusagen bei der Protagonistin angekommen [3]. Die Deutung der Tonarten ergibt keine eindeutigen Hinweise für eine Interpretation, was für Songs von Kate Bush eher ungewöhnlich ist. Der Tonart e-Moll ist vor allem der Ausdruck der Klage eigen. Sie hat aber noch eine andere Seite, die sich bis zum Ausdruck des Erhabenen steigern kann [5]. A-Dur, das sind „die lichten Höhen“. Charakteristisch ist der dieser Tonart innewohnende Niederstieg von den Höhen des Überirdischen zu den Tiefen des Irdischen [5]. Der Abstieg in die Klage des e-Moll geschieht am Ende des Refrains. Vielleicht geben diese nur angedeuteten Tonarten einfach dieses diffuse Gefühl des Unbehagens wieder, das mit schwierigen und emotional belastenden Situationen verbunden ist. Ich habe geschrieben, dass der Song in einer Art Paradies/Himmel endet. Das kommt direkt im Text vor: „It’s gonna be beautiful / It’s gonna be wonderful / It’s gonna be paradise“. Es gibt aber weitere direkte Symbole, die sich auf den Himmel oder eine andere Welt beziehen. Es findet sich die Zeile „Ooh find me the man with the ladder […] And he might lift me up to the stars“. Diese Leiter zu den Sternen könnte die Jakobsleiter sein. „Die Jakobsleiter oder Himmelsleiter ist ein Auf- und Abstieg zwischen Erde und Himmel, den Jakob laut der biblischen Erzählung in Gen 28,11 während seiner Flucht vor Esau von Be’er Scheva nach Harran in einer Traumvision erblickt. Sie stand auf der Erde und ihre Spitze reichte in den Himmel.“ [6]. Eine weitere geheimnisvolle Gestalt wird erwähnt: „Ooh and if you see the woman with the key […] I hear she’s opening up the doors to Heaven“. Es gibt eine keltische Göttin Epona. „Epona war […] eine Fruchtbarkeitsgöttin. Als solche entspricht sie der Großen Göttin. Epona wurde in ganz Europa verehrt. […] Ein Schlüssel in der Hand steht symbolisch für ihre Fähigkeit, das Tor zur Anderwelt zu öffnen.“ [7]. Hier musste ich auch spontan an Kate Bush selbst denken, an das Cover zu „The dreaming“ (sie gibt einem Schlüssel mit einem Kuss weiter) und die dazugehörende Textzeile aus „Houdini“: „With a kiss I’d pass the key“. Auch die letzte mystische Gestalt hat einen Bezug zum Himmel: „Oh, and here comes the man with the stick […] He said he’d fish me out of the moon“. Dieser Stab ist ein altes Gottessymbol. „Im Alten Ägypten war der Krummstab das Herrschaftszeichen verschiedener Könige […] und Gottheiten […]. Er symbolisierte zugleich die Wiedergeburt und Regeneration. Im altägyptischen Totenbuch gehörte der Krumm- beziehungsweise Hirtenstab zum Ausrüstungsgegenstand von Osiris in seiner Funktion als Richter über die Toten. Mit dem Hirtenstab besaß Osiris die Macht, über den Eintritt in das Jenseits zu entscheiden und der Ba-Seele zur täglichen Wiedergeburt zu verhelfen.“ [8] Der Song ist vielschichtiger, als er auf den flüchtigen Blick erscheint. Er handelt – verkleidet in eine ScienceFiction-Geschichte – von existenziellen Dingen. Wir müssen uns dem Leben stellen. Dass was wichtig ist, das findet sich in uns. Wir können eine Reise zu den Sternen machen, aber da sind unsere Probleme nicht. Wir können wegschauen, aber das ist nicht das, was das Leben von uns verlangt. „Without the pain, there’d be no learning / Without the hurting, we’d never change.“ Finde Dein Herz – das ist die Botschaft. Stelle Dich Deinem Leben. Musikalisch kann man den Song gut so charakterisieren: „[…] Constellation Of The Heart is a happy experiment with disco-funk.“ [9]. Über das „happy“ ließe sich streiten, für mich ist das – wenn überhaupt vorhanden – ein vorgetäuschtes Gefühl. Experiment mit Disco-Funk trifft es aber ganz gut, Hommage an Prince wäre noch passender. Vielleicht hätte Kate Bush die Inhalte in einer anderen Lebenssituation präziser herausgearbeitet. Hier versteckt sich die Botschaft doch hinter dem etwas gleichförmigen musikalischen Gewand. Ron Moy sagt es ganz prägnant: „In short, the track itself lacks its own clear identity.“ [2]. Das beste Schlusswort findet sich aber in dem britischen Forum: „I know many of you don’t like this song, but it’s probably the most direct way she has explained a way to a more positive and healthy soul.“ [10]. Der Song ist vielleicht nicht Kate Bushs bestes Werk, es ist aber ein zutiefst ehrliches. © Achim/aHAJ
[1] Rob Jovanovic: Kate Bush. Die Biographie. Höfen. Koch International GmbH/Hannibal. 2006. S.183
[2] Ron Moy: Kate Bush and Hounds of Love. Aldershot. Ashgate Publishing Limited. 2007. S.119f
[3] Kate Bush: The red shoes (Songbook). Woodford Green. International Music publications Limited. 1994. S.7ff
[4] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.318 [5] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.218 (e-Moll) und S.139f (A-Dur)
[6] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Jakobsleiter_(Bibel) (gelesen 12.04.2019)
[7] http://www.zadik-lamas.de/txt_Goetter.htm (gelesen 12.04.2019)
[8] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Krummstab (gelesen 12.04.2019)
[9] N.N.: „Booze, Fags, Blokes And Me“. Q, 12/1993
[10] http://katebush.proboards.com/thread/1750/constellation-heart (gelesen 10.03.2019) [11] https://www.katebushencyclopedia.com/constellation-of-the-heart (gelesen 11.03.2019)

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December Will Be Magic Again

december

Kate Bush und eine Weihnachtssingle – geht das? Das passt vom Gefühl her so gut zusammen wie Feuer und Stein. Und wirklich – dieser Song ist etwas Besonderes. Elemente kommen hier zusammen, die sich fremd sind. Entstanden ist eine wirklich originelle Mischung und damit eine Weihnachtssingle der besonderen Art.
Zuerst fällt die wirklich extreme musikalische Gestaltung auf. Zuckersüße Chöre mit DooDooDoo-Gesang und weihnachtliches Glöckchengeklingel treffen auf den Gesang von Kate Bush, der lang ausgehaltene Töne mit vielen kurzen Noten mischt, der außerordentliche Tonsprünge von über einer Oktave beinhaltet (z.B. in “December” gleich am Anfang und in der Phrase “see how I fall”). Die Klangfärbung der Silben im Gesang ist sehr variabel, teilweise euphorisch. Wann hat man “snow” schon einmal mit einer solchen Begeisterung gehört? Die Musik ist extravagant und für mich eine ironische Überhöhung von weihnachtlichen Elementen.
Der Text gibt Rätsel auf. Ausgiebig werden Stereotypen der Weihnachtszeit zitiert (Bing Crosby, White Christmas, Old Saint Nicholas up the chimney), aber dies ist in einen geheimnisvollen Kontext eingebettet. Die Erzählerin schwebt offenbar mit dem Fallschirm aus dem Himmel herab so wie der Schnee. Und was besagt die Erwähnung des Schriftstellers Oscar Wilde?
Bei Graeme Thomson findet sich der kurze Hinweis, dass der Song inspiriert sei vom Märchen “Der glückliche Prinz” von Oscar Wilde [1]. In Wikipedia [2] findet sich eine Zusammenfassung dieses in England sehr populären Märchens.
Hoch über einer Stadt steht auf einer Säule die Statue des glücklichen Prinzen. Sie ist mit Gold und Edelsteinen geschmückt. Zu seinen Lebzeiten wurde der glückliche Prinz von allen Menschen bewundert, da er immer fröhlich war. Als Statue bemerkt er nun das Elend der Stadt. Als sich eine Schwalbe auf ihrem Weg nach Ägypten zu Füßen des Prinzen niederlässt, um zu schlafen, erzählt der Prinz von dem ganzen Elend, das er sieht. Er bittet die Schwalbe zu helfen und die Edelsteine und das ganze Gold von seiner Statue unter die Armen zu verteilen. Dies tut sie nach kurzem Widerspruch auch und über die nächsten Tage verteilt sie alles. In der Zwischenzeit ist es Winter geworden, die Schwalbe erfriert und die Statue des Prinzen ist nun so unansehnlich, dass sie abgerissen und eingeschmolzen wird. Doch das Herz des Prinzen schmilzt nicht im Ofen und wird auf den Abfall geworfen, wo schon die tote Schwalbe liegt. Als Gott einen Engel bittet, ihm die beiden wertvollsten Dinge zu holen, die es in der Stadt gibt, bringt dieser ihm das bleierne Herz und den toten Vogel. Gott will die beiden in seinem Garten haben – die Schwalbe soll singen und der glückliche Prinz Gott preisen.
Elemente aus diesem Märchen finden sich im Text des Songs wieder. Es gibt den Schnee, der die Liebenden (Schwalbe und Prinz) zudeckt: “Come to cover the lovers”. Es gibt den Schnee, der die auf den Müll Geworfenen zudeckt: “Come to cover the muck up”. Ist die Erzählerin der Engel, der im Schnee dieses Winters herabkommt, um Schwalbe und Prinz ins Paradies zu tragen? Vielleicht ist dies in der Nähe dessen, was dieses Weihnachtslied uns sagen will. Der Schnee ist kalt und tötet, aber er ist auch wunderbar. Denn der Dezember und der Winter sind die Zeit der Wiedergeburt, die Zeit der Engel. Und schon sind wir viele Jahre in der Zukunft, in der es fünfzig Worte für Schnee geben wird.
Der Song wurde im November 1979 aufgenommen und sollte zu Weihnachten erscheinen. Er wurde aber nicht rechtzeitig fertig (bzw. er war der Plattenfirma zu ungewöhnlich) und wurde daher erst ein Jahr später veröffentlicht [3]. Er ist also vor oder zeitgleich zu den ersten Ideen von “Never for ever” entstanden und die Welt dieses Albums ist beim Hören ständig präsent. Im Märchen erzählt die Schwalbe dem Prinzen von den Wundern Ägyptens – erinnert das nicht an “Egypt”? Für mich hätte das Lied einen guten Platz auf dem Album verdient gehabt, aber die Thematik war vielleicht selbst für Kate zu speziell und dezembergebunden. Seine verquere Originalität hat auf jeden Fall mehr Aufmerksamkeit verdient. Ich nutze es gern als Gegenmittel, wenn ich Lieder wie “Last Christmas” über habe und eine gehörige Portion “vergiftete Süßlichkeit” gebrauchen kann.
Achim/aHAJ)

[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.20
[2] http://de.m.wikipedia.org/wiki/Der_glückliche_Prinz
[3] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.107

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Deeper Understanding

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„Deeper Understanding“ ist eines meiner Lieblingslieder. Ich bin bei jedem Wiederhören vom Inhalt und der musikalischen Gestaltung fasziniert. Es ist ein sehr eindringliches und melancholisches Lied über die Wechselbeziehung von Mensch und Computer. Dies war für die Entstehungszeit – 1989 – sehr prophetisch, wenn man bedenkt, dass sich das Internet erst ab dieser Zeit verbreitete. In meiner Analyse beziehe ich mich hauptsächlich auf diese Fassung (Unterschiede zur Fassung von „Director’s Cut“ aus dem Jahr 2011 betrachte ich zum Schluss).
Die bekanntesten Interpretationen des Liedes in der Fassung von 1989 lassen wichtige Aspekte aus. Sie gehen nach meinem Empfinden von der Jetztzeit aus, in der Computersucht ein überall diskutiertes Thema ist und beschränken sich zu sehr auf diese Thematik. Graeme Thomson [1] z.B. meint, es geht in diesem Song um die Besessenheit vom Computer und das Lied zeige, wie dies „Gemeinschaften und Familien unterminieren kann, so dass die Protagonistin völlig isoliert ist und schließlich bei der Maschine Trost und Interaktion sucht.“ Die ersten Zeilen des Songs [2] legen das auch nahe („As the people here grow colder / I turn to my computer / And spend my evenings with it / Like a friend“) und wenn man hier mit dem tieferen Nachdenken aufhört, dann ist diese Schlussfolgerung naheliegend.
Es ist aber eher umgekehrt: Nicht der Computer führt in die Einsamkeit, Einsamkeit treibt zum Computer – und dort findet sich etwas ganz Unerwartetes. Es gibt von Kate Bush klare Aussagen, wie sie das Lied gemeint hat.
„This is about people… well, about the modern situation, where more and more people are having less contact with human beings. We spend all day with machines; all night with machines.  You know, all day, you’re on the phone, all night you’re watching telly. […] It’s like this long chain of machines that actually stop you going out into the world. It’s like more and more humans are becoming isolated and contained in their homes. And this is the idea of someone who spends all their time with their computer and, like a lot of people, they spend an obsessive amount of time with their computer. People really build up heavy relationships with their computers!“ [3]
Das Hauptthema ist also nicht das „Unterminieren von Gemeinschaften und Familien“ [1]. Es geht darum, dass wir so eng und intensiv mit Computern interagieren, dass wir eine intime Beziehung zu ihnen aufbauen. Es geht um Vereinsamung, Kommunikation und Errettung. Die Protagonistin hat nur die BlackBox ihres Computers zum Freund [4]. Graeme Thomson meint zutreffend, es sei „gleichzeitig seltsam berührend, wie sie sich in ihrem trüben und einsamen Leben nach emotionaler Zuwendung sehnt“ [1]. Der Song ist wohl nicht direkt autobiographisch, „aber einige der hier dargestellten Empfindungen kannte sie vielleicht aus eigener Erfahrung, spätestens aus der Zeit, in der sie, begleitet allein vom Fairlight CMI, an den schwierigen Passagen dieser Platte gearbeitet hatte“ [4].
„And this person sees an ad in a magazine for a new program: a special program that’s for lonely people, lost people. So this buff sends off for it, gets it, puts it in their computer and then like <pyoong!>, it turns into this big voice that’s saying to them, „Look, I know that you’re not very happy, and I can offer you love: I’m her to love you. I love you!“ And it’s the idea of a divine energy coming through the least expected thing“ [3].
Zur steinernen, trostlosen, leeren Welt kommt das Leben dazu, das Weben der Natur. Das Angesicht Gottes wird gesehen durch das unerwartetste Medium. Eine sich hinter dem Computer verbergende Wesenheit bekommt eine Stimme – es sind in der Fassung von 1989 die unirdischen Stimmen des Trio Bulgarka [1]. Der Song war fast schon komplett, als die Arbeit mit dem Trio Bulgarka begann [4]. Absicht war, dass die Musik hier fast nach Engelsstimmen klingt, sehr ätherisch und tiefreligiös und gar nicht mechanisch. Die Musik des Trios hat etwas Uraltes und Tiefgründiges [4]. Das verleiht „diesem Song über Entfremdung eine spirituelle, übersinnliche Dimension“ [1]. „When I was working on Deeper Understanding, the idea was that the verses were the person and the choruses were the computer talking to the person. I wanted this sound that would almost be like the voice of angels: something very ethereal, something deeply religious, rather than a mechanical thing. And we went through so many different processes, trying vocoders, lots of ways of affecting the voice, and eventually it led to the Trio Bulgarka“ [5]. Die Zusammenarbeit mit dem Trio muss sehr spannend gewesen sein. Kate und das Trio hatten keine gemeinsame sprachliche Basis und Kate Bush hatte keinen Anhaltspunkt, was sie eigentlich sangen. Das Trio wurde laut Graeme Thomson gebeten, das Gefühl der Verzweiflung zu vermitteln, denn das „fügt sich perfekt in einen Song, in dem Mensch und Maschine sich zwar nicht verstehen, aber dennoch auf anderer Ebene zueinanderfinden, was, bei aller Unwahrscheinlichkeit, auf eine gewisse Art trostreich sein mag“ [1]. Dies ist für mich ein weiteres Indiz, dass Thomson diesen Song missversteht. Zu diesem „Gefühl der Verzweiflung“ findet sich nirgendwo etwas in den Interviews – es passt auch nicht zu Kates Aussagen. Ich persönlich höre hier auch beim besten Willen nichts von Verzweiflung (ich tue mich aber schwer, das vermittelte Gefühl zu beschreiben – Spiritualität?). Ich meine eher, dass hier zwei Wesen mit unterschiedlicher Sprache aufeinandertreffen. Ein Außenstehender kann nicht verstehen, was hier passiert und auf welche Weise das passiert. Da ist eine Art von göttlicher Magie im Spiel und dazu passen diese Stimmen ganz genau.
„For me, when I think of computers, it’s such a cold contact and yet, at the same time, I really believe that computers could be a tremendous way for us to look at ourselves in a very spiritual way because I think computers could teach us more about ourselves than we’ve been able to look at, so far. I think there’s a large part of us that is like a computer. I think in some ways, there’s a lot of natural processes that are like programs… do you know what I mean? And I think that, more and more, the more we get into computers and science like that, the more we’re going to open up our spirituality“ [3].
Für Kate Bush geht es in „Deeper Understanding“ um ein tieferes und besseres Verstehen. Die Verbindung mit dem Computer öffnet unseren Geist, unser Verständnis. „And it was the idea of this that this… the last place you would expect to find love, you know, real love, is from a computer and, you know, this is almost like the voice of angels speaking to this person, saying they’ve come to save them: „Look, we’re here, we love you, we’re here to love you!“ And it’s just too much, really, because this is just a mere human being and they’re being sucked into the machine and they have to be rescued from it. And all they want is that, because this is ‚real‘ contact“ [3].
Wie so oft in den Songs von Kate Bush fallen helle und dunkle Themen zusammen und lassen sich nicht trennen. Dieser Kontakt mit etwas Überirdischem überlastet den normalen menschlichen Verstand. „But it’s so intense it’s too much for them to take, and they actually have to be rescued from just being killed with love, I suppose“ [6].
Die Inspiration kam wie so oft bei Kate Bush aus Fernsehen oder Film: „I suppose one inspiration was a program I saw last year about a scientist called Stephen Hawking who for years had been studying the universe, and his concepts are like the closest we’ve ever come to understanding the answer. But unfortunately he has a wasting-away disease, and the only way he can talk is through voice process. It was one of the most moving things I’ve ever heard. He was so close to the answers to everything, and yet his body was going on him — in some ways it was the closest I’d ever come to hearing God speak! The things he was saying were so spiritual, it was like he’d gone straight through science and come out the other end. It was like he’d gone beyond words, and I do think that there is this possibility with computers that we really could learn about ourselves on levels that could take us into much deeper areas“ [7].
Der Astrophysiker Stephen Hawking kann sich nur durch eine Sprachkonsole verständigen. Weisheit spricht durch einen Computer. Alle Aussagen von Kate Bush sprechen dafür, dass es nicht um die Vereinsamung von Menschen durch den Kontakt mit Computern geht. Es geht darum, dass Personen auf eine ganz unerwartete Weise und durch nicht erwartete Kanäle Kontakt mit dem Göttlichen bekommen können. Dabei bewegt sich das Lied auf einem schmalen Grad. Vereinsamung und Computersucht auf der einen Seite und göttliche Inspiration auf der anderen Seite – beides spielt hinein, in beide Richtungen kann der Song interpretiert werden. Für mich überwiegt in der Fassung 1989 die spirituelle Seite, weil sich die Komponistin ganz klar in diese Richtung geäußert hat.
Die musikalische Gestaltung unterstützt dies alles perfekt und einfühlsam. Die erste Strophe beschreibt die Situation der Protagonistin. Der Computer wird als Freund in einer einsamen Welt gesehen. „As the people here grow colder / I turn to my computer / And spend my evenings with it / Like a friend“. In diese Vereinsamung und Abkapselung bricht die Verheißung des Computermagazins hinein: „Are you lonely are you lost / This voice console is a must.“. Dazu ist leise so etwas wie ein düsterer Chor zu hören, es klingt wie ein bedrohliches Rauschen. Soll dies andeuten, dass es im Hintergrund der Welt etwas Anderes geben könnte, etwas Geheimnisvolles?
Nach dem „Execute“ kommen die „bleeps“ eines typischen Einwahltons. Danach wechselt die Perspektive von der Protagonistin (in der Strophe, gesungen von Kate Kate Bush) zur Sprachkonsole (im Chorus, ebenfalls gesungen von Kate Bush) [2]. Der Grundrhythmus aus der Strophe zieht sich weiter, er wird aber ruhiger und tänzerischer. Ein Hauch von Leben kehrt in die starre Welt ein. Zur Stimme im Chorus kommt im Hintergrund der Gesang des Trio Bulgarka dazu, wie ein fernes Echo. Die Sprachkonsole klingt menschlich, aber unwirklich, wie ein Chor von Stimmen. „Hello, I know that you’ve been feeling tired. / I bring you love and deeper understanding. / Hello, I know that you’re unhappy. / I bring you love and deeper understanding.“  Zu dieser Botschaft der Sprachkonsole bilden die Stimmen des Trios mit ihrem unverständlichen Text einen geheimnisvollen Hintergrund; das sind die Stimmen aus der göttlichen Welt, das ist die Verheißung, dass Liebe und Wissen möglich ist. Die Melodik des Trios ist mikrotonal, melismatisch, fremdartig für an Popmusik gewöhnte Ohren. Es ist definitiv eine andersartige, musikalische Welt [4]. Der kalten Computerwelt („bleeps“) wird die Wärme der Trio-Stimmen gegenübergestellt. Technologie in ihren verschiedenen Facetten und Formen wird so ohne ein Wort charakterisiert [4].
In der zweiten Strophe (das ist die Situation nach diesem ersten Kontakt) wird die Melodie bewegter, fast etwas aufgeregt wird die Stimme der Protagonistin durch die Instrumente umspielt. In dieser Strophe tritt aber auch die Überlastung des Menschen durch diesen Kontakt zutage. „Well I’ve never felt such pleasure. / Nothing else seemed to matter.“  Im zweiten Chorus sind die Stimmen des Trio Bulgarka näher zu hören. Der Kontakt ist tiefer, intensiver und vertrauter geworden.
In der instrumentalen Überleitung zur Coda nimmt die Stimme der Sprachkonsole die Melismatik der göttlichen Stimmen auf. Die Sprachkonsole ist eindeutig so die Botschafterin, die Vermittlerin.
In der Coda nach dem „I turned to my computer like a friend“ sind wieder die Einwahltöne zu hören, dann kommt die Solistin des Trio Bulgarka dazu. Sie ist nun im Vordergrund zu hören. Die Kommunikation ist jetzt ganz nah. Sie ist nun persönlich, jetzt ist es eine deutlich vernehmbare, einzelne Stimme. Die Melodie ist noch verzierter und fremdartiger als vorher. Unbekannte, faszinierende Welten tun sich auf durch diesen Kontakt. Zum Schluss gibt es nach dem „Give me deeper understanding“ noch eine Steigerung der Emotionalität. Leise klingt der Trommelrhythmus aus. Nun singt das Trio Bulgarka im Hintergrund eine etwas andere Melodie, die sich mit dem Rhythmus vereinigt – die Synthese ist geschafft. Das Trio Bulgarka tritt immer deutlicher hervor und ist zum Schluss ganz nah. Die Welten werden eins, der Ausgang der Geschichte ist ungewiss.

Die Strophen des Songs sind in d-Moll geschrieben. Im Chorus wechselt die Harmonik langsam in die Paralleltonart F-Dur, wobei insbesondere F-Dur-Akkorde zu „Hello“ und „Love“ erklingen. In der Coda vermischen sich dann d-Moll (die Welt der Protagonistin) und F-Dur (die Gegenwelt des Computers) untrennbar miteinander [2].
Wie so oft bei Kate Bush passen die Tonarten erschreckend genau zu den vermittelten Inhalten und Botschaften.
„Etwas mit Grab und Tod, mit dem Starren, Steinernen der Gruft oder dem Mineralischen der Erde hat die d-Moll-Tonart da, wo sie uns voll-ausdrucksvoll entgegentritt, zu tun“ [8]. Es ist eine Welt, „die vom Sonnenhaften des Lebendigen noch nicht durchleuchtet ist“. F-Dur dagegen ist die Naturtonart, sie hat eine Beziehung zu dem alles Natürliche durchwebenden und durchlebendem „Ätherischen“ und „Elementarischen“ . Das „Urtönen und Naturtönen der Welt selbst fängt sich in ihr“. Der intime Grundton aller Naturgeräusche, das Rieseln des Baches, das Säuseln des Windes, liegen diesem F oder F-Dur zugrunde. Es ist ebenfalls eine „fromme, religiöse Tonart“. Nach Beckh liegen d-Moll und F-Dur nah beieinander, „wenn wir von dem Naturhaften dieses Lebendig-Webende in Abzug bringen“ [8].
Auch in den Tonarten bricht der Kontakt mit einer göttlichen, spirituellen Welt wie ein Sonnenstrahl hinein in eine tote, kalte, technische Welt. Kate Bush drückt es selbst so aus – und dem ist fast nichts hinzuzufügen: „With my music, I like to combine both the old and the new, the high tech and the compassion from the human element, the combination of synths and acoustic instruments“ [7]

Zur Fassung von „Deeper Understanding“ aus dem Album „Director’s Cut“ von 2011 will ich weniger Worte verlieren, da mir diese Fassung nicht so gefällt. Kate Bush hat das Lied einer Revision mit zwanzig Jahren Abstand unterzogen. Computer werden nun ganz anders gesehen, sie sind ein Teil des Lebens. Die Sucht des „Always on“ und die Vereinsamung sind nun reale Themen. Möglicherweise hat Kate Bush daher nun das Pendel zur anderen Seite ausschlagen lassen. Auch das Video dazu tendiert in diese Richtung – die Verbindung mit dieser „Wesenheit“ hinter dem Tor in die Computerwelt wird als bedrohlich dargestellt (u.a. wird das „sucked into the machine“ [3] visualisiert). Die Sprachkonsole ist nun eine verzerrte Conputerstimme, die nichts mehr von Verlockung in sich hat. Wohl weil mir die Originalfassung so gut gefällt, fühlt sich das für mich falsch an. Es zerstört für mich die Stimmung des Liedes. Nur in der Coda ist kurz ganz weit weg die Solo-Stimme des Trio Bulgarka zu hören. Die Mystik tritt dadurch sehr in den Hintergrund, das Lied ist auf den kalten, technischen Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die Fassung endet jazzartig, wie live gesungen – das weist hingegen in die Zukunft. Vielleicht ist mein Urteil über diese Fassung so hart, weil ich die Ursprungsfassung in mein Herz geschlossen habe. Es wäre interessant, wie Personen das im Vergleich empfinden, die beide Fassungen zum ersten Mal hören.  (© Achim/aHAJ)

[1] Graeme Thomson: „Kate Bush. Under the ivy“. 2013. Bosworth Music GmbH. S.213 S.309
[2] Kate Bush: The sensual world (Songbook). London 1990. EMI Music Publishing Ltd. S.32ff
[3] Roger Scott: Radio One Interview. 14.10.1989
[4] Rob Jovanovic: „Kate Bush. Die Biographie“. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S. 173-174
[5] Steve Sutherland: „The Language of Love“.  Melody Maker. 21.10.1989
[6] N.N.: Interview WFNX Boston. Herbst 1989
[7] Will Johnson: „A Slowly Blooming English Rose“.  Pulse. Dezember 1989
[8] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.149-152 (F-Dur) und S.155-157 (d-Moll)

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Delius (Song Of Summer)

delius

Ein klassischer Irrweg: Die Sitar schwirrt mit dem Piano um die Wette, Kate singt eine Melodie, die leicht arabesk klingt. Zumindest ich habe die Einflüsse für diese magische Songminiatur beim ersten Hören irgendwo in Asien oder dem Orient vermutet. Doch die Hintergründe sind ganz abendländisch: Kate, die immer eine Ader für klassische Musik hatte und hat, huldigt hier dem englischen Komponisten Frederick Delius (1862-1934), einer der außergewöhnlichsten Tonmaler der Spätromantik. Die Spezialität des deutschstämmigen Komponisten waren Tondichtungen, die von einer tiefen Liebe zur Natur sprechen, da ist sie ihm ja durchaus seelenverwandt.
„Delius“ ist allerdings keine abstrakte Hommage, sondern bezieht sich ganz ausdrücklich auf die letzten sechs Lebensjahre, die vom exzentrischen Regisseur Ken Russell 1968 im Schwarz-Weiß-Film „Song Of Summer“ eingefangen wurden [1]. 1928 reiste der damals blutjunge Musiker Eric Fenby von seiner Heimat Scarborough zu Delius’ letztem Wohnsitz im französischen Grez-sur-Loing bei Paris, um ihm bei der Ausführung seiner letzten Werk zu helfen. Delius war zu diesem Zeitpunkt als Folge einer Syphilis-Erkrankung bereits gelähmt und erblindet und zudem „a moody old man“. Die Kompositionssessions gestalteten sich unglaublich schwierig: Delius, so zumindest macht uns Russell das glauben, sang seinem jungen Gehilfen mit brüchiger Stimme unentzifferbare Melodien vor („ta-ta-ta“), dieser hatte dann noch rumzurätseln, in welcher Tonart er sie notieren sollte („in B, Fenby!“). Paddy verkörpert Delius hier in seiner unnachahmlich witzigen Art. Dass unter den schwebenden Vokallinien ein pluckernder Roland-Rhythmus liegt, ist eine Kuriosität mehr. Der Rhythmus wurde sozusagen nur skizziert, nicht ausgearbeitet.
Kate zitiert dann im Text mehrere bekannte Kompositionen, allen voran den „Song Of Summer“[2], an dessen Fertigstellung Fenby schon beteiligt war. Das absteigende Viertonmotiv des Orchesters ist dann auch genau die Tonfolge von Sitar und Klavier (in Kates Fassung erheblich schneller). „To be sung of a Summer, Night on the Water“ geht auf zwei Lieder zurück, die Delius 1917 ohne Text für Chor geschrieben hat [3], Fenby hat sie dann 1938 für Streichorchester unter dem Titel „Two Aquarelles“ gesetzt.
„Delius“ funkelt als kleiner Fremdkörper zwischen der Single „Babooshka“ und dem Bill Duffield-Epitaph „Blow Away“ auf Never For Ever und ist in seiner ätherischen Eigenwilligkeit fast ein Gegenentwurf zum Charakter des störrischen Greises Delius. Schön ist ein Dokument aus der Russell Harty-Show auf BBC2 vom 25.11.1980, in der Kate auf den nun seinerseits alten Eric Fenby trifft, um über Delius zu diskutieren [4]. Fenby hat ihr Tribut als „gracious“ bezeichnet – sie war sehr geschmeichelt. (Stefan)

[1] https://www.youtube.com/watch?v=zN6sAkxByaY
[2] https://www.youtube.com/watch?v=JUgfHSINV7Y
[3] https://www.youtube.com/watch?v=ePOz8ruthFQ
[4] https://www.youtube.com/watch?v=UTAvwX_eJco

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Don’t Push Your Foot On The Heartbrake

Dreamtime

Eat The Music

Dieser Song ist ein Rätsel und hat Zuhörer und Kritiker in Verwirrung gestürzt. Ist das eine leichte, aus allen Fugen geratene Fröhlichkeit oder ist das Maskerade? Ist das ein vordergründig erotischer Text, in der Liebe mit dem Essen von Früchten verglichen wird, oder handelt das Lied von ganz anderen Dingen? Und was ist das eigentlich für ein Musikstil? Was will uns Kate Bush damit sagen? Will sie uns überhaupt etwas sagen?
Rob Jovanovic sieht hier „lockeres Karibikflair, das jedoch mit einem banalen Text über Bananen, Papayas und Rosinen verdorben wurde“ ([1]). Er vermutet einen sexuellen Subtext, hält den Song aber eher für peinlich. Ron Moy ([2]) wirft ein, dass die Musik haarscharf an typischen Latino-Klischees vorbeischrammt. Selbst der tief in die Welt von Kate Bush hineinblickende Graeme Thomson hält die „verspielte, griffige Erotik“ für „konstruiert und allzu offensichtlich; genau wie die dazu passende Innengestaltung des Albums mit ihrem aufgeschnitten dargebotenen Obst […]“ ([3]). Sogar in Fankreisen irritierte der Song. Er wurde als nicht geglückter Versuch einer Latin-Tanznummer gedeutet, die aber dafür zu hektisch und aufgedreht daherkomme ([4]).
Offenbar lässt „Eat the music“ viele etwas ratlos zurück. Soll man diesen Wertungen vertrauen und den Song einfach als misslungen abhaken? So einfach kann man es sich aber meiner Meinung nach nicht machen. Abzuhaken wäre er erst dann, wenn man ihn verstanden hätte und ihn dann immer noch für misslungen hielte. Ich meine, dass die oben zitierten Meinungen zwar Aspekte erkennen und benennen, dass sie aber die Gesamtheit von „Eat the music“ nicht erfassen. Wenn weißes Licht durch einen Kristall fällt, dann nutzt es nicht viel, nur zum Beispiel einen der gebrochenen Lichtstrahlen zu betrachten. Das sagt nicht viel über den Kristall an sich aus. Ähnlich verhält es sich mit „Eat the music“. Beim Schauen aus verschiedenen Richtungen werden einzelne Aspekte gesehen, die merkwürdig erscheinen, so wie der gebrochene Lichtstrahl. Um zum Wesen vorzudringen, müssen wir aus allen Richtungen schauen – ins Innere.

Die erste Frage – warum findet sich auf dem düsteren, zerrissenen Album „The red shoes“ so ein fast hemmungslos dahinstürmendes, rasendes Lied voller Dur-Fröhlichkeit? Fröhlichkeit ist sonst für das Album ein Fremdwort. Beliebigkeit bei der Gestaltung eines Albums ist aber für Kate Bush ein Fremdwort – es muss also einen Hintergrund geben.
Das Lied ist 1992 entstanden, nach dem Krebstod von Kate Bushs Mutter. Ihr Bruder Paddy Bush sagte in einem Interview ([5]), dass er und seine Schwester in tiefer Verzweiflung waren. Paddy Bush lernte während dieser Zeit den madagassischen Musiker Justin Vali kennen, dessen Musik er seiner Schwester vorspielte. Im Interview ([5]) schildert er, was passierte und wie das zum auslösenden Funken für „Eat the music“ wurde. „Wir waren beide immer noch im Zustand tiefer Verzweiflung und hörten diese Musik, in der uns die Sphäre der Fröhlichkeit wieder berührte. Die tiefe, ehrliche Fröhlichkeit, die die Madagassen haben, nichts Aufgesetztes. Kate hat sich sofort in das Stück  ‚Soratra Masina‘ verliebt. Am Ende singt Justin einen Vers, der bedeutet: ‚Lass Fröhlichkeit aus uns zu euch hinüberfließen.‘ Kate war völlig fixiert auf diese Phrase, sie liebte sie so sehr. Und sie sagte zu mir: ‚Paddy, bring Justin hier her, ich will unbedingt mit ihm arbeiten.“ So entstand der Song, eigens für Justin geschrieben, der nicht nur das madagassische Instrument Valiha spielte, sondern schließlich auch den Chorus sang ([5]).
Im Netz kann man Justin Valis „ny soratra masina“ finden ([6]). Beim Hören fällt die strukturelle und stimmungsmäßige Ähnlichkeit zu „Eat the music“ auf. Kate Bush hat mit ihrem Song ein Stück madagassischer Musik geschrieben! (Und dass dies nicht lateinamerikanisch ist, ist offensichtlich.) Afrikanische Musik (und damit auch die madagassische) wird von Grundprinzipien beherrscht, die sich in europäischer/lateinamerikanischer Musik so nicht finden. Eine verständliche  Zusammenfassung findet sich in [7]. „In afrikanischer Musik ist die Elementarpulsation (time-line) die kleinste wahrgenommene regelmäßige Pulseinheit, mit enormer Geschwindigkeit, ohne Anfang und Ende und ohne eine Akzentuierung.“ [7].
In „Eat the music“ findet sich dieser Elementarpuls als die unablässige, pulsierende Folge von schnellen Achtelnoten wieder. „Diese Pulseinheiten sind zwei oder dreimal schneller als der beat oder große Pulse, die nächste wichtige Orientierungsebene, die sich zum Beispiel aus 6, 8, 9, 12, 16, 18 Einheiten (oder ihr Vielfaches) zusammensetzt.“ [7]. In „Eat the music“ werden immer zwölf Pulseinheiten zu einem Takt zusammengefasst – der Song steht im 12/8-Takt (die musikalischen Details des Songs sind aus [8]).
„Die Wiederkehr von solchen 8-, 12- oder 16-pulsigen Beat-Einheiten bezeichnet man als Zyklus, der sich aus melodischen Motiven, Formeln oder Phrasen strukturiert, bis dass der Zyklus sich von vorn wiederholt. Elementare Pulsation und Timeline-Pattern, Beat und Off-Beat, Polyrhythmik und Kreuzrhythmik  sind die grundlegendsten Merkmale schwarzafrikanischer Musik.“ [7]. Die dies abbildende Struktur von „Eat the music“ ist sehr komplex. Unablässig erklingen über jeweils zwei Takte die Grundakkorde von D-Dur: Tonika D-Dur-Akkord für die Zeit von sechs Achteln, Subdominante G-Dur-Akkord für sechs Achtel, Dominante A-Dur-Akkord für zwölf Achtel. Dazu gibt es eine sich über ebenfalls zwei Takte erstreckende, sich unablässig wiederholende Grundfigur im Bass mit leicht gegenüber den Taktschwerpunkten versetzten Akzenten. Von Beginn an rast dazu eine Figur aus Achtelketten jeweils über zwei Takte dahin, sechsmal Akkordbrechungen über jeweils drei Achtel, dann sechs fallende Achtel. Später im Verlauf des Songs wird dieses Achtelkettenmotiv vermischt und kombiniert mit einem schwebenden Motiv aus Achteln, verlängerten Vierteln und über den Taktstrich verbundenen Noten. Die rasende Begleitung auf den Saiteninstrumenten bekommt so etwas Losgelöstes, Freies. Die Singstimme ist gegen die Taktschwerpunkte verschoben, sehr häufig wird eine Achtelnote am Ende eines Takts mit einer langen Note im neuen Takt verbunden. Die Singstimme übernimmt damit das Schwingende, Tänzerische. Immer abwechselnd mit der Singstimme singt ein Chor hymnische Vokalisen als Gegenbewegung. Im Chorus mit seinen männlichen Stimmen wird dies durch Bläser aufgenommen und betont. All diese Motive überlagern sich, fügen sich zu großen Blöcken zusammen. Zum Schluss jagen diese Motive den Song in einen wilden, hymnischen Tanz hinein, alles dreht sich wie besessen in einem ewigen Kreislauf, ohne Anfang und Ende. Alles versinkt im Rhythmus und den Chor-Vokalisen. Es könnte wieder von vorn beginnen, der Song ist als ein geschlossener Kreis denkbar (es wird aber ausgeblendet).
Afrikanische beziehungsweise madagassische Musik ist es also, die hier dargeboten wird, keine lateinamerikanische Musik. Es gibt nur gewisse Ähnlichkeiten. Um diese Ähnlichkeiten nicht zu sehr hervorzuheben, wurden sogar während der Aufnahmen Instrumente ausgetauscht [9]. Madagassische Musik ist dem Hörer nicht so vertraut wie das Lateinamerikanische, es ist kein Mainstream. Der Hörer versucht eine Einordnung – bemerkt aber, dass die nicht passt. Dies erklärt vielleicht einige Irritationen der Rezensenten. Im ganzen Lied findet sich nur Dur und nichts als Dur [8], reinstes D-Dur, es gibt keine melancholische Abtönung ins Moll hinein. Nach Beckh [10] ist D-Dur die stärkste Tonart überhaupt, es ist die Tonart des strahlenden Helden, des Erreichen des höchsten Ziels, der siegreichen Überwindung. Es ist die Tonart, die die Grabesfesseln sprengt. Sie steht daneben aber auch für die sprießende, belebende Kraft des Frühlings, die Wachstumskraft, die Werdekraft [10]. Positiver und ferner von Trauer kann keine Tonart sein. So ausschließlich wie sie in „Eat the music“ eingesetzt wird, ist sie fast schon gnadenlos fröhlich, es ist eine Mauer aus Musik gegen die Trauer. Die Fröhlichkeit ist gegenüber „ny soratra masina“ fast ins Dämonische, Manische übersteigert. Sollen wir Zuhörer zum Fröhlichsein gezwungen werden? Will sich Kate Bush so zur Fröhlichkeit zwingen? So betrachtet hat dieses Lied musikalisch etwas von einem Exorzismus.
Die nächste Frage – passt der Text zu dieser einem die Fröhlichkeit einhämmernden Musik? Wird hier „verspielte, griffige Erotik“ [3] durch das Reden über Früchte dargestellt? Diese Früchte dominieren auch das Booklet, das Album selbst steht so unter dem Leitspruch „ Eat the music“. Offenbar verbirgt sich in diesem Lied eine Kernaussage (schönes Wortspiel beim Reden über Früchte). Zur Frage nach der Bedeutung der Booklet-Gestaltung gab es in einem MTV-Interview von Kate Bush eine deutliche „Das-behalte-ich-für-mich-Aussage“: „Well, it’s really just a time with a song called Eat The Music which has a lot of references to fruits and opening fruits.“ [11]. Auch sonst finden sich von Kate Bush kaum Aussagen zu diesem Song, fast als ob sie ihn im Verborgenen halten möchte.
Die erste Strophe sagt aber eigentlich schon aus, worum es geht. Kate Bush lebt für und durch die Musik, sie bietet sie dem Publikum dar, sie gibt ihr Herz dem Publikum: „Split me open / With devotion / You put your hands in / And ripe my heart out / Eat the music“. Im weiteren Verlauf wird der Blickwinkel erweitert. Um Menschen zu verstehen, muss man sie öffnen und ins Innere schauen. Um verstanden zu werden, müssen sich Menschen öffnen. Die Schlussstrophe fasst das noch einmal zusammen: „You put your hands in / What ya thinking? / What am I singing? / A song of seeds / The food of love / Eat the music“.
Im Chorus werden verschiedene Früchte aufgezählt, die ebenso zerrissen werden („Rip them to pieces / With sticky fingers“). Das Öffnen und Zerreißen der Früchte wird zum Vergleich mit der eigenen Situation herangezogen („Split ˋem open / With devotion / You put your hands in / And rips their hearts out“). Fans goutieren ein Album wie eine Früchtepalette. Sie nehmen ein Stück, freuen sich daran, zerstören die Früchte (das Lied?) aber dabei (sie sehen die Gedanken dahinter nicht). Die Früchte (der Arbeit?) werden gegessen, aber in ihnen zeigt sich der Keim für einen Neuanfang (der Same). Vielleicht kann ja daraus etwas Neues entstehen (die Wirkung der Musik). Vielleicht kann Musik so die Fesseln des Todes sprengen.
Das ist kein Hurra-Szenario. Die Früchte im Booklet sehen für mich aus wie eine blutige Masse, sie erinnern mich an Bilder eines Gemetzels. Kate Bush legt ihr Inneres offen, schonungslos direkt, blutig. Sie zeigt das herausgerissene Herz. Hinter all der fruchtsüßen Fröhlichkeit verbirgt sich ein blutendes Herz. Im Kate-Bush-Forum findet sich zum Song eine Aussage, der nichts hinzuzufügen ist ([12]): „[…] doch ich bin immer fassungslos, wenn Eat The Music als tanzbarer feel good track bezeichnet und verstanden wird. Der Song ist eines der seltsamsten, düstersten Lieder, das je in die Popannalen eingeganen ist. Dass es von Kate als fröhliches, südamerikanisch/afrikanisches Tanzlied arrangiert wurde, ist nicht nur Zeugnis eines herrlich grimmigen Humors, sondern Notwendigkeit: würden die Worte zum backing track eines z.B. Song of Solomon gesungen werden, wäre das Lied kaum zu ertragen (nicht falsch verstehen!).“
Für mich haben wir es bei „Eat the music“ mit einem der tiefgründigen Songs von Kate Bush zu tun. Unter einem fröhlichen Tanzlied verbirgt sich das Dunkle. Hinter dem Dunklen verbirgt sich eine Kernaussage über ihr Schaffen. Es war geplant, den Song als erste Single auszukoppeln – dies wurde dann zugunsten von „Rubberband Girl“ fallengelassen [9]. Die spätere Auskopplung war dann aber doch ein Erfolg. Paddy schätzt, dass sie sich vier Millionen Mal verkauft hat [5]. Vermutlich hat nur ein kleiner Teil der Hörer hinter die fröhliche Maske geblickt.   (© Achim/aHAJ)

[1] Rob Jovanovic: Kate Bush. Die Biographie. Höfen. Koch International GmbH/Hannibal. 2006. S.182
[2] Ron Moy: Kate Bush and Hounds of Love. Aldershot. Ashgate Publishing Limited. 2007. S.116
[3] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.325 [4] „Joanni“ auf http://www.carookee.com/forum/Kate-Bush/128/Sunset.7559727.0.01105.html (gelesen 30.03.2009)
[5] Stefan Franzen: „Paddy Bush und die Musik Madagaskars (Teil 2)“. http://morningfog.de/?p=4907 (gelesen 10.11.2017)
[6] Justin Vali: ny soratra masina. http://youtu.be/4SSbBDceLKE (gelesen 12.12.2017) [7] https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/musik/artikel/rhythmen-der-welt (gelesen 06.12.2017)
[8] Kate Bush: The red shoes (Songbook). Woodford Green. International Music publications Limited. 1994. S.21ff
[9] „Well red“ Interview in Future Music mit Del Palmer. 11/1993
[10] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S.180f
[11] „MTV Most Wanted“ mit Ray Cokes. 22.10.1993
[12] „Stgpepper“ auf: „http://www.carookee.com/forum/Kate-Bush/115/Why_Should_I_Love_You.13942934.0.01105.html“ (gelesen 16.03.2009)

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Egypt

Experiment IV

„Experiment IV“ ist ein Song einer Art, der bei Kate Bush ab und zu vorkommt. Eine politische Botschaft, meist pessimistisch, wird in einen eingängigen Song verpackt. Er setzt damit eine Reihe fort, die mit „Breathing“ und „Army Dreamers“ begann und die mit „Heads we’re dancing“ fortgeführt wurde. Der Song ist das einzige neu komponierte Stück für das Best-of-Album „The whole story“. Er wurde als Single veröffentlicht und erreichte in Großbritannien Platz 23 [1]. Das Lied erzählt die Geschichte eines geheimen militärischen Experiments, des Experiments IV. Es soll ein Sound kreiert werden, der schrecklich genug ist, um Menschen zu töten. Das Ende der Geschichte ist unklar, aber das Experiment geht gründlich schief. Im Musikvideo wird fast jede Person, die an dem Projekt arbeitet, durch den schrecklichen Klang getötet.
Die erste Strophe (Texte aus [2]) beginnt mit „We were working secretly for the military / Our experiment in sound was nearly ready to begin“. Diese Eröffnungszeilen führen unmittelbar in die Geschichte ein. In den nächsten Zeilen kündigt sich dann schon das ganze Verhängnis an: „We only know in theory what we are doing / Music made for pleasure, music made to thrill / It was music we were making here until…“ Vor diesem Experiment wurde Musik nur zum Vergnügen verwendet, niemand hat sie als Waffe benutzt. Dieser Sound aber wird alles verändern. Den Wissenschaftlern, Kate Bush als Protagonistin des Songs ist offenbar eine davon, wird befohlen, ein Instrument des Todes zu schaffen. „They told us all they wanted / Was a sound that could kill someone from a distance.“ Aber das verhängnisvolle Experiment läuft aus dem Ruder: „So we go ahead and the meters are over in the red / It’s a mistake in the making“. Die für das Experiment Verantwortlichen haben sich ihrer Verantwortung entzogen und das Versuchsgelände und die Menschen dort sich selbst überlassen. „We won’t be there to be blamed / We won’t be there to snitch / I just pray that someone there can hit the switch.“ Nur ganz verschämt und beschönigend wird im Outro mitgeteilt, dass man um das Gelände Warnhinweise aufgestellt hat: „And the public are warned to stay off.“ Verantwortung sieht anders aus.
Kate Bush hatte die Idee gereizt, etwas so Positives wie Musik ins Negative, Tödliche zu verkehren. „I consider music a really positive force, it’s something that is there to help people, to make them happy, to make them think. […] And the thought of people using sound in such a negative way […] it’s so obscene. The irony of using something that’s so beautiful, in a way, to actually kill people rather than help them, I find fascinating.“ [5]
Das übergeordnete Thema ist, dass der natürliche Forscherdrang des Menschen durch andere Menschen missbraucht werden kann. „[…] often [scientists are] trying to create something that they consider positive, productive and very much something that would help mankind, but so often along the way those good intentions end up being used, particularly by other people, for completely the opposite reasons. Particularly experiments that end up being used by the military, things like the atom bomb.“ [5] Kate Bush blickt jetzt in diesem Song aber nicht auf eher ferne Wissenschaften, nicht auf atomare Versuche, sie richtet den Blick auf sich, auf ihre Passion, auf die Musik. Könnte man auch das ins Negative verkehren? Das ist der eigentliche Inhalt: Ist meine Berufung korrumpierbar? Ist meine Musik für Böses nutzbar? Das ist keine fern liegende Frage, Musik wurde später u.a. in Guantanamo als Folterinstrument verwendet [13]. Insofern hat Kate Bush hier eine realistische Sicht auf die Dinge.
„Experiment IV“ ist sehr eingängig , durchgehend wird ein 4/4-Takt durchgehalten. Die Tonart ist ein b-Moll [2]. Wie immer setzt Kate Bush die Tonart punktgenau ein. Nach Beckh [3] ist b-Moll die Todestonart, sie ist starkfinster, sie ist „todverwandt“. Totenstimmung und Todeskampf wird durch sie verkörpert. In b-Moll fasst „die harte Faust des Todes die Menschenseele“ an. Es ist die „Tonart des Sterbens, des harten Todeskampfes, die Tonart, in der wir vor allem die Bitternis des Todesstachels empfinden.“ Genau darum geht es ja: um die vernichtende, zerstörerische, tödliche Macht, die auch der Musik innewohnt.
Eine Interpretation des Songs wäre ohne das Video dazu [4] unvollständig. Kate Bush hatte offenbar viel Zeit, sich mit der Konzeption zu befassen und übernahm auch die Regie. Namhafte Schauspieler wie Dawn French, Hugh Laurie („Dr. House“), Peter Vaughan (Maester Aemon in „Game of Thrones“) und Richard Vernon standen ihr zur Verfügung. Das Video war sehr erfolgreich, es wurde für die Grammy Awards 1988 in der Kategorie „Best Concept Music Video“ nominiert. Bei „Top of the Pops“ wurde es dagegen nicht gesendet, da es als zu gewalttätig angesehen wurde [6]. Für mich ist es eines der besten Videos zu Songs von Kate Bush. Kate Bush reicherte den kleinen Film mit liebevollen Details an, die weit über den Text hinausgehen und die zur Deutung des Songs beitragen. Sie war begeistert davon, nicht mal selbst im Mittelpunkt zu stehen und einfach die Geschichte zu erzählen. „I was excited at the opportunity of directing the video and not having to appear in it other than in a minor role, especially as this song told a story that could be challenging to tell visually.“ [7]
Für die Dreharbeiten wurde ein Ort gefunden, der mit seiner verwunschenen Atmosphäre viel zur Wirkung des Videos beitrug. „I chose to film it in a very handsome old military hospital that was derelict at the time. It was a huge, labyrinthine hospital with incredibly long corridors, which was one reason for choosing it. Florence Nightingale had been involved in the design of the hospital.“ [7] Der Aufwand war enorm, aber alle hatten offenbar viel Spaß „The video was an intense project and not a comfortable shoot, as you can imagine – a giant of a building, damp and full of shadows with no lighting or heating but it was like a dream to work with such a talented crew and cast […].“ [7]

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Zu Beginn des Videos betritt ein Wissenschaftler (Richard Vernon) das Versuchsgelände durch einen getarnten Eingang in einem Geschäft für Instrumente und Musik, „Music for pleasure“. Der gelangweilte Mann hinter dem Verkaufstresen zählt offenbar frisch eingetroffene Exemplare der Single zu „Experiment IV“. Der Laden steht voll mit Musikinstrumenten, die schon eine Rolle in Songs von Kate Bush gespielt haben. Zu sehen sind z.B. Dijeridu, Strumento da Porco, Balalaika, Mandoline, Posaune, ein Kontrabass und eine keltische Harfe [11]. Offenbar ist dieses Geschäft ein Sinnbild für Kate Bush und ihre Musik. Der Professor wird von zwei Wissenschaftlern in Empfang genommen (Dawn French, Hugh Laurie). Offenbar steht das Experiment kurz vor dem Abschluss. Sie betreten einen Kommandoraum, der wie ein Tonstudio aussieht (es geht ja auch um Musik). Hinter einer Glasscheibe sieht man schemenhaft einen für den Versuch vorbereiteten Probanden. Der Professor heißt Jerry Coe, das ist wohl ein Wortspiel mit „Jericho“, der Stadt, deren Mauern beim Klang von Posaunen einstürzten. Er erinnert sich daran, wie er vom Militär (als General: Peter Vaughan) zu diesem Experiment IV gezwungen wurde. Er erinnert sich an die Vorbereitungen für den heutigen Tag.
Hier ist der Punkt, um auf den Titel des Songs einzugehen und eine Vermutung zu äußern. „Experiment IV“, dieses düstere Krankenhaus, diese Experimente mit Menschen: es erinnert an die sogenannte „Aktion T4“ der Nazizeit. Es ist eine nach 1945 gebräuchlich gewordene Bezeichnung für die systematische Ermordung von mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen in Deutschland in der Nazizeit unter Leitung der Zentraldienststelle T4. Sie waren Teil der Morde an Kranken, denen bis 1945 über 200.000 Menschen zum Opfer fielen.“ [8] Leider finde ich von Kate Bush keine Äußerungen zum Titel des Songs, es muss also bei dieser Vermutung bleiben. Der Professor erinnert sich an den Beginn der Experimente. Sie nahmen die Schreie von gebärenden Müttern und von seelisch-geistig Kranken (Paddy Bush im Video) auf, das verweist wieder auf die Aktion T4. In diesem Rückblick zeigt immerhin die Wissenschaftlerin so etwas wie Mitgefühl, wie Gewissensbisse.
Heute ist im Video der große Tag. Sie testen das Ergebnis an einem gefesselten Gefangenen. Die Gewissensbisse der Wissenschaftlerin sind anscheinend geschwunden. Diese Szene erinnert an den Film „Uhrwerk Orange“, auch dort wird ein gefesselter Gefangener durch Musik konditioniert. Die geliebte Musik verwandelt sich in das Grauen. Der Gefangene wird von Kate Bushs damaligen Freund und langjährigem musikalischen Mitstreiter Del Palmer gespielt. Will Kate Bush andeuten, dass ihre Musik und deren Produktion ihre Umgebung in den Wahnsinn treiben kann?

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Zur Bridge des Songs wird der Schalter umgelegt und das Experiment beginnt. „It could feel like falling in love“ – ein geisterhaftes Wesen manifestiert sich, umschwimmt wie eine Art Wasserwesen den Probanden. „It could feel so bad / But it could feel so good / It could sing you to sleep“ – hier zeigt es sich als wunderschöne Frau in weiß mit langen blonden Haaren, von Kate Bush  gespielt – eine Meerjungfrau vielleicht. „But that dream is your enemy“ – in der Musik kommen schroffe Streichersequenzen dazu, die an die Mordszene aus Psycho erinnern. Der Geist verwandelt sich in ein Monster. Vielleicht ist das Wesen eine Banshee. Die Sirenen der griechischen Mythologie werden oft als Meerjungfrauen dargestellt. Sirenen locken durch ihren betörenden Gesang vorbeifahrende Schiffer an, um sie zu töten [10]. Eine Banshee ist im Volksglauben Irlands (die Mutter von Kate Bush stammt aus Irland) ein weiblicher Geist aus der Anderswelt, dessen Erscheinung einen bevorstehenden Tod ankündigt. „Sie wird meist als totenbleiche und weißgekleidete Frau mit langem weißlichen oder schwarzen Haar dargestellt. Ihre Augen sind oft glutrot vom ständigen Weinen. In den meisten Beschreibungen ist sie eine alte Frau, seltener jung und schön.“ [9] Zu einer instrumentalen Passage tötet das Wesen die Wissenschaftlerin und den Professor, der zweite Wissenschaftler (Hugh Laurie) kann dem Kontrollraum entkommen und versucht, Hilfe zu holen. Hier ertönt eine wunderschöne Melodie auf der Violine, von dem bekannten Virtuosen Nigel Kennedy gespielt. Musik ist eigentlich schön, auch wenn sie tödlich ist. Dass die Musik der Violine mit Tod und Wahnsinn verknüpft ist, ist bei Kate Bush nicht neu. „Violin“ ist ebenfalls ein Song über die dämonische Macht der Musik, insbesondere der Violine. Das Wesen bricht nun aus und tötet in diesem Krankenhaus alle, die ihm begegnen. Auch Hugh Laurie muss dran glauben, er kann sein Telefonat (Bitte um Hilfe oder Warnung?) nicht mehr beenden. Offenbar hat er mit dem General telefoniert, denn der legt im nächsten Bild den Hörer auf. Er scheint sehr zufrieden mit diesem aus seiner Sicht erfolgreichen Experiment. Dass Menschen sterben mussten, das ist nebensächlich. Eine weibliche Adjutanz bringt dem General Tee. Es ist Kate Bush. Für einen kurzen Moment wird ihr Gesicht von der Fratze des Monsters überlagert.
Das Video endet damit, dass die Umgebung des „Musikgeschäfts“ abgesperrt und mit Verbotsschildern gesichert ist. Vor dem Eingang von „Music for pleasure“ scheinen Leichen in weißen Kitteln zu liegen. Hier erinnert mich dieser Schriftzug über dem Eingang zu dem Todesgelände an das überaus zynische „Arbeit macht frei“ über den Eingängen der nationalsozialistischen Konzentrationslager [12]. Am Ende des Songs ist ein Hubschrauber zu hören. Kate Bush entkommt (als Anhalterin?) und lädt uns ein, ihr kleines Geheimnis zu bewahren. Aber ihr Augenzwinkern am Ende ist wahrscheinlich genauso tödlich wie der Kuss der Meerjungfrau. Der Tod ist entkommen, der Geist ist aus der Flasche, das Wissen über die Möglichkeiten ist in der Welt.
„Experiment IV“ ist ein tiefgründiger Song über den Drang nach Wissen. Es ist ein Song über die Korrumpierbarkeit von eigentlich schönen Dingen. Das sind Themen, die uns alle angehen und die uns alle betreffen. Kate Bush beweist, dass diese Botschaft auch gut mit Hilfe eines eingängigen Popsongs transportiert werden kann. © Achim/aHAJ

[1] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Experiment_IV (gelesen 21.04.2021)
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.84f
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.232-235
[4] https://m.youtube.com/watch?v=NTUcoR8_pyE&vidve=5727&autoplay=1 (gesehen 21.04.2021)
[5] „The Story so far“, Interview mit Laurie Brown für den kanadischen Fernsehsender Much Music, gesendet 10.06.1987
[6] https://www.katebushencyclopedia.com/experiment-iv (gelesen 12.04.2021)
[7] https://www.katebush.com/news/experiment-iv-other-sides (gelesen 12.04.2021)
[8] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Aktion_T4 (gelesen 14.04.2021)
[9] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Banshee (gelesen 14.04.2021)
[10] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Sirene_(Mythologie) (gelesen 14.04.2021)
[11] https://songmeanings.com/songs/view/95373/ (gelesen 14.04.2021)
[12] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Arbeit_macht_frei (gelesen 24.04.2021)
[13] z.B. https://www.deutschlandfunk.de/die-dunkle-seite-der-musik.1148.de.html?dram:article_id=241338 (gelesen 24.04.2021)

Feel It

50 Words For Snow

Flower Of The Mountain

Fullhouse

Get Out Of My House

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Ein herzhafter Lachanfall war Graeme Thomson zufolge die Reaktion einiger Zeitgenossen auf diesen Song[1]. Fragt man jedoch hartgesottene Kate-Fans, rangiert er stetig hoch in der Gunst, findet sich in Favoritenlisten häufig unter den Top 10. Zu Recht: „Get Out Of My House“ ist ein fantastisches und zugleich beängstigendes Stück Popmusik, bei dem zeitweise die Grenzen zur musique concrète, zum Hörspiel aufgeweicht werden. Ich würde sogar soweit gehen, dass er etlichen Popkünstlern seit den 1980ern mit der Art und Weise, wie die Rhythmusspuren gebaut wurden, bewusst oder unbewusst als Blaupause gedient haben könnte. Dabei sprengt der Song eigentlich die technischen Möglichkeiten, die man 1981/82 in einem gemieteten Studio unter Zeitdruck umsetzen konnte. Es wird verständlich, wie innig sich Kate damals ein eigenes Klanglaboratorium gewünscht hat, doch in jener Schaffensphase war sie ja noch auf die Londoner Studios angewiesen, wo sie sich mit Del Palmer, Paul Hardiman und Haydn Bendall bis zu 20 Stunden am Tag einbunkerte. Die hermetische Isolation in einem Raum ohne Fenster mag die Paranoia von „Get Out Of My House“ noch befeuert haben.
Als Finaltrack setzt „Get Out Of My House“ dem ohnehin sehr gewagten Album „The Dreaming“ das Krönchen auf. Vom Aufbau her haben wir eine klassische Songstruktur mit Strophe, Bridge, Refrain und Coda. Wie diese allerdings soundtechnisch ausgestaltet sind, das hat nicht mehr viel mit dem herkömmlichen Popsong zu tun und reiht sich konsequent in die auf „The Dreaming“ verfolgten Gestaltungsprinzipien ein: Experimentelle Klangcollagen, bei denen das Drumkit zugunsten von Geräuschsamples auch mal zur Nebensache wird.
Martialische  Beats, der Schlachtruf „Eeyore“ aus der Kehle von Paul Hardiman und das dreitönige Leitmotiv auf Alan Murphys Gitarre bilden das Intro, bevor Kates Vocals einsetzen. Der letzte Offbeat des galoppierenden Viervierteltakts wird übermäßig betont, er ist auch zuständig für den Widerhaken im Groove – und in ihm versteckt sich das Sample einer heftig zugeschlagenen Tür. Sie wird auch gleich im Text thematisiert: „When you left the door was (slamming)“. Ein letzter Besucher verlässt das Haus, ein Gedanke stiehlt ihn hinweg, die Welt zieht ihn hinaus. Das Haus ist leer – und das bleibt es auch. Denn was nun folgt, ist die grandiose akustische Ausgestaltung einer Psychose. Dabei ist der eigentliche Protagonist das Haus, in dem die Heldin lebt, doch die Körpermetaphorik will es so, dass das lyrische Ich und das Haus organisch verschmelzen, in einem einzigen Bestreben: Niemand soll diesen „Körper“ jemals mehr betreten, „no stranger’s feet will enter me, I wash the panes, I clean the stains away.“ Diese totale Abschirmung gipfelt im wiederkehrenden Ausruf „With my key I lock it“, wobei das „lock it“ zeitlich mit der zugeschlagenen Tür zusammenfällt. Der Schlüssel als Motiv weist wiederum auf den vorangegangenen Track „Houdini“ hin. Auch in diesem Lied über den Entfesselungskünstler spielte ja das Motiv des gewollten Wegschließens eine zentrale Rolle.
Kate porträtiert sich mit den verschiedenen Färbungen ihrer Stimme als multiple Persönlichkeit: In den Strophen als Führerin durch die verwinkelten Abgründe dieses Geisterhauses / dieser Seele, „full of mess, full of mistakes and full of madness“ ist. In der Bridge ist sie die laszive Concièrge, die weder für Liebe noch Geld irgendjemanden hinein lässt, und sich mit der verhallten Zeile „I won’t letcha in“ zu einem Monster aufbläht. Der Refrain dagegen besteht nur aus der Titelzeile des Songs, der furienhaft, verzweifelt heulend, flehend und gebrochen bis zur Unerträglichkeit wiederholt wird. Natürlich kann man – oft ist das in anderen Interpretationen geschehen – hier auch eine sexuelle Konnotation sehen, oder schlicht und einfach Kates Reaktion auf die Schattenseiten des Berühmtseins: Das Bedürfnis nach Rückzug wird immer verzweifelter.
Nachdem die Räumlichkeit des Hauses mit vielen perkussiven Stereoeffekten, weit entfernten Stimmen und seufzenden Lauten aus dem Fairlight-Synthesizer ausgelotet wurde, kommt in der riesenhaften zweiteiligen Coda noch ein intimes Duett mit Bruder Paddy zum Tragen. Er umschmeichelt die Bewohnerin, bittet um Einlass (den sie ihm nicht gewährt) und will die Erinnerungen zurückbringen. Der Heathcliff aus „Wuthering Heights“, der „let me in your window“ fleht, hier begegnen wir ihm unter gänzlich anderen Vorzeichen. Doch Kate setzt noch eins drauf: Kate und Paul Hardiman lassen ihr „Eeyore“-Brüllen ertönen, ein Symbol für die hartnäckige, animalische Verweigerungshaltung eines Esels, das wiederum noch mit einem Konnakol überlagert wird (ein „Silben-Rap“, mit dem in der südindischen Musik rhythmische Abläufe memoriert werden). Spätestens hier sprengt Kate die damaligen technischen Möglichkeiten: Die Übereinandertürmung von Klangspuren sorgt dafür, dass man als Hörer schier die Orientierung verliert. Was die Visionärin in ihrem Innern hörte, ließ sich klanglich nicht mehr umsetzen.  (Stefan)

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Hammer Horror

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Viele Songs von Kate Bush haben mit Filmen zu tun und beziehen sich auf Filmszenen.
Das Kino muss für Kate Bush eine Quelle der Inspiration sein. Unter diesen Songs ist “Hammer Horror” einer der theatralischsten.
Ein dramatischer Beginn, Filmmusik setzt ein, wie aus einem Horrorfilm: „Hammer Horror“ beginnt. Dann kommt die Stimme dazu, die geheimnisvoll über der dunklen Grundierung schwebt und dann höher und schneller wird. Faszinierend und sehr ausdrucksvoll ist dies, der Beginn setzt ein Ausrufezeichen. Schau her, ich bin etwas Besonderes.
Die Hammer Studios sind ein englisches Filmunternehmen, das in den 60ern und 70ern zahlreiche romantisch anmutende Horrorfilme produzierte [1]. Das Lied ist inspiriert vom Film „Der Mann mit den tausend Gesichtern“, in dem James Cagney den Stummfilmdarsteller Lon Cheney bei seiner Interpretation des Glöckners von Notre Dame spielte [1].
Mehrere Ebenen werden hier verwoben: die Geschichte des Glöckners, die Darstellung durch Lon Cheney, die Darstellung von Lon Cheney durch James Cagney, der Blick des Zuschauers darauf und dessen Gedanken. Im Text werden alle diese Elemente zu einer neuen, komplexen Einheit zusammengefügt.
Der Glöckner von Notre Dame als Symbol der Dunkelheit („You stood in the belltower, But now you’re gone. So who knows all the sights Of Notre Dame?“) wird mit dem Thema der Zweitbesetzung (“I’m the replacement for your part”) verknüpft. Schuldgefühle und die Schatten der Vergangenheit kommen dazu (“Rehearsing in your things, I feel guilty. And retracing all the scenes, Of your big hit, Oh, God, you needed the leading role. It wasn’t me who made you go, though.”) Die Protagonistin hat die Rolle eines anderen übernommen, fühlt sich bedrängt von Schuldgefühlen. Ist der Andere noch da in den Schatten? Verfolgt er sie? Oder sind das nur überspannte Fantasien? Alles wird verwoben zu einer düsteren Szene. Bei den ersten Aufnahmen setzte Kate Bush alles daran, in die richtige Stimmung für diesen Song zu kommen. Das Studio war verdunkelt und die Mitglieder der Band mussten sie erschrecken [2]. Wie auch immer es gemacht wurde, es ist gelungen – manchmal bebt die Stimme fast wie vor Furcht, ich kann ein Zittern und ein Beben spüren. “Hammer Horror” ist so ein Lied der tausend Gesichter und der tausend Stimmungen.
Der Chorus ist schnell und treibend mit verschiedenen Stimmfärbungen, am Ende des 2. Chorusabschnitts gibt es Töne, die schon „Never For Ever“ anklingen lassen. Zum Schluss des Liedes verklingt die Musik fast atonal, tiefer Trommelwirbel, ein Gong ertönt: Vorhang auf – jetzt beginnt die Vorstellung!
All das ist delikat harmonisiert, die Grundtonart (ein Es-Dur?) ist vage und verschleiert. Das Fundament ist unklar, selbst die Melodie hat keinen sicheren Boden unter den Füßen. Es-Dur ist die Tonart des Sich-Emporkämpfens, des Sich-Emporringens [3]. Genau darum bemüht sich die Protagonistin des Songs, aber es ist für sie gefühlt ein ebenso unsicheres Terrain wie es die Harmonien für die Melodien sind.
Der Song kommt mir beim Hören vor wie eine Ouvertüre. Er fasst die Handlung eines Films zusammen, der gleich beginnen wird. Der Vorhang ist noch geschlossen, der Kinobesucher wird eingestimmt. Aber was genau kommt, das weiß der Zuschauer noch nicht. Wieder haben wir eines dieser offenen Ende an einem Album von Kate Bush. Dieser Gong am Schluss sagt für mich, dass die ersten zwei Alben nur der Start waren. Der richtige Film kommt erst noch.
Achim/aHAJ)

Literatur
[1] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.95
[2] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.145
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.40

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Heads We’re Dancing

Hello Earth

helloearth
peekaboo

Eine gespenstische Szenerie war das, als mir diese sechs Minuten und zwölf Sekunden zum ersten Mal begegneten, der Song, der mir von allen aus Kates Werk bis heute am meisten bedeutet. Ich war siebzehn, mit ein paar Kumpels hatte ich gerade eine Nachtwanderung unternommen, in tiefer Nacht stiegen wir ins Auto und fuhren Richtung Tal zurück. Jemand stellte das Kassettenradio an, und während draußen im schemenhaften Licht die Baumkronen vorbeizogen, ertönte dieser unfassbare Chor. „Was ist das?“, fragte ich sofort entgeistert. „Das ist die neue Kate Bush-Platte“, meinte der Freund. „Kann nicht sein“, entgegnete ich. Bis dahin kannte ich nur die Klangwelten entfernte Singleauskopplung „Running Up That Hill“. Doch da begann die zweite Strophe und ich hörte ihre Stimme. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass mir seitdem vielleicht nie mehr bei einem Hörerlebnis so die Haare zu Berge standen.
„Hello Earth“ weitet innerhalb von „The Ninth Wave“ die Sphäre des Persönlichen zum Kosmischen. Man kann die Suite ja nicht nur als konkreten Zeitstrahl lesen, als die Nacht einer Ertrinkenden im Wasser. Kate hat hier ein vielschichtiges Psychogramm entworfen, spielt mit dem Schwebezustand zwischen Leben und Tod, liefert sich ein Pingpong mit dem Dies- und Jenseits. Dabei bieten sich viele Deutungen an, ganz gleich, ob die Erzählerin nun tatsächlich über Bord gegangen ist, oder auch das nur träumt. Ist das, was bis „Jig Of Life“ geschehen ist, Traum, Halluzination bei einer Schlaflähmung, Nahtoderlebnis, eine Art „Totenbuch“ à la Bush? In „Hello Earth“ jedenfalls gewinnt das Jenseits an Einfluss. Die Stimme, die da singt, ist ganz weit hinauskatapultiert ins kalte All, was schon durch die NASA-Funksprüche signalisiert wird (die auch schonmal kurz in „And Dream of Sheep“ reingemischt wurden und wohl von der Landung des Space Shuttle Challenger 1983 stammen müssen).[1] Die Sängerin scheint ganz abgeklärt zu sein, hat sich abgefunden mit der Loslösung von der Erde, die fast liebevoll als Spielzeug, wie eine Murmel betrachtet wird. „Peek a boo, peeak a boo, little earth.“ Kate ist ganz alleine da draußen, und das ist auch grandios eingefangen auf musikalischer Ebene, denn sie sitzt ja zunächst allein am Piano, viel Hall um sie herum. Ein großer Balladenmoment, der auf der Achse von „The Man…“ bis „Moments Of Pleasure“ einen Ehrenplatz einnimmt.
Doch dann, wie so oft in „The Ninth Wave“, wechselt die Perspektive ein ums andere Mal. Erst in ein rührendes Bild: Die Protagonistin fährt nach Hause, mit der schlafenden Erde auf dem Rücksitz. Eine tiefe Liebe zum Planeten kommt da zum Ausdruck, eine Liebe von jemandem, der wohl weiß, dass er seine Heimat verlassen muss. Man denkt fast an die wehmütigen Gefühle, die Gustav Mahler hatte, als er todkrank „Das Lied von der Erde“ komponiert hat. Das Orchester setzt ein, dazu sehr langsam eine rhythmische Stütze von Stuart Elliotts Drums. Sein Kollege Charlie Morgan erzählt, wie schwierig es für Stuart gewesen sei, den Takt zu finden, denn Kate hatte ihren Part zuvor ohne Click-Track auf den Ohren frei eingespielt und -gesungen.[2] Und es wird sehr cinemaskopisch: Unter dem großen Nachthimmel, dem „big sky“ steht die Sängerin und beobachtet wie ein großes Licht näher kommt. Außerirdische? Eine Antwort auf das „little light“, das in „And Dream of Sheep“ die ganze Suite eröffnet und das – wie man in „Before The Dawn“ sehen konnte – aus ihrer Rettungsweste blinkt? Das würde dem Titel „Hello Earth“ noch eine ganz andere Bedeutung geben.
Und nun passiert einer der fantastischsten Stimmungswechsel der Popmusikgeschichte. Man kann da vielleicht erst mal draufschauen, was da harmonisch passiert. „Hello Earth“ beginnt mit einem Motiv aus drei Akkorden, das sich latent durchs ganze Album ziehen, „Cloudbusting“ und „And Dream of Sheep“ beruhen auf dem Motiv, in „R.U.T.H“ steckt es auch drin, allerdings in einer anderen Tonart. Doch dann kommt ein Sprung von cis-moll nach F-Dur. [3] Funktionsharmonisch gibt es da keinerlei Verwandtschaften, die Tonarten sind einen Tritonus voneinander entfernt, das Intervall, das Jahrhunderte lang als „Diabolus in musica“ galt. Der Effekt muss also naturgemäß für unsere Hörgewohnheiten gewaltig sein. Er bedeutet den Wechsel in ein radikal Anderes, den Einbruch des Jenseitigen. Verstärkt wird das natürlich nochmals dadurch, dass Kate hier einen Chor in einer fremden Sprache sprechen lässt.
Immer, wenn Kate etwas aus dem Fernsehen aufgeschnappt hat und unbedingt in ihr Universum einbauen wollte, hat das den betreffenden Song zu einem magisch funkelnden Ding gemacht: So geschehen mit „Wuthering Heights“, mit „Delius“, mit „The Red Shoes“, oder eben auch hier. Wie sie mehrfach bekräftigt hat stieß sie auf diesen Chor, als sie Werner Herzogs „Nosferatu“ (1978) schaute. Er wird in der Szene gegen Ende eingeblendet, als die Pest Wismar überrollt hat und Isabel Adjani über einen Platz irrt, auf dem Särge stehen, Leute den Veitstanz vollführen, ihr Henkersmahl nehmen und schon die Ratten das Zepter übernommen haben. Herzog spielt gerne mit dem Bruch zwischen Bild- und Tonspur, und hier konfrontiert er die orgiastische Aushebelung des normalen menschlichen Alltags (visuell) mit dem ruhig vorgetragenen akustischen Signal einer fremden Macht / Welt (akustisch). Nicht nur fremd, ja, gruselig wirkt dieser Chor auf mich. Sowohl bei Kate als auch wenn ich „Nosferatu“ schaue, und es geht vielen so, mit denen ich über das Stück gesprochen habe. Die Bühnenumsetzung bestätigt, dass der Chor auch für Kate „haunting“ ist: Zu den Chorklängen tragen sie die „fish people“ von der Bühne weg in ihr (Toten-)Reich.
Im Original allerdings ist diese Wirkung gar nicht beabsichtigt. Denn ursprünglich ist es ein georgisches Traditional namens „Tsintsqaro“ (es gibt verschiedene Schreibweisen in der Übertragung) aus den Regionen Kartlien und Karchetien. Der Text ist zarte Liebeslyrik: „Ich wanderte an der Quelle entlang und traf ein schönes Mädchen, das hielt einen Krug auf ihrer Schulter. Ich sagte etwas zu ihr und sie war empört, ging zur Seite.“[4] Es wäre also wahnsinnig spannend, von jemandem aus Georgien zu erfahren, wie er mit seinen/ihren anderen Hörgewohnheiten und dem Verständnis des Textes „Hello Earth“ rezipiert! Für Kate selbst war es nicht so wichtig, wo dieser Chor denn geographisch anzusiedeln ist. Im Abbey Road-Interview von 1985 kommt sie kurz in Verlegenheit, ob das denn nun ein „czechoslovakian or russian theme“ sei. (Zur Erinnerung: Wir sind hier ja noch vor dem Zusammenbruch des Ostblocks!) Im Hintergrund flüstert ihr jemand dann „russian“ zu, wahrscheinlich Paddy.[5]
Und als sie im Abspann von „Nosferatu“ gesehen hat, von wem das Stück stammt, wird sie ihren ethnomusikologisch bewanderten Bruder gefragt haben, ob er eine Aufnahme des Vokal Ansambl Gordela von 1969 in seiner immensen Plattensammlung hat.[6] Ich habe keinen Zweifel daran, dass die da stand. Credits haben in den Liner Notes dann Werner Herzog und rätselhafterweise sein Soundtrack-Komponist Florian Fricke bekommen, nicht aber das Ensemble Gordela. Korrekt finde ich das nicht – denn wäre Kate nicht auf diese Stimmen gestoßen, wäre „Hello Earth“ eben nur halb so spannend. Es gibt übrigens etliche weitere Aufnahmen von „Tsintsqaro“. Aber weder kommt das Lied, wie auf youtube behauptet[7], in Ron Frickes Film „Bakara“ (1992) vor, noch war es ein Teil des Soundtracks jener ominösen, von einem Team um Carl Sagan kompilierten Goldplatte namens „Murmurs Of Earth“[8], die die NASA im August und September 1977 an Bord der Sonden Voyager 1 und 2 ins All geschossen hat – ein paar Wochen vor der Veröffentlichung von „Wuthering Heights“. Natürlich ist es ein schöner Gedanke: Die Musik, die einst in unbekannte Weiten hinausreiste, kommt nun zur Erde zurück. Und es ist tatsächlich auch ein georgisches Stück auf der Goldplatte, nur eben das wesentlich rustikalere „Tchakrulo“.
Das war ein langer Exkurs zu „Tsintsqaro“! Zurück zum Stück. Der Chor hat zuerst nur einen Durchgang, dann geht es in die zweite Strophe. Wieder sind wir im All, und da bleiben wir jetzt auch. Quasi aus einer Felix Baumgartner-Perspektive heraus wird die Sängerin hilflos Zeuge, wie sich ein Sturm über Amerika zusammenbraut und auf die See hinausbraust. Es ist der Sturm, der sie in diese missliche Lage gebracht hat und dessen Geburt sie jetzt außerhalb von Raum und Zeit selbst miterlebt. Sie sieht die mächtige, entsetzliche neunte Welle von oben. Die Strophe mündet in eine bewegende Warnung an alle, die auf dem Meer unterwegs sind, schleunigst „Land zu gewinnen“: „Get out of the waves, get out of the water“ wurde ja schon in „Waking The Witch“ eingeführt. Dazu bäumt sich das Orchester im breitwandigen Arrangement von Michael Kamen auf, und die irischen Musiker von Planxty stimmen ein. Wie hier die Uilleann Pipes von Liam O’Flynn aufheulen, das ist großartig. In geschichteten Vokalspuren „schreit“ Kate dem Sturm „murderer, murderer of calm“ entgegen und fragt dann „Why did I go?“ Warum bin ich bloß aufs Meer hinausgefahren? Oder auch: Warum musste ich aus dem Leben gehen? Für mich ist diese Passage die grandioseste auf dem ganzen Album „Hounds Of Love“.
Und wieder setzt der Chor ein, dieses Mal mit drei Durchgängen. Der zweite wird teils im Forte gesungen (so laut wie in keiner georgischen Originalaufnahme), die jenseitige Macht tritt jetzt richtig dominant auf. Im ersten und dritten Durchgang bleiben fast immer die Violinen mit einem Liegeton über den Stimmen, am Ende auch ein Bordun von den Bässen. Das intensiviert die schaurige Wirkung noch, ebenso eine geisterhafte Stimme am Ende, die den Chor begleitet. Und dann die nochmals erstaunliche Schlusswendung. Wir sind wieder im Meer, und zwar ganz weit unten. Der Geleitchor ins Totenreich hat sich verabschiedet, die Orchesterbässe saufen zu den Echolotpulsen richtig ab, von F-Dur geht es nach Fis-Dur (wieder eine ganz entfernte Tonart!). Ein mächtiges tieftöniges Unterwasser-Soundscape aus Echolot, Schiffsmotor und Haltetönen im Orchester, Brausen und Pfeifen herrscht jetzt, gekrönt vom berühmten Satz „Tiefer, tiefer, irgendwo in der Tiefe gibt es ein Licht.“ Als sie diese Sounds zusammengestückelt hat, da wäre ich gerne dabei gewesen.
Warum driftet sie hier ins Deutsche? Im MF-Forum wurde das schon vor ein paar Jahren geklärt[9], mit Verweis auf einen „Stern“-Artikel, in dem Kate offenbarte, dass sie neben der erklärten Inspiration von Charles Frends „The Cruel Sea“ (1952) auch von Wolfgang Petersens „Das Boot“ gefesselt war. Ob der – von Gabi Zangerl, nicht von Kate! – gesprochene Satz im „Boot“ wörtlich auftaucht, müsste man mit Fleißarbeit mal ergründen. Das anfänglich aus dem All heranreisende Licht, es findet sich nun am Meeresgrund wieder. Die Pforte zum Jenseits liegt nicht „irgendwo in der Höhe“, sondern im Schoß der Erde. „Go to sleep little earth“, flüstert die fast Ertrunkene noch mit verträumter, ersterbender Stimme, als Gruß an den Heimatplaneten, den ihre Seele nun endgültig verlässt, während ihr Körper in seiner Tiefe bleibt.
Das ist EINE Deutungsmöglichkeit. Es gibt zahllose weitere, da bin ich mir sicher. Alles andere als zahllos sind die Coverversionen. Dieser Song ist zu einzigartig, zu sehr Kate, da traut sich kaum jemand ran. Die einzige Version, die ich akzeptieren kann, ist die vom Dortmunder Musiker Theo Bleckmann, er hat sogar sein ganzes Kate Bush-Tribut nach dem Song benannt. Und es bleiben immer noch ungeklärte Fragen: Was sagt die Funkstimme, die beim ersten und zweiten „Hello Earth“ kurz eingeblendet wird? Ist die „Geisterstimme“ am Ende ein verlangsamter Möwenschrei? Als ich „Hello Earth“ im September 1985 auf jener Fahrt durch den nächtlichen Wald zum ersten Mal hörte, wusste ich nicht, dass da so viel drin steckt. Aber vielleicht ahnte ich es schon, und war deshalb so verstört, gefesselt, überwältigt. Und das bis heute. (Stefan)

[1] http://gaffa.org/diction/h.html#hello
[2] DVD „Hounds Of Love – A Classic Album Under Review“, Pride Production 2008
[3] wer den Notentext vergleichen will, findet ihn in „Kate Bush Complete“. EMI Music Publishing 1987
[4] über den Ursprung z.B. hier: http://www.youtube.com/watch?v=CpMqsqSjepY
[5] Promo-CD von EMI, 1986
[6] http://www.discogs.com/Georgian-Folk-Song-And-Dance-Ensemble-Vocal-Ensemble-Gordela-Georgian-Folk-Songs/release/1072318
[7] siehe Fußnote 4
[8 ]http://voyager.jpl.nasa.gov/spacecraft/music.html
[9] http://www.carookee.net/forum/Kate-Bush/1/2452351

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Home For Christmas

Es geschah wieder. Weihnachten naht und wieder fragte Burkhard von morningfog.de bei mir für das Song-ABC an: „Meinst du, du schaffst trotz Stress auch noch Home for Christmas?“. Bei so einer zweiten Anfrage gab es keine Ausrede mehr. Aber mit diesem kleinen Song war ein Problem verbunden. Ich als Kate-Kenner hatte ihn noch nie gehört. In der Discographie bei Jovanovic [1] findet er sich auch nicht. Ich wusste noch nicht einmal, ob Kate das Lied überhaupt selbst komponiert hatte.

© katebushencyclopedia.com

Auf meinen Hilferuf „Mehr Details!!“ kamen dann weitere Informationen und eine Recherche im Internet [2] ergab dann ein vollständigeres Bild. „Home for Christmas“ wurde von Kate Bush komponiert und kam zum ersten Mal als Musik zum Film „Wild Turkey“ aus der BBC-Serie „The Comic Strip Presents“ zum Einsatz. Dieser Film wurde an Heiligabend 1992 gesendet. Im Großbritannien kam er dann später als B-Seite der Single „Moments Of Pleasure“  und in den USA als B-Seite der Single „Rubberband Girl“ heraus. Kate Bush selbst verschickte ihn im Dezember 1993 zusammen mit einer Weihnachtskarte als privat gepresste CD-Single. (Wer hat dieses seltene Stück in seiner Sammlung? Meine Augen beginnen vor Begehrlichkeit zu glitzern.) Zum Glück ist dieses Stück im Internet zu finden. Es ist ein ganz zartes, intimes Stück, kurz und auf das Wesentliche beschränkt. Kate Bushs Stimme und eine Gitarre – mehr nicht. Ein leichtes Jazz-Feeling ist da. Es ist ein Gefühl. als ob man zusammen mit der Sängerin vor dem Kamin sitzt, der Weihnachtsbaum ist geschmückt, die Kerzen brennen, nur noch die Familie fehlt. Sehnsucht nach einer geliebten Person spricht aus der Musik und aus dem Text.  „You know that I’ll be waiting / To hear your footsteps saying / That you’ll be coming home for Christmas.“ [3]  Weihnachten, das Fest der Zusammenkunft. „If I only had wings / Then I would fly to you / Through all the snowy weather.“  Es spricht von großer Zuneigung und Vertrautheit, diesen Text als Weihnachtsgruß zu verschicken. Wie immer bei Kate Bush kann man den Text auch auf eine andere Weise interpretieren. Die angesprochene Person kann auch das Jesuskind selbst sein. So wird ein ganz persönliches Liebeslied verwoben mit etwas Mystischem. Mit wenigen Worten und wenigen Tönen wird die Essenz von Weihnachten erfasst. Aus einer Kleinigkeit wird ein Kleinod. In unserer Diskussion wies Burkhard dann noch auf einen interessanten Aspekt hin. „Home for Christmas“ kann auch als ein Pfad in die Zukunft gedacht werden. „If i had only wings“ – hier ist das Finale von „Before the dawn“ zu sehen, wo sich Kate Bush in einen Vogel verwandelt („Then I would fly to you“). Und bei „Through all the snowy weather“ ist dann die Schneetraumlandschaft von „50 words for snow“ erreicht. Themen finden sich wieder, klingen immer wieder an – auch Kleinigkeiten finden ihren Platz im Bushiversum und ordnen sich ein.  (© Achim/aHAJ)   [1] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen.
[2] http://www.katebushencyclopedia.com/home-for-christmas (gelesen 28.11.2016)
[3] http://www.lyricsfreak.com/k/kate+bush/home+for+christmas_20215439.html (gelesen 28.11.2016) Kommentare

Houdini

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“Houdini” – dieser Song vom Album “The Dreaming” ist wieder eines dieser geheimnisvollen Lieder von Kate Bush, das eine ganz konkrete Begebenheit der Geschichte in einem musikalischen Moment zusammenzieht.
Harry Houdini war ein amerikanischer Entfesselungs- und Zauberkünstler (dies und das Folgende aus [1]). Seine Ehefrau Wilhelmine Beatrice „Bess“ Rahner fungierte viele Jahre als seine Bühnenassistentin. Weltberühmt war er für seine Entfesselungsnummern, die er spektakulär unter Lebensgefahr, etwa in Flüssen unter Wasser, ausführte. Diese Unterwasserentfesselungen zeigte Houdini auch auf der Bühne. Er machte aber auch den Kampf gegen betrügerische Spiritisten zu seiner Lebensaufgabe. Er wurde Mitglied eines Komitees der Wissenschaftszeitschrift „Scientific American“, die einen Geldpreis für diejenigen ausgeschrieben hatte, die vor dieser Jury übernatürliche Fähigkeiten beweisen konnten – ein Preis, der dank Houdini nie vergeben wurde. Houdini infiltrierte spiritistische Gesellschaften mit Gewährsleuten, ließ betrügerische Spiritisten durch Detektive ausspähen, beteiligte sich verkleidet an Séancen und hielt hierüber zahlreiche Vorträge. Die Aufklärung über Spiritistentricks machte er zum regulären Bestandteil seiner Shows, wodurch er sich in der gut florierenden Spiritisten-Zunft viele Feinde einhandelte. Seinen Kampf gegen Spiritisten setzte Houdini noch im Tod fort: Er hatte mit seiner Frau Bess einen Code (Rosabel, believe) vereinbart. Zehn Jahre lang lud Bess verschiedene Spiritisten zur Séance. Einem „echten“ Medium, so der Gedanke, würde Houdinis Geist diesen Code mitteilen, und Bess wüsste so, dass sie tatsächlich mit ihrem verstorbenen Gatten kommuniziert hatte. Dem Geisterbeschwörer Arthur Ford gelang diese Sensation. Diese Geschichte wurde in Zweifel gezogen als sich herausstellte, dass er mit der finanziell und psychisch angeschlagenen Bess eine Affäre hatte. Ob sie ihm den Code verraten hatte, ist ungeklärt.
Genau die Situation einer dieser Séancen gibt der Song wieder. Bess versucht, mit ihrem toten Mann in Kontakt zu treten. Dabei schweifen ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit, Wirklichkeit und Traum vermischen sich. Kate Bush war von der Geschichte sofort fasziniert. “During his incredible lifetime Houdini took it upon himself to expose the whole spiritualist thing–you know, seances and mediums. And he found a lot them to be phoney, but before he died Houdini and his wife worked out a code, so that if he came back after his death his wife would know it was him by the code. So after his death his wife made several attempts to contact her dead husband, and on one occasion he did come through to her. I thought that was so beautiful–the idea that this man who had spent his life escaping from chains and ropes had actually managed to contact his wife. The image was so beautiful that I just had to write a song about it.” [2].
Über die Unklarheiten in der Story war sie sich durchaus klar, die Recherche im Vorfeld war akribisch. “It’s such a beautiful image: for this guy, who’d been escaping all his life, to escape death and come back to her. But I didn’t know if he had come back, because the other stories said he hadn’t, so I rang up Psychic News, and this nice lady got all these papers from the 1920s and read me this apparently official declaration from Mrs. Houdini that this had happened. I feel that they were terribly in love because of the whole story. She was saving his life every time. It’s such a great story, I couldn’t resist it.” [3]
“Houdini” ist ein “faszinierendes Stück über das Übernatürliche”, eine “unglaubliche Geschichte über Verlust, Liebe, Trauer und übernatürliche Phänomene” [4]. Es ist die Geschichte einer Frau, die von der Liebe zu ihrem toten Mann besessen ist. Wieder und wieder versucht sie, ihn auch im Tode zu erreichen. “She was saving his life every time” [3] – und das versucht sie auch weiter nach seinem Tod. So groß ist ihre Liebe, dass sie nicht aufgibt. Kann die Liebe schließlich doch den Tod besiegen? Hat die Rettung nicht in der Vergangenheit jedes mal geklappt? Liebe über den Tod hinaus – dieses Thema wurde schon in Kate Bushs erstem Hit “Wuthering Heights” besungen. Dort kehrte Cathy zurück zu Heathcliff, hier Harry zu Bess.
Das Cover des Albums nimmt Bezug auf diese lebensrettende Beziehung zwischen Houdini und Bess. Auf dem Cover steht “With a kiss I’d pass the key…”, dies ist ist ein Zitat aus “Houdini”. Bess ist zu sehen, wie sie ihrem mit Ketten gefesselten Mann bei einem Kuss einen kleinen Schlüssel mit der Zunge übergibt. “It’s a little depiction from the song. I didn’t even know he was married, but apparently she used to help him out quite a lot. As he used to go into his tank or jump in the river, she’d give him a parting kiss and pass a tiny silver key into his mouth. He’d wander off, then take it out and unlock the thing.” [3]
Der Schlüssel – golden leuchtend – ist das hervorstechend farbige Ding auf diesem düsteren, sepiabraunen Cover. Es sieht nicht aus wie ein Schlüssel, es ist eher ein goldener Ring. Der Ehering ist das Zeichen für die Liebe und die unbrechbare Verbundenheit. Er ist hier der Schlüssel, der den Weg aus der Welt der Toten zurück in die Welt der Lebenden öffnen soll. Dies gibt dem Albumtitel “The Dreaming” eine weitere Bedeutungsebene – das Träumen von einem Tor zur jenseitigen Welt, geschaffen durch die Liebe.
Im Hintergrund des Covers ist Efeu zusehen, der dies in seiner Symbolik unterstreicht. Efeu steht für unbedingten Überlebenswillen, Treue, Tod, Hoffnung auf Auferstehung, das Gesetz ewigen Lebens [5]. Der Efeu besagt in der Blumensprache “Keine Macht der Welt soll mich je von Dir trennen!” [5]. Genau das versucht Bess verzweifelt zu erreichen. Verweist das schon auf den Song “Under the ivy”?
Wasser als tödliches Element spielt in diesem Song eine zentrale Rolle. Houdinis Unterwasserentfesselungen waren extrem gefährlich und angeblich musste bei seiner letzten Nummer dieser Art der Tank mit einer Axt zerschlagen werden, um ihn zu retten [3]. Dieser Schrecken und diese Panik spiegelt sich in den Erinnerungen von Bess wider. In den Lyrics heißt es “Through the glass / I’d watch you breathe. / Bound and drowned, And paler than you’ve ever been. / With your life / The only thing in my mind — We pull you from the water!” [6]. Um diesen Horror auch im Gesang wiederzugeben, griff Kate Bush bei der Aufnahmesession zu drastischen Mitteln. “Well the idea is that it’s as she’s watching him go off into his tank of water for the last time, and it’s the idea that she is this sort of possessed demon that’s terrified of him going. And I drank about a pint of milk before I did the vocal and ate like two bars of chocolate. And the great thing about those sort of foods is it really creates a lot of mucus and normally that’s the last thing you want when you sing, you normally want a very pure voice, but I wanted to get all that sort of spit and gravel in the thought. So I worked on bringing the gravel out and then we also… as I sung the track we speed the track up a bit so that when it was played back the voice would just be slightly deeper, just have slightly more weight in it. ” [7]
Der Schrecken des Ertrinkens, damit hätte “Houdini” auch ein Teil von “The ninth Wave” sein können. Das Wasser als düstere Bedrohung – eines der zentralen Motive im Werk von Kate Bush. Aber es finden sich hier weitere der zentralen Bush-Motive. Es ist nicht nur ein “Wasserlied” (ich habe meine persönlichen Bezeichnungen für Motivkreise). Houdini ist auch ein “Geschichtslied”: es beschäftigt sich mit einem ganz besonderen Moment aus der Geschichte einer historischen Person. Es ist ein “Totenlied”: Erinnerungen an verstorbene reale Personen werden wiedererweckt. Es ist ein “Geisterlied”: übernatürliche Phänomene bestimmen die Story des Songs. Es ist ein “Wahnlied”: den Rahmen des Normalen verlassende, wahnhafte, obsessive Züge einer Beziehung spielen eine Rolle.
Die Musik reflektiert die verschiedenen Ebenen der Geschichte. Die beiden Strophen des Liedes geben die Situation in der Séance wieder. Bess sitzt da zusammen mit Fremden, ist voller Zweifel und doch voller Hoffnung. Wird es diesmal klappen? Die Musik ist zart, klavierbetont, mit schwebenden Basstönen von Eberhard Weber im Hintergrund. Die Melodie springt wunderbar gesungen voller bebender Erwartung zwischen zwei Tönen hin und her, es ist mehr die Andeutung einer Melodie. Der Refrain nach den Strophen beginnt rhythmischer, pochender – Bess ist in der Vergangenheit und denkt an die Situationen zurück, an denen sie ihren Mann mit dem Schlüsseltrick gerettet hat (“With a kiss / I’d pass the key / And feel your tongue / Teasing and receiving” und “Through the glass / I’d watch you breathe / Bound and drowned / And paler than you’ve ever been.”). Diese herzklopfenden Passagen enden in den Ausrufen des Erschreckens, des Entsetzen, der Furcht – wie oft hat Bess um ihren Mann gebangt in diesen lebensbedrohlichen Situationen (“With your spit / Still on my lip / You hit the water” und “With your life / The only thing in my mind / We pull you from the water!”)? Aber wie kann sie ihrem toten Mann diesmal den rettenden Schlüssel geben? Der Refrain endet mit traurigen Streicherklängen, zu denen weiter die Basstöne erklingen. Es ist eine fast resignative Musik des Abschieds, ein Choral, ein Requiem – Houdini kommt nicht wieder. Ganz zum Schluss des Songs nimmt dieser Streicherchoral noch einmal einen zweiten Anlauf, so als ob Bess die Situation nicht akzeptieren will. “You and I and Rosabel believe” – das bleibt als Rest der Hoffnung.
Die Tonarten des Songs geben diese unklare Situation an der Schwelle zwischen Leben und Tod wieder. “Houdini” ist mit 6 b’s als Vorzeichen notiert. Am ehesten ist die Tonart als Es-Moll zu identifizieren – aber das ist alles sehr verschleiert und nicht klar zuzuordnen. Daneben prägen die Akkorde Es-Dur, Des-Dur, Ges-Moll und As-Moll das Bild [6]. Beckh gibt in “Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner” tiefe Einblicke in das Wesen dieser Tonarten [8]. Es-Moll – ein Übergang, der über die Schwelle führt, die Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Tagesansicht und Nachtansicht der Welt, Sinneswelt und geistige Welt voneinander trennt. Es ist die im geistigen Sinne ernsteste aller Tonarten, die uns den Ernst des Schwellenübergangs, die Tragik des Schwellenübergangs erleben lässt. Es-Dur – nicht nur tiefstes Dunkel, sondern zugleich die Wiederaufwärtswendung zum Licht. Des-Dur – wie ein Durchbruch überirdischen Lichts. As-Moll – die Tonart des Scheidens vom Tageslicht, vom Lebenslicht. Jeder Akkord steht für eine Situation an einer überirdischen Schwelle.
So ist alles in diesem Lied die Schilderung einer Grenzsituation. Die Welten des Lebens und des Todes vermischen sich. Realität, Traum, Besessenheit, Trauer, Liebe, Tod, Leben – eine Welt aus den Fugen. Den Schluss bilden die Worte “You / And I / And Rosabel believe” – das ist vielleicht doch ein positiver Schluss dieses im Kern so traurigen Liedes. (© Achim/aHAJ)

[1] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Harry_Houdini (gelesen 21.02.2016)
[2] Poppix. “The Dreaming”. Summer 1982 (Interview)
[3] ZigZag. “Dream Time in the Bush” by Kris Needs. 1982 (Interview)
[4] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 243f
[5] Clemens Zerling: Lexikon der Pflanzensymbolik. 2007. Baden und München. AT Verlag. S.60
[6] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.97f
[7] Dreaming Debut. Radio 2. Sept. 13, 1982
[8] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.102, 124, 234 und 179.

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Hounds Of Love

holpolaroid400
KateHounds

“Hounds of Love” ist ein beeindruckender und tiefgründiger Song. Er war ein Top20-Hit in Großbritannien und gab einem Hitalbum den Namen. Einige Kritiker halten ihn für den besten Song von Kate Bush (1).
Die Hitqualitäten sind offensichtlich. “Hounds of Love” stürmt voran und bringt die Beine zum Tanzen. Die Musik ist popsong-artig, zugänglich. Die Musik bebt vor unterdrückter Energie. Niemals waren Songs von Kate Bush chartstauglicher als auf der ersten Seite dieses Albums. Das gilt aber nur für die Musik, die Texte sind von abgründigerer Natur – dies gilt auch hier. Schon das Cover der Single weist auf dieses Düstere hin: Eine nächtliche Waldlandschaft, ein einsamer See, Kate davor – fühlt sie sich bedroht?
Bei der Analyse dieses anscheinend so eingängigen Songs bin ich wirklich ins Schwimmen gekommen. Zuerst erscheint es einfach: komplexe Aspekte der Liebe werden thematisiert. Dass Liebe nicht nur sonnig, sondern gleichzeitig auch beängstigend sein kann, wird schon durch den Titel (der gleichzeitig Albumtitel ist) verdeutlicht – „Hounds of Love“. Kate erklärt das in einem Interview (2) so: „[..] das sind die Hunde, die den jagen – symbolisch natürlich -, der sich vor der Liebe fürchtet, der Angst hat, ihr in die ‘Falle’ zu gehen. Aber es sind nicht wirklich böse Hunde, man kann ja auf dem Cover sehen, wie sanft und schön die ‘Hounds of Love’ sind.“ Offenbar ist die Sache aber doch ambivalent, denn in einem anderen Interview sagt sie es so: “The hounds of love are an image really, someone who’s afraid of being captured by love; and the imagery is love taking the form of hounds that are hunting them, so they run away because they’re afraid of being caught by the hounds and ripped to shreds.” (3)
Zu Beginn des Songs wird die Dialogzeile „It’s in the trees! It’s coming!“ aus dem Film “The night of the demon” zitiert (4), in dem ein Dämon – eine vierfach gehörnte, krallenbewehrte, schuppige Teufelsgestalt – auf die Menschen losgelassen wird. Die Furcht vor einer mystischen, zerstörerischen Naturkraft wird thematisiert. Der Song ist im Rhythmus bei aller Tanzbarkeit etwas bedrohlich. Für mich klingt dieses Vorwärtsdrängende wie ein großes verfolgendes Tier, das durch einen dunklen Wald läuft (und das am Schluss ankommt). Groß, gefährlich, kraftvoll. Aber das ist die Sicht auf die Liebe aus Sicht der Feiglinge (“I’ve always been a coward / And I don’t know what’s good for me”) – die Jagdhunde der Liebe sind sanft und schön. Sie behüten den, der sie in den Arm nimmt und an sich heranlässt – so sagt es das Cover des Albums. “Hounds of love” ist ein Lied über Furcht, die uns alle irgendwann auf irgendeine Art und Weise befällt und beherrscht – insbesondere die Furcht vor der Liebe. Die Jagdhunde sind ein Sinnbild für die Liebe in all ihren Facetten selbst. Man kann sie fürchten, weil sie einen überwältigt. Sie reißt einen nieder und macht vollkommen hilflos. Sie macht einen glücklicher als alles andere auf der Welt. Das Mystische dabei: all dies geschieht gleichzeitig. Die Liebe ist gleichzeitig ein Monster und ein Kuscheltier.
Das klingt alles ganz einleuchtend und damit könnten wir es bewenden lassen. Aber ich habe Fragen im Kopf, die noch nicht beantwortet sind. Warum dieses Bild der “Jagdhunde der Liebe”? Es bestimmt das ganze Album – der Titel ist daran orientiert, ebenso das Cover. Welche Assoziationen sind eingeflossen?
Kate Bush sagte in einem Interview zum Album “Never for ever” etwas sehr Interessantes über die Art und Weise, wie sie Songs entstehen lässt (5): “Wenn ich mich von einem Film oder einem Buch inspirieren lasse, möchte ich nichts genau übernehmen – ich stehle die Idee nicht. Ich filtere sie durch meine persönlichen Erfahrungen, und manchmal entsteht daraus eine seltsame Mischung aus frei erfundenen Dingen und sehr, sehr persönlichen Ängsten, die ich in mir trage”. In Ihren Songs werden Inspirationen aller Art mit einer Grundidee zu einer neuen Einheit verschmolzen.
Beim Stöbern in meinem Bücherregal ist mir ein Band mit Kurzgeschichten in die Hand gefallen: “Somerset träumt” von Kate Wilhelm. In diesem Band ist die Geschichte “Die Hunde” (Originaltitel “The Hounds”) aus dem Jahre 1974 enthalten (6). Es ist eine Interpretation der griechischen Sage um die Göttin Artemis und den Jäger Aktäon (7). Artemis, die Göttin des Mondes und der Jagd, war sehr keusch. Mit Männern wollte sie nichts zu schaffen haben. Sie lebte im Wald und war gleichzeitig sehr scheu und argwöhnisch. Der Jüngling Aktäon stieß bei der Jagd zufällig auf die Göttin beim Bade. Artemis verwandelte ihn in einen Hirsch, worauf er von seinen eigenen Jagdhunden in Stücke gerissen wurde.
“The Hounds” handelt von Rose Ellen und ihrem Mann. Er verliert seine Arbeit und beschließt, zurück aufs Land zu gehen und eine kleine Farm zu kaufen. Rose Ellen ist dagegen, doch sie ist eine pflichttreue, liebevolle, aufopfernde Ehefrau und geht mit. Alles geht gut und ist friedlich. Eines Tages laufen zwei sehr schöne Hunde (ähnlich wie die auf dem Cover des Albums) Rose Ellen nach und hängen ab da besitzergreifend an ihr. Von Anfang an ist Rose Ellen von unerklärlicher Angst vor ihnen befallen. Sie kann und will sie nicht anfassen. Sie hat einen wiederkehrenden Traum, der ihr klarmacht, dass sie dann für alle Zeiten gefangen wäre, die Tiere würden sie nie wieder loslassen. In diesem Traum ist sie die Frau in Weiß, die mit den Hunden zur Jagd ausreitet. Ihre Beute ist ein Hirsch. Mit jedem Traum kommt sie dem Hirsch näher, ein Messer in der Hand. Sie befürchtet, dass ihr Leben zerstört wäre und ihre Ehe zerbrechen würde, wenn sie den Hirsch im nächsten Traum tötet. Es ist eine Geschichte über Freiheit und Wildheit und Zügellosigkeit, die Rose Ellen nie ausgelebt hat. Ein Teil von ihr will Artemis sein, eins mit der Natur, die wilde Zerstörerin und Jägerin. Aber das darf nicht sein, es steht zu viel auf dem Spiel – so sagt es sich Rose Ellen und lässt sich nicht auf ihre Natur ein. Sie erschießt die Hunde.
Diese Details passen mir viel zu gut auf den Song “Hounds of Love” um Zufall zu sein. Artemis – das ist die jungfräuliche Göttin, die Angst vor der Liebe, vor Berührung hat. Sie ist aber auch die Gewalt der Natur. Jagdhunde sind Begleiter dieser Göttin der Jagd. Artemis wird oft mit Pfeil und Bogen dargestellt (8). Dies scheint mir in den Song und das Album eingeflossen zu sein – auf dem Cover zur Single “Running up that hill” stellt sich Kate Bush als Bogenschützin dar, die ein unbekanntes Ziel anvisiert. Auf dem Cover des Albums liegt sie mit ihren Jagdhunden da wie eine Göttin, die vor Sternen im Himmel schwebt (das war mein erster Eindruck 1985, als ich das Album in den Händen hielt). Rose Ellen in der Erzählung ist der Feigling, der vor der Macht ihrer eigenen Natur – verkörpert durch die Hunde – zurückweicht. Eine Frau ist gleichzeitig die scheue Göttin und die wilde Zerstörerin und Jägerin. Sie ist das, was sie selbst fürchtet. Auch das Video zum Song legt das nahe. Es ist eine Adaption von Hitchcocks “Die 39 Stufen”, in dem eine Frau auch erst über Gefahren ungewollt zu ihrer Liebe findet (11).
Dass es in diesem Song um die unergründliche, ambivalente Macht der Natur selbst geht – darauf deutet auch die Tonart hin. Der Song ist in F-Dur geschrieben (9). F-Dur ist die Natur-Tonart, die Stimme der Natur – im Hintergrund ist aber immer das verborgene zerstörerische Potenzial der Naturgewalten spürbar (10).
Es gibt weitere Punkte, die implizieren, dass sich Kate Bush mit “Somerset träumt” von Kate Wilhelm befasst haben könnte. „It’s in the trees! It’s coming!“ – so etwas findet sich auch in dem Buch von Kate Wilhelm. Dort gibt es eine Geschichte über kleine Geister/Kobolde/Monster, die in einem Baum vor einem Haus wohnen. Nur die Frau kann sie sehen und mit ihnen kommunizieren. Und es findet sich die Geschichte über einen Mann in einem eingeschneiten Busbahnhof, der dort erfriert und sich an seine Vergangenheit und an seine Liebe erinnert. Vielleicht liegt dieser Busbahnhof ja an der Wheeler Street.
Aber genießen wir einfach das Lied und tanzen wir mit. Das gehört auch zu unserer Natur.
Achim/aHAJ)

(1) “The 50 greatest Kate Bush songs”, Mojo 10/2014, S. 76f
(2) Andreas Hub: “Kate Bush. Aufgetaucht”. Interview mit Kate Bush. Fachblatt Musikmagazin. 11/1985
(3) http://www.songfacts.com/detail.php?id=4741 (gelesen 12.01.2015) – hier wird der NME zitiert
(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Fluch_des_D%C3%A4monen (gelesen 02.09.2015)
(5) Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.118
(6) Kate Wilhelm: Die Hunde (Originaltitel “The Hounds”), aus dem englischen übersetzt von Sylvia Brecht-Pukallus, München, Heyne, 1988
(7) http://de.wikipedia.org/wiki/Aktaion (gelesen 12.01.2015)
(8) Hans-K. und Susanne Lücke, Antike Mythologie. Wiesbaden, 2005, Marix Verlag. S.137ff
(9) “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.99f
(10) Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.149ff
(11) https://de.wikipedia.org/wiki/Die_39_Stufen_%281935%29 (gelesen 02.09.2015)

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How To Be Invisible

© Jeny Lumelsky

Leicht und fast eingängig kommt dieser Song daher. Durchsichtig und klar ist er gestaltet. Er ist so beschwingt, dass er sich auch als Single gut geeignet hätte. Es ist eine “weitere Gruselgeschichte, die auf einem wunderbar elastischen, düsteren Rhythmus dahingleitet. Kate Bush ist die Hexe mit ihrem ‘Blindenschrift-Auge’ und ihrem ‘Anoraksaum’, jeder Windhauch und jedes fallende Blatt zeugt möglicherweise von einer unsichtbaren Macht, die die Welt durchströmt. Und kann es ein besseres Bild für ihre Musik geben, als eine Million Türen, von denen jede zu einer weiteren Million führt?” [1].
Das Lied beginnt mit dem Wort “Ich”, die Sängerin spricht in der ersten Person. Sie singt davon, wie man aus den Augen anderer Leute verschwinden kann, wie man sich unsichtbar machen kann. Das Lied erzählt aber auch vom Wunsch danach, neue Wege und neue Möglichkeiten erkunden zu können. Es ist ein Eintauchen in die Welt des Übernatürlichen, der Geheimnisse, der verborgenen Möglichkeiten. Inhaltlich sind wir damit bei Themen, die sich wie ein roter Faden durch das Schaffen von Kate Bush ziehen.
Wie so oft bei Kate Bush gibt es eine literarische Beeinflussung. In einer Besprechung zu “Aerial” [2] findet sich ein Verweis auf die Fantasy-Trilogie “His dark materials” von Philip Pullman (Zitat: “How To Be Invisible is a great song with a possible hint of His Dark Materials, describing a secret recipe for not being seen.”). Aus einem Interview mit Del Palmer [3] erfährt man, dass der Schriftsteller offenbar mit Kate Bush Kontakt hatte. Del Palmer streitet nicht ab, dass es Beziehungen zwischen diesem Song und den Fantasyromanen geben könnte (“Yes, it does I Suppose”). In der Trilogie wird die Geschichte eines jungen Mädchens (Lyra Belacqua) erzählt, das in einer magischen, feindlichen Welt zu sich selbst finden muss. In dieser Welt haben Personen die Eigenschaft, sich unsichtbar zu machen, indem sie sich quasi vor den Blicken anderer ausblenden. In dieser Welt können Menschen Türen zu anderen Welten öffnen. Da Kate Bush später den Song “Lyra” zur Verfilmung des ersten Romans beisteuerte, erscheint es wahrscheinlich, dass sie sich auch vorher schon mit den Romanen beschäftigt hat. Die Themen des sich Findens, des Wanderns zwischen den Welten, die Stimmung des Übernatürlichen – das spiegelt sich wider.
Der eingängige Ton des Songs wird durch eine mysteriöse Beschwörung unterbrochen. Es ist Musik wie aus einer fremden Zeit. Mit ganz merkwürdigen Tönen (die an quietschende Türen erinnern) wird ein Zauberspruch gesungen. Ich musste sofort an die Beschwörungen der Hexen in Shakespeares “Macbeth” (4. Akt, Szene 1) denken. Während dort mit Ingredienzen von Fabeltieren usw. gearbeitet wird, geschieht hier der Zauber mit Bestandteilen der Gegenwart. Das Auge der Blindenschrift wird verwendet, der Saum des Anoraks, der Blütenstil des Mauerblümchens, ein Haar der Türmatte. Dies sind alles Dinge, die mit dem Verbergen, dem nicht gesehen Werden, dem unsichtbar Werden zu tun haben: die Schrift der nicht Sehenden, der Anorak in dem man sich verstecken kann, das von niemanden beachtete Mauerblümchen, die Türmatte vor der alles verschließenden Tür. “Wallflower”, “Doormat” und “Anorak” – das sind umgangssprachlich Personen, die nicht beachtet werden. “Doormat” ist eine Person, auf der alle nur herumtrampeln, ein “Anorak” ist der typische Nerd, das Mauerblümchen wird links liegengelassen. Durch den Zauberspruch wird man unsichtbar, weil man sich in eine Person verwandelt, die übersehen wird.
In der zweiten Strophe singt Kate von den Millionen Korridoren, Türen und Möglichkeiten, die sich in der Welt des Unsichtbaren ergeben. Oder in der Welt insgesamt, wenn man unsichtbar ist? Geheimnisse deuten sich an, auch im musikalischen Ton. Aber auch die Gefahren werden geschildert (in der dritten Strophe), wenn man sich in das Unsichtbare begibt. Sind Geräusche draußen natürliche Geräusche, oder bewegt sich dort jemand im Verborgenen (“Is that an autumn leaf falling? Or ist that you, walking home?”)? Die Stimmung des Liedes ist nun fast von Düsternis geprägt. Diese Passage wird durch einen geheimnisvollen und unwirklichen Frauenchor begleitet, der so klingt als ob die Hexen aus Macbeth jetzt in der realen Welt singen. Manchmal hört es sich an, als heule der Wind durch leere Gänge. Ganz zum Schluss des Songs gibt es wieder dieses Pfeifen, ein bisschen wie das Pfeifen in einem dunklen Wald. Das Labyrinth des Unsichtbaren ist betreten worden.
Die Strophe über die Millionen Korridore spielt mit Themen wie der Abkapselung von der Umwelt und dem Versenken in die eigene Vorstellungs- und Gedankenwelt. Es geht um eine “Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Innenlebens” (so 1911 vom Schweizer Psychiater Bleuler zum Themas Autismus, [4]). War Kate als Teenager nicht auch sehr introvertiert? Und scheute sie nicht jahrelang die Öffentlichkeit? Hochbegabungen und ein in sich selbst Zurückziehen sind nicht selten gekoppelt. Meiner Ansicht nach spricht viel dafür, dass sie hier auch ein Lied über sich selbst geschrieben hat, über ihre Situation in den zwölf Jahren vor “Aerial”, über ihr langjähriges Verschwinden, über ein dadurch mögliches befreites und selbstbestimmtes Leben. “How to be invisible” ist Kate Bushs dargelegter Zauber, vor der Welt unsichtbar zu werden. Es ist aber auch ein Lied darüber, welche unbekannten Welten sich öffnen, wenn man so wie sie als Teenager den Schritt in die Musik wagt.
Das Schöne an “How to be invisible” ist, dass es trotz dieser vielen verschiedenen Bezüge eine Einheit ist. Es zeichnet Kate Bush aus, dass sie fast spielerisch ganz gegensätzliche Elemente zu etwas Perfektem verschmelzen kann. Sie wirft merkwürdige Ingredienzen in ihren Kessel und heraus kommt ein Zauber. Genau das ist ihre Hexenkunst.
Achim/aHAJ)

[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 379
[2] Jim Irvin: Aerial. Mojo 12/2005
[3] “The Del Palmer Interview”. Homeground 78. S.16
[4] http://www.autismus-nordbaden-pfalz.de/autismus.htm (gelesen 30.12.2014)

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Humming

I’m Still Waiting

In Search Of Peter Pan

Ich vermute, selbst wenige Fans von Kate Bush haben diesen Song schon mal aufmerksam angehört. Es ist einer der „Nebensongs“ auf „Lionheart“, ihrem unterschätztestem Album. Ich gebe zu, mir ging es ebenso. Ich habe ihn zuerst für eine Kleinigkeit gehalten, ein Stück, das man so im Vorbeigehen hört und über das man nicht tiefer nachdenkt. Ich bin in guter Gesellschaft, auch den Biographen fällt nichts zu ihm ein. Was kann ich über diesen Song schon schreiben, so mein Gedanke. Was für eine Fehleinschätzung! So wie man die Schönheit eines kleines Veilchens auch erst bemerkt, wenn man näher hinschaut, so ist es auch bei diesem Song.

„Lionheart“ ist voller schöner, melancholischer Lieder, alle etwas zurückgenommen im äußeren Ausdruck, mehr innerlich. Es fehlt das vordergründig Spektakuläre. „In Search of Peter Pan“ ist der zweite Song auf dem Album. Es ist ein älterer Song, keine Neukomposition für das Album. Kate Bush schrieb nur drei neue Songs für „Lionheart“. Sie musste ältere Songs verwenden, da zwischen der Veröffentlichung von „The Kick Inside“ im Februar 1978 und der Veröffentlichung von „Lionheart“ am 13. November nur eine kurze Pause bestand [9]. Viele schließen von „älterer Song“ auf „Resteverwertung, also nicht so gut“, aber das ist ein Fehlschluss. Er passte in seinem sublimen Stil einfach nicht in die exaltierte Welt des ersten Albums.
Wie so oft zeigt sich Kate Bush auch hier von Literatur, Film und Fernsehen beeinflusst. Hier geht es um den Peter Pan, der immer jung bleiben will, wie Kate Bush sagt: „I refer to Peter Pan because he stands for a lot of things. He always has and he always will. People just don’t want to grow up, so I think he’s everyone’s favourite whether they like it or not.“ [1]
Der Titel mit seiner Reminiszenz an Peter Pan suggeriert erst einmal etwas Unschuldiges, aber der Song ist durchzogen von Dunkelheit. Kate nimmt hier die Perspektive eines Jungen ein – „When I am a man“ deutet darauf hin. Der Text zieht einen mit Wucht hinein in eine Situation: „Running into her arms / At the school gates / She whispers that I’m a poor kid / And Granny takes me on her knee / She tells me I’m too sensitive / She makes me sad / She makes me feel like an old man“ [3]. Es geht um das Verlieren der Unschuld beim Erwachsenwerden, um das verlorene Paradies, um das Auswischen der Unbefangenheit und Reinheit durch die Erwartungen der Umgebung, so sagt es Kate Bush selbst: „There’s a song on it called „In Search of Peter Pan“ and it’s sorta about childhood. And the book itself is an absolutely amazing observation on paternal attitudes and the relationships between the parents – how it’s reflected on the children. And I think it’s a really heavy subject, you know, how a young innocence mind can be just controlled, manipulated, and they don’t necessarily want it to happen that way. And it’s really just a song about that.“ [2]
Die Umgebung, in der ein Kind aufwächst, beeinflusst das Kind und zerstört die unschuldige Kind-Welt, das ist das Thema. Gibt es einen Weg hinaus? Kann man beim Erwachsenwerden etwas von dieser Kind-Welt retten? Darüber singt Kate Bush in diesem Song. Dabei nimmt sie Peter Pan und seine Geschichte als Ansatz. Der Schriftsteller James Matthew Barrie ließ sich bei der Namensgebung für Peter Pan von Pan, einem Gott der griechischen Mythologie, inspirieren [8]. Dieser Gott „repräsentiert die Natur oder den natürlichen Zustand des Menschen im Gegensatz zur Zivilisation und den Auswirkungen der Erziehung auf das menschliche Verhalten“ [8]. Peter Pan weigert sich, erwachsen zu werden. Er steht für die Kindheit als endlosen Zustand und das sich aktive Auflehnen gegen das Erwachsenwerden. Kate Bush hat diesen Song in einem Alter geschrieben, in dem sie wohl selbst voll in diesem Prozess stand. Ihr in diesem Song gewählter Weg unterscheidet sich aber von dem Peter Pans: Im Chorus bekräftigt sie ihren Wunsch, erwachsen zu werden. Sie will aber irgendwann Peter Pan finden und auf diese Weise der Falle des Erwachsenenlebens entkommen.

Das Leben ist für Kate Bush kein ewiges Nimmerland. Es ist naiv zu glauben, dass man für immer an kindischen Dingen festhalten kann. Aber die kindliche Welt ist ein wichtiger Teil ihrer Welt, diese Welt stellt eine Alternative zur Eintönigkeit des Erwachsenseins dar. Deswegen möchte sie den Zugang nicht verlieren. „In Search of Peter Pan“ ist voll von jugendlichem Schmerz. Zu Beginn des Songs hat der Protagonist (dass es ein Junge ist, erweist sich erst im Chorus) aufgegeben und erklärt, keine Zukunft mehr zu sehen – „I no longer see a future“. Jeder muss seinen eigenen Ausweg, Fluchtweg finden. Für Dennis, einen Freund des Protagonisten, besteht es darin, sich schön zu finden – „Dennis loves to look / In the mirror / He tells me that he is beautiful“ und ein Foto seines Helden als Talisman zu haben – „He’s got a photo / Of his hero / He keeps it under his pillow“. Das ist eine Flucht ins Äußerliche, für mich nimmt Kate Bush hier den Instagram/Influencer-Weg visionär vorweg. Der Blick von Kate Bush aber geht ins Innere. Die eigene Phantasie ist eine Zuflucht.  Ganz zum Schluss fügt Kate Bush einige Zeilen aus dem Soundtrack des Disney-Films „Pinocchio“ hinzu: „When you wish upon a star / Makes no difference who you are / When you wish on a star / Your dreams come true“.  Es ist einer der ganz seltenen Fälle, dass Kate Bush in ihrer Musik andere Musik zitiert, auf die besondere Bedeutung dessen werde ich noch zurückkommen. So für sich genommen fügt es es dem Song eine poetische Farbe hinzu. Um die Bedeutung dieses Zitats später in der musikalischen Analyse erfassen zu können, ist seine Herkunft zu beleuchten. „When You Wish upon a Star“ wurde im Jahr 1940 von Leigh Harline und Ned Washington geschrieben. In der Fassung von Cliff Edwards gewann es für den Disney-Film „Pinocchio“ den Oscar in der Kategorie Bester Song [6]. „Im Film singt Jiminy Grille zunächst das Lied, das davon handelt, dass Wünsche wahr werden, um danach die Geschichte von Pinocchio zu erzählen. Das Lied wurde im Laufe der Jahre zu einem Erkennungszeichen von Disney und wurde in den 1950er und 1960er Jahren als Titelmelodie der Disney-Fernsehshows verwendet. Auch heute wird das Lied im Vorspann von Disney-Filmen verwendet als Teil der Logo-Animation“ [6]. Hört man „In Search of Peter Pan“, dann fällt einem die Intimität auf, die zarte Gestaltung, aber auch die feinen Abstufungen im Ton. Es gibt keine große Melodie, es sind nur kleine musikalische Motive, die zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Der Gesang von Kate Bush ist Ausdruck pur.

In der musikalischen Analyse des Songs beziehe ich mich auf die vorliegende Partitur [3], die Bedeutung der Tonarten orientiert sich an Beckh [4]. Wie so oft bei Kate Bush sind die Tonarten unglaublich sensibel eingesetzt. Der Song ist im reinen, unaufgeregten 4/4-Takt gehalten. Nach einer Klaviereinleitung beginnt das Lied mit der ersten Strophe, träumerisch und melancholisch. Notiert ist das ohne Vorzeichen, nüchtern und erdgebunden. Die Tonart ist ein a-Moll, die Musik beginnt und endet mit diesem Akkord. A-Moll ist eine schwermütige, poetische Tonart. Sie steht für die romantische Zwienatur, die Zwielicht-Natur, es ist die Sehnsuchtstonart. Der Protagonist fühlt sich in seinem Leben nicht richtig zuhause, sehnt sich nach der Freiheit der Jugend, die Tonart passt. Zu „[…] sensitive, she makes me sad“ kommt ein Gis in der Melodie dazu, dazu ertönt der E-Dur-Akkord. Das ist auf einmal für einem Moment ein E-Dur. E-Dur, das ist die wärmste aller Tonarten, sie steht für Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit, Liebeswärme. Dieser Akkord genau zu „sensitive“ sagt aus, was dem Protagonisten im Inneren auszeichnet: Herzensinnerlichkeit. Das ist das, was er beim Erwachsenwerden nicht verlieren will.
Im Chorus klingt die Musik entschiedener, aufgeregter, rhythmischer, die Stimme klingt erwartungsvoller. Unterstrichen wird das musikalisch dadurch, dass die Harmonik allmählich in immer weiter entfernte Tonarten wechselt. Die Chorus-Zeilen haben nichts mit der rauen Realität zu tun. In dieser „Drift“ der Tonarten geht es auf kleinem Raum vom a-Moll der Realität über G-Dur und h-moll zu cis-Moll immer weiter weg von a-Moll und dann über h-Moll wieder zurück. Das muss man sich Stück für Stück anschauen. „They took the game right out of me“ steht in G-Dur, ein Fis kommt als Melodieton dazu. Das ist eine Übergangstonart, noch nah an a-Moll, es ist die Tonart der Dominante der Dur-Parallele. Hier ist der Protagonist noch halb in der Realität, aber fühlt sich schon anders, es ist eine Art Erkenntnis. G-Dur ist die sprießende Blütenfülle der Maienzeit, das Sprießende, Blühende überhaupt, die Liebesoffenbarung im Werden der Natur. Ist es das, was „out of me“ gerissen wird? Ist das die Erkenntnis? Die Interpretation der nächsten Passage ist einfacher.

„When I am a man“ steht in h-Moll – der h-moll-Akkord ist da, Cis und Fis kommen als Melodietöne dazu. H-Moll – Empordringen, Emporstürmen mit Abgrundgefahr, das sich erheben wollen aus den Abgründen. Man merkt an dieser Tonart die Entschiedenheit, aus dem „Abgrund“ des Erwachsenseins auszubrechen, zu kämpfen. Danach folgt ein Takt ohne Gesang nur mit dem A-Dur-Akkord. Der Akkord ist ein Übergangsakkord, gehört sowohl zu h-Moll als auch zu cis-Moll. Das wirkt wie ein Nachsinnen, ein Innehalten. A-Dur ist die Tonart der Lichteshöhen, sie symbolisiert das Lichte, Überirdische. „When I am a man“ war der Aufbruch, nun ist die Höhe der Erkenntnis erreicht. Weiter geht es: „I will be an […]“ steht in cis-Moll. Der cis-Moll-Akkord ist da, in der Melodie kommen die Töne Cis, Dis und Fis dazu. Cis-Moll, leuchtende Schönheit und Wärme, in ein Element von Schwermut und Sehnsucht getaucht. Diese Tonart eröffnet alle in unseren Herzen verborgenen Quellen der Sehnsucht. „I will be an“: das ist der Wunsch, der Traum, der Wille, die Erfüllung der Sehnsucht. Jetzt hat sich die Musik dem Traum voll geöffnet, harmonisch geht es jetzt wieder zurück. „ […] astronaut and find peter pan / Second star on the right / Straight until morning“ steht wieder in h-Moll, Fis und Cis sind Melodietöne. „Second star …“ ist ein Chor, von Kate gesungen, wie aus der Ferne. Es klingt wie eine Wegweisung. Wir sind wieder in h-Moll, beim Empordringen, Emporstürmen mit Abgrundgefahr, beim sich erheben wollen aus den Abgründen. Auch nach dem Erreichen der Erkenntnis geht die Suche weiter. Das Schluss-Zitat aus „When you wish upon a star“ steht wieder in a-Moll. Wir sind wieder in der Realität. Dieses Pinocchio-Zitat wird von Kate Bush gesungen, wie aus der Ferne. Zum Schluss verlässt die Melodie das Zitat und geht hinab in die Tiefe, sie verschwindet förmlich. Was hier in diesem Schluss passiert, das ist schon ganz besonders. Im Original steht das zitierte Lied in E-Dur und nicht in Moll [5]. E-Dur hatten wir schon einmal kurz bei „sensitive“, das ist die wärmste aller Tonarten, sie steht für Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit, Liebeswärme. Dieser Optimismus ist nun ins Melancholische gekehrt. Was bedeutet das für das „When you wish upon a star / Your dreams come true“? Um einen Stern zu erreichen, muss ein realistischer Mensch Astronaut werden, das wünscht sich der Protagonist auch. Sie nimmt das zuckersüße Disney-Markenzeichen und taucht es in Realismus.
Christine Kelley hat das sehr treffend beschrieben: „This is the Disney theme song, the saccharine aphorism on which their brand is constructed. Bush is quoting the most fantastical idea of childhood possible. Yet she takes this overused quote and turns it into the song’s most interesting musical moment. She sings the quote in a minor key, slowly descending as she does it. It’s not a straight quote; Bush outright warps the song. As Bush won’t pretend childhood is without pain, depictions of it must reflect some kind of wrongness and pain.“ [7] Das „Your dreams come true“ wird durch diese Wendung nach Moll und dieses Herabsinken der Melodie ins Ungewisse gezogen. Ist das nun eine gute oder eine schlechte Botschaft, die Kate Bush uns da mitgibt? Es ist auf jeden Fall so, dass man für seine Wünsche arbeiten muss. Zumindest muss man wohl eine Art Seelen-Astronaut werden! Ich finde es ganz wunderbar: In diesem zurückhaltenden Lied steckt Magie, kindliches Staunen und Schönheit. Nuancen verstecken sich auf kleinstem Raum. In diesem Lied verbirgt sich eine Botschaft an uns: ja, Träume können wahr werden, aber nicht einfach so. Tu etwas dafür! Glaube nicht an die zuckersüßen Versprechen der Disney-Welt! © Achim/aHAJ

[1] „With Love from Kate“ & Interview, Kate Bush Club Ausgabe 5, 4/1980.
[2] Lionheart Promo Cassette. EMI Canada
[3] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.103f
[4] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.78f (a-Moll), S.136f (A-Dur), S.182 (h-Moll), S.216 (G-Dur), S.263 (E-Dur)
[5] https://www.fingerstyle-guitar-today.com/when-you-wish-upon-a-star-fingerstyle-guitar-ta.html (gelesen 11.03.2023)
[6] https://de.m.wikipedia.org/wiki/When_You_Wish_upon_a_Star (gelesen 11.03.2023)
[7] https://katebushsongs.wordpress.com/2019/04/12/in-search-of-peter-pan/ (gelesen 03.02.2023)
[8] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Peter_Pan (gelesen 01.04.2023)
[9] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.142

In The Warm Room

James And The Cold Gun

„James And The Cold Gun“ ist ein Song vom Debütalbum „The Kick Inside“, den das Publikum nicht so im Blick hat. Graeme Thomson hat Recht damit, dass er „ein ordentlicher Rocksong mit viel Dramatik ist, [der] das Album vielseitig macht und besonders live zu Leben erwacht“ [1, S. 121]. Viel mehr Aufmerksamkeit wird dem Song von den Biographen leider nicht geschenkt, was unverdient ist (dazu später mehr). Interessant ist für die Biographen die Geschichte des Songs.
Kate Bush hat „James And The Cold Gun“ Anfang der siebziger Jahre geschrieben [4]. Offenbar wurde hier die Melodie einer noch früheren Komposition „Pick the rare flower“ genommen und mit einem neuen Text versehen [1, S.88]. Als Kate Bush zu Beginn ihrer Karriere mit ihrer „KT Bush Band“ in Pubs auftrat, gehörte das Lied zu den Rennern. Er eignet sich mit seinem vorwärtstreibenden 4/4-Takt [2] auch wunderbar für Liveauftritte. Auf dem Debütalbum ist er eindeutig der rockigste Track, der geradezu danach ruft, auf einer Bühne präsentiert zu werden. Er hat eine gewisse Fröhlichkeit und Leichtigkeit, die dafür genau richtig ist.
Der Song sollte nach dem Willen der EMI die erste Single von Kate Bush werden [1, S.120], der Plattenfirma erschien dies wohl gerade wegen der Eingängigkeit als die beste Wahl. Ich kann dies nachvollziehen: wenn man eine neue Künstlerin der Welt vorstellen will, dann versucht man etwas Zugängliches zu nehmen. Aus Sicht einer Plattenfirma wäre die Chance da gewesen, dass der Song in den Charts gut abgeschnitten hätte. Ich glaube aber, dass es keine gute Entscheidung gewesen wäre. „The Kick Inside“ ist voll mit unkonventionellen, überraschenden Songs, man hätte mit einer Rocknummer wie „James And The Cold Gun“ falsche Erwartungen erweckt. Er ist nun einmal viel konventioneller klingend als der Rest. Nein, es war gut, dass sich Kate Bush mit „Wuthering Heights“ gegen EMI durchgesetzt hat, dem wohl unkonventionellsten aller Debüts überhaupt. Kate Bush begründet ihre Entscheidung sehr klar so: „I felt that to actually get your name anywhere, you’ve got to do something that is unusual, because there’s so much good music around and it’s all in a similar vein. It was, musically, for me, one of my strongest songs. It had the high pitch and it also had a very English story-line which everyone would know because it was a classic book.“ [5]

Für mich nicht ganz nachzuvollziehen ist aber, warum „James And The Cold Gun“ dann keine Folgesingle geworden ist. Er hätte Erfolg gehabt, hätte eine ganz andere Seite von Kate Bush gezeigt. Manchmal ist die Musikwelt eben ein Rätsel. Aber vielleicht ist der Song wirklich live am besten aufgehoben. Es ist ein Song für das Kneipenpublikum, passend zu Marvin Gaye und den Rolling Stones [1, S.97]. Der Auftritt dazu wurde mit Trockeneismaschine und Gewehrattrappen aufgepeppt. [1, S.97]. Brian Bath, Mitglied der „KT Bush Band“, schildert den Auftritt eindrücklich: „Rob got a dry ice machine from somewhere. We used that on stage for ‚James And The Cold Gun‘ and it looked great. We had a bit of a show going! Kate did a costume change, she’d put on a bloomin‘ Western cowgirl dress for the second set! The theatrical thing was starting to get there“ [4]. Auch bei Del Palmer hinterließ der Auftritt bleibende Eindrücke: „She was just brilliant, she used to wear this big long white robe with coloured ribbons on or a long black dress with big flowers in her hair. She did the whole thing with the gun and [the audience] just loved it. She’d go around shooting people.“ [4]
In der „Tour of Life“ 1979 wurde der Song mit aufgenommen und diese Bilder wurden fast identisch übernommen, Kate Bush nutzte Elemente dieser Original-Performances von 1977 [4]. Es war unbestritten der Höhepunkt und Schlusspunkt der Show vor den Zugaben. Kate Bush schießt zum Abschluss alle nieder, Graeme Thomson nennt das eine „umwerfende dramatische Verkörperung weiblicher sexueller Macht“ [1, S. 174]. Das ist schon eine interessante Geschichte rund um diesen Song, die Biographen lassen es dabei bewenden. Aber hinter der Leichtigkeit verbergen sich doch überraschend spannende Details, die „James And The Cold Gun“ auf verborgene Weise tiefgründig machen.
Interessant ist der Blickwinkel der Geschichte. James ist nicht da, die Protagonistin singt ihn in Abwesenheit an, zusammen mit vielen weiteren Stimmen im Hintergrund. James ist abwesend, seine Freunde wollen ihn dazu bringen, wieder zurückzukommen: „James come on home“ [2]. Wer ist überhaupt dieser geheimnisvolle James? Darüber kann man viele Spekulationen im Internet finden, es geht von James Bond bis hin zu einem Verweis auf den Thriller „The Day Of The Jackal“ von Frederick Forsyth [6]. Überzeugend ist das nicht, denn daraus spiegelt sich nichts im Song wieder, es gibt kein Echo. Kate Bush behauptet, James sei einfach nur ein Name: „I’ve had lots of letters about this, many from people called James, with plenty of suggestions for identities of the „James“, but the answer is: nobody. When I wrote the song, James was the right name for it“ [7].
Aber vielleicht lässt sich doch eine Inspirationsquelle finden, wenn man sich den Text und die Szenerie des Songs anschaut. Für mich scheint er in einer Art Western-Welt zu spielen. Der Text ist voller Western-Stereotype: da ist Jeannie in ihrem Messingbett, wartend, da ist die Gang, die sich betrinkt: „She’s still a-waiting in the big brass bed / The boys from your gang are knocking whiskey back“ [2]. Also ist James vielleicht ein Echo von Jesse James, dem Western-Outlaw. „James, are you selling your soul to a cold gun?“, das passt dazu. Interessanterweise findet sich das Messingbett mit der wartenden Frau auch im Song „Lay Lady Lay“ von Bob Dylan aus dem Jahr 1969 wieder: „Lay, lady, lay / Lay across my big brass bed“ [9]. Das ist ein Song, den man dem Genre Country zuordnen könnte, auch das passt zum Western-Thema.
Spannend ist, wie Kate Bush nun mit diesem Westernthema umgeht. Der Held ist nicht da, der Held ist abwesend, das ist ungewöhnlich. Jeannie wartet, auch seine Gang, und alle machen dem Helden Vorwürfe: „You’re running away from humanity / You’re running out on reality“ [8]. Im Hintergrund des Songs hört man die Begleitstimmen, von Kate Bush gesungen, die in den Rollen der unterschiedlichen Figuren schimpfen [1, S.111].

Christine Kelley hat es in einem Essay über diesen Song [8] gut erkannt: Kate Bush beschreibt einen Western, der von seinem Helden verlassen wurde und präsentiert uns in „James and the Cold Gun“ ein Genre, das mangels eines Protagonisten auseinanderfällt. Ohne den Helden ist kein Licht: „You left us to fight / But it just ain’t right to take away the light“ [2]. Auf leichte, lockere und doch dunkle Art hat Kate Bush einen Western um 180 Grad gewendet – und fast niemand hat es je bemerkt. Die Gestaltung der Tonarten passt zu dieser hintergründigen Dunkelheit. Der Song ist in b-Moll notiert [2]. Auf „Jeannie“ wechselt die Tonart im Chorus auf die Paralleltonart Des-Dur. Zum Schluss des Songs wechseln sich b-Moll- und Des-Dur-Akkorde ab, es endet auf b-Moll [2]. Nach Beckh [3] ist b-Moll eine ganz düstere Tonart, es ist die „Todestonart“, die „Tonart des Sterbens“. In Des-Dur kommt „ein sinnliches Element, eine gewisse sinnliche Süße“ dazu [3]. „Ein eigenartiger Abgrund zwischen Höhe und Tiefe scheint sich innerhalb dieser Tonart aufzutun“ [3]
Die Verwendung der Tonarten bei Kate Bush ist wie immer verblüffend. James scheint ganz klar in einer Welt des Todes zu leben. Die Welt seiner verlassenen Freunde steht dagegen in der Parallelen Dur-Tonart, ist süßer, verlockender, lebendiger – aber es ist einfach nur die Todeswelt etwas aufgehellt. Der Western ist ohne seinen Helden tot, ist eine Hülle. Kate Bush hat den Helden herausgedrängt und füllt dessen Welt mit dunklen Phantasien. Es ist fast witzig, dies einem mittanzendem Kneipenpublikum unterzujubeln. Graeme Thomson meint, dass „James And The Cold Gun“ „[…] ein wenig platt und formelhaft aufgebaut ist“ [1, S. 121]. Ich gebe ihm nur insoweit Recht, dass der Song vordergründig leicht zugänglich und fröhlich ist. Aber der Text und die Tonarten sprechen eine andere Sprache. Schaut man hinein in einen Song von Kate Bush, so findet man immer etwas Tiefes, Dunkles, Ungewöhnliches – so wie hier auch. Hier muss man bloß etwas länger schauen und sich aus dem Pub hinaus ins Dunkle begeben. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013.
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S. 106f
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S. 232ff
[4] https://www.katebushencyclopedia.com/james-and-the-cold-gun (13.01.2023 gelesen)
[5] Harry Doherty: „The Kick Outside“, Melody Maker, 03.06.1978
[6] https://genius.com/Kate-bush-james-and-the-cold-gun-lyrics (gelesen 28.08.2022)
[7] Kate Bush Club, Ausgabe 11/1979, http://gaffa.org/cloud/music/james_and_the_cold_gun.html (gelesen 13.01.2023)
[8] https://www.eruditorumpress.com/blog/james-and-the-cold-gun (gelesen 12.01.2023)
[9] http://www.bobdylan.com/songs/lay-lady-lay/ (gelesen 13.01.2023)

Jig Of Life

jigoflife

Es ist der Scheideweg in der grandiosen Suite “The Ninth Wave”: Zwischen dem geisterhaften “Watching You Without Me” und dem in den Weltraum hinauskatapultierten “Hello Earth” siedelt der “Jig Of Life” – als erdverbundener Anker, der versucht, die Protagonistin dem Tod zu entreißen.
Einmal mehr hat Bruder Paddy als Katalysator für Folkeinflüsse gewirkt. Der Titel des Stücks spielt auf einen Tanz im Dreiertakt an (Sechsachtel, Neunachtel oder Zwölfachtel), den Folkbegeisterte vor allem aus der irischen Tradition kennen, der aber überall auf den Britischen Inseln beliebt war. Der Jig hat es aber auch in die Kunstmusiksphäre geschafft, etwa in Barocksuiten, wo er als Gigue bekannt war. [1] Die Nähe zum Wort “Geige” deutet auf etymologische Beziehungen zur Geige hin – die lassen sich aber nicht eindeutig belegen. Oft steht aber tatsächlich die Geige im Mittelpunkt, wenn ein Jig gespielt wird. Die Geige als kreisendes, tranceförderndes Instrument, bevor sie als “Violine” domestiziert wurde, so kennt man sie aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit, wenn zum Veitstanz aufgespielt wurde. Und auch Gevatter Tods Instrument ist die Geige, Begleiterin an der Pforte zwischen Dies- und Jenseits, diejenige, die zum ewigen Karussell von Vergehen und Neuwerden ihre Saiten schnurren lässt.
In einer solch dramatisch aufgeladenen Sphäre zwischen Leben und Tod ist auch “Jig Of Life” angesiedelt: “Now is the place where the crossroads meet.” Die Ertrinkende, die eben noch als Gespenst durch ihr eigenes Haus irrte, erlebt eine weitere Vision, in der ihr eine alte Frau erscheint. Es ist sie selbst, in vorgerücktem Alter, und die greise Dame fordert sie resolut und nicht ganz uneigennützig auf, ihr Leben nicht jetzt schon aus der Hand zu geben. “Never, never, never say goodbye, to my part of your life.” Wie Kate diese Zeile und überhaupt den ganzen, auf wenigen Tonwiederholungen verharrenden Text singt, das kann einem Schauer über den Rücken jagen, die alles andere als wohlig sind. Eine dunkle, suggestive Färbung hat sich ihrer Stimme bemächtigt, die manchmal ins Furienhafte hineinspielt. Bei all der düsteren Stimmung beherbergt diese Vision auch spannende Gedankenexperimente, allen Science Fiction-Fans vertraut, die sich für Raum-Zeit-Paradoxien begeistern. Diejenige, die da im Spiegel sitzt, kann es gar nicht geben, wenn ich auf der anderen Seite des Glases jetzt sterbe, folglich kann sie sich auch nicht an mich erinnern, und die zukünftigen Kinder, die im Text beschworen werden, erst recht nicht.
Dieser faszinierende, urwüchsige, bedrohliche Kreislauf des Lebens also, er wird als Folkdrama vertont. Viele der regulären Bandmusiker schweigen, Kate hat ihre Lieblingsfolkies verpflichtet, die teilweise schon auf “Night Of The Swallow” drei Jahre zuvor zu hören waren: Der Fiedel- und Pfeifenmeister John Sheahan, Bouzouki-Crack Dónal Lunny, Liam O’Flynn am irischen Dudelsack – Legenden von den irischen Folkgruppen Planxty und Dubliners. Doch der Jig ist gar kein irischer, und erst der Instrumentalteil ist im Dreierrhythmus, wir müssen ihn also als Abstraktum, als Kreisen des ewigen Rades begreifen. Paddy Bush, Schatzsucher in den Musikkulturen der Welt, hat hier ein Traditional aus Griechenland an Land gezogen: Die Musik stammt aus den archaischen Anastenaria-Ritualen, die alljährlich in Nordgriechenland und Südbulgarien gefeiert werden. Die Bevölkerung der Dörfer ruft den Schutz des heiligen Konstantin und der heiligen Helene an, bezieht aus der Wirkung des unablässig sich wiederholenden Tanzens, die Kraft, barfuß durchs Feuer zu gehen. [2] (Randbemerkung für alle Weltmusikfreaks: Die kreisende Fiedel ist während dieser Rituale eine auf den Knien gehaltene Kemençe.) Die Musik wurde – wohl im Teamwork von Paddy und Kate – aus dieser rudimentären Form heraus noch erheblich weiterentwickelt. [3] Ob keltisch oder südosteuropäisch, die Vollblutmusiker aus Dublin leisteten in den Windmill Lane Studios ganze Arbeit, während Kate noch fieberhaft am Text arbeitete. Sie schufen einen Sog, der einem akustischen Maelstrom gleicht.
Zurück in der East Wickham Farm wurden dann noch zwei Krönchen auf den Track gesetzt. Drummer Charlie Morgan erinnert sich, wie Kate ihn aufforderte, auf die bestehenden Schlagzeugspuren vom Kollegen Stuart Elliott nochmal 24 draufzusetzen, mit jedwedem Klatsch,- Stampf-, Hämmer- und Paukengeräusch, das er erzeugen konnte. [4] Das hat den “Jig Of Life” erst so richtig erdig gemacht, zu einem Tanz, der wuchtig ins Parkett gehauen wird. Ich kann keinen Hehl draus machen, dass mich die letzte Zutat nie überzeugt hat. Es ist Jay Bushs sechzehn Zeilen umfassendes Gedicht, das die messerscharfen, kurzen Zeilen des vorherigen Textes poetisch überhöht und weiterführt. (Die Passage “We Are Of The Going Water…” taucht schon in der Eröffnung von “Waking The Witch” auf). So kraftvoll und bildgewaltig dieses Poem ist, im wirbelnden, turbulenten Kontext wirkt es künstlich aufmoduliert, verwirrt mehr, als dass es zur Geltung kommen kann. Für mich hätte dieser Tanz des Lebens ein viel überzeugenderes Ende gehabt mit dem gewaltsamen Abbruch in der gesprochenen Zeile “I put this moment here” und dem direkten Übergang zu “Hello Earth”. Kate findet an dieser Stelle einen Ausstieg aus dem betörenden Strudel, aus dem ewigen Kreislauf. Schon vorher heißt es ja einmal “This moment belongs to the One-Hand-Clapping”, eine Anspielung an das Zen-Koan “Hörst du das Klatschen der einen Hand?”[5] Das lässt sich nur in tiefer Meditation erfahren, abseits von allem weltlichen Getümmel. Mit diesem Paradox hätte es direkt in die Auflösung des Raum-Zeit-Kontinuums gehen können, im Schwebeflug Richtung “Hello Earth”.   Stefan

[1] J.B.Metzler Musiklexikon, Bd.2, S.242/3, Weimar 2005
[2] http://press.princeton.edu/titles/4420.html
[3] https://www.youtube.com/watch?v=dCEk2No6Sww
[4] DVD „Hounds Of Love – A Classic Album Under Review“, Pride Production 2008
[5] http://buddhism.about.com/od/whoswhoinbuddhism/a/hakuin.htm

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Joanni

joanni

Dieser Song ist einer derer, die auch von den Fans weniger beachtet werden. Zuerst konnte auch ich mich nicht so richtig mit ihm anfreunden – es hat gedauert, bis er “gezündet” hat. Aber er muss für Kate Bush etwas Besonderes sein, er hat seinen Weg in die “Before the dawn”-Show gefunden. Es ist also an der Zeit, sich seiner subtilen Komplexität zu widmen.
“Joanni” ist eines der Lieder von Kate, die sich mit einer realen Person der Vergangenheit beschäftigen. Diese zeitgeschichtlichen Lieder finden sich auf vielen ihrer Alben (Beispiele sind “Houdini”, “Delius”, “King of the Mountain”). In ihnen wird jeweils ein ganz konkreter Aspekt einer Person bzw. eine ganz konkrete Person textlich und musikalisch beleuchtet. Das Wesen einer Person, der Bedeutungsinhalt einer Situation wird wie durch ein Brennglas gebündelt und konzentriert. Es geht um die Erleuchtung eines Mythos.
Joanni handelt von Johanna von Orleans. Es ist ein Lied über eine fast schon sagenhafte Gestalt der Historie. Ein junges Bauernmädchen von göttlichen Visionen getrieben bezaubert ein Heer, führt es zum Sieg. Dann verraten, verbrannt, rehabilitiert, heiliggesprochen. Eine Heiligengestalt, eine Heldengestalt. Das Lied versucht, einen Moment der Faszination wiederzugeben.
Im Booklet ist auf der Joanni-Seite Kate Bush abgebildet, wie sie den Betrachter anschaut. Sieht sich Kate ein bisschen wie Joanni? Schildert sie sich in diesem Lied selbstironisch als das (immer noch) junge, kriegerische, von ihrer Musik besessene Mädchen, das ihre Fans mitreißt und sich das selbst nicht richtig erklären kann?
Die dargestellte Sicht ist die eines Beteiligten auf dem Schlachtfeld, der zuerst schildert, dann jubelt, dann mitmarschiert. Der Ton wandelt sich von neutraler Darstellung des Geschehens über Begeisterung zur Hingabe. Die Musik ist dabei durchsichtig und ruhig, enthält aber viele eingewobene Details im Hintergrund. Das ganze Lied ist gestaltet wie eine Mini-Oper über Faszination.
Der Beginn erinnert ein bisschen an den Stil von “Massive Attack”. Ein ruhig pulsierender Rhythmus erscheint aus dem Nichts, die Musik schwillt an, Spannung baut sich auf. Es lässt an Filmmusik und an eine Aufblende denken, Erwartung liegt in der Luft. Etwas beginnt ganz eindeutig.
Die Strophen sind kurze Situationsbeschreibungen. In der ersten Strophe wird das Schweigen und Verstummen beim Auftreten von Johanna geschildert. Die musikalische Umsetzung ist voll bebender, sich in der nächsten Strophe (wenn die Waffen nicht mehr schweigen) noch steigernder Erwartung. Jede Strophe endet mit einer verzückten, beinahe ungläubigen Betonung der Unglaublichkeit (“Who is that girl?”). Man kann die Aufregung mithören und mitfühlen. Ich fühle das Außerordentliche (Goldene), das sich in Johanna von Orleans verbirgt.
Die Stimme springt hier zwischen Tönen hin und her. Es ist keine richtige Melodie, eher kann man es als ein Rezitativ oder ein Melodram beschreiben, als Sprechgesang. Hinreißend, wie Kate Bush bei “all the cannon are firing” das “firing” singt! So viel Emotion in einem Wort…. dieses Beben, dieser Anflug von Furcht, dieses Zittern, ein Hauch von Begeisterung, von Vorfreude – dazu dieser Tonsprung nach oben – wie sie diese Gefühle weiterträgt Wort um Wort: Ich liebe diese Stelle. Kate Bush findet für jede Situation, für jede Emotion eine eigene Stimme. Da ist nichts Stereotypes, keine Oberflächlichkeit.
Der Refrain dagegen ist melodisch und jubelnd. Die Beobachtung geht in Enthusiasmus, Bewunderung und Begeisterung über. Die Stimme wird herausgerissen aus dem Sprechgesang und mitgerissen. Johanna wird beschrieben in ihrer Rüstung (so taucht sie auch in fast allen Heiligendarstellungen auf), aber hier wird auch jubilierend die Verkleinerungsform “Joanni” benutzt. Johanna ist bei aller Verehrung immer noch ein junges Mädchen. Im Schlussteil singt Kate dann in merkwürdig “knarzigen” Tönen. Ist dies der Gesang des mitgerissenen Soldaten? Ich höre das Vorwärtsmarschieren, das Knarren der Rüstungen, das Mitsummen.
In die Musik verwoben sind hier Stimmfetzen, einige fast unverständliche Worte auf französisch. Jeanne d’Arc gab an von himmlischen Stimmen besessen zu sein, neben der Stimme des heiligen Michael waren das die Stimmen der heiligen Katharina und der heiligen Margarita [1]. Dieser französische Text bezieht sich genau auf die historischen Tatsachen  – es sind die Stimmen, die Joanni hört, die sie als kleine Schwester (zukünftige Heilige) anreden, die vom Feuer reden (in dem sie schließlich sterben wird). “Les voix, les voix de feu, / Chante avec nous petite soeur, / Les Vox, les voix, les voix !” Die Stimmen sind auch ein Blick in die Zukunft, es ist eine verhüllte Todesankündigung. Hier zum Schluss des Songs überlagern sich die Erzählperspektiven der Soldaten und die von Joanni. Alle sind eins in der Vision.
Joanni – eine Minioper über die Macht der inneren Stimmen. Eine Minioper darüber, wie das eigene innere Glühen bei anderen Menschen Faszination und Ekstase auslöst. Bei genauer Betrachtung ist es ein sehr ungewöhnliches und unkonventionelles Lied. Alle sind eins in einer Vision – vielleicht ist auch deshalb dieser Song auf die Setlist für “Before the dawn” gekommen.
Achim/aHAJ)

[1] W.Bauer, I.Dümotz, S.Golowin,H.Röttgen: Bildlexikon der Symbole; München 1980; S.462 ff.

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Kashka From Baghdad

Ken

King Of The Mountain

kotm400

Wie eine Leuchtrakete des damals bevorstehenden Albums „Aerial“ stieg dieser Song nach Jahren der Stille auf und bescherte Kate Bush den größten Erfolg in den Singlecharts seit Jahren.
Der Song ist in seiner Grundstruktur aus Strophe, Chorus und kontinuierlicher Steigerung eingängig und war daher für eine Single eine gute Wahl. Es fällt aber auf, dass sich die musikalische Welt von Kate Bush einmal wieder verändert hatte. Ein ruhig pulsierender Rhythmus, ein Teppich aus windähnlichen Hintergrundgeräuschen, die Stimme allein ist für die Melodie zuständig. Ruhig gesungen, erwachsen, zurückgenommen in den Mitteln, warm und lebendig, irgendwie weit weg vom Mainstream der Popmusik – Stilmittel, die sich im folgenden Album dann mit Macht Bahn brachen.
Geschrieben und teilweise aufgenommen wurde „King of the Mountain“ bereits 1997, acht Jahre später wurde er dann komplettiert [1]. Die Grundidee stammt also aus der Anfangszeit des Rückzugs ins Private und diese Stimmung spiegelt sich mit ein bisschen Fantasie im Text wider. Kate verbindet dies mit zweien ihrer Hauptthemen: reale Personen mit ihren Mythen, Filme. Was wäre, wenn Elvis noch leben würde? Was wäre, wenn er einfach genug gehabt hätte von seinem Schloss Graceland und vom Druck der Öffentlichkeit? Was wäre, wenn er jetzt verborgen irgendwo in den Bergen als „king of the mountain“ sich des Lebens freuen würde – „in the snow with rosebud“? Mit dieser Zeile wird der Mythos Elvis verknüpft mit dem Film „Citizen Kane“, einem der berühmtesten und einflussreichsten Filme der Vierziger. „Citizen Kane“ beginnt mit dem Tod der Hauptfigur, die das Wort „rosebud“ murmelt und im Sterben eine Schneekugel fallen lässt. Rosebud war – so stellt sich im Lauf des Films heraus – der Name des Schlittens aus der Kindheit der Hauptfigur, die letzte Erinnerung an eine unschuldige Zeit, an ein Glück im Schnee. Auch Citizen Kane stirbt in einem gigantischen Schloss (voll mit „priceless junk“) genau wie Elvis.
Hinweise darauf, dass diese Geschichte auch für Kate Bush selbst von Wichtigkeit ist, lassen sich finden. Offenbar hing in Kates Wohnung eine Replik des Rosebud-Schlittens aus “Citizen Kane” [2]. Zudem soll ihr Sohn Bertie – jedenfalls im Jahr 2005 – ein begnadeter Elvis-Imitator gewesen sein [3], auch dies verweist auf “King of the Mountain”.
Es ist ein irgendwie melancholisches Lied, getrieben von der Sehnsucht nach einem Paradies wie in der Kindheit, ohne das Blitzlichtgewitter der Öffentlichkeit, ohne dumme Schlagzeilen der Boulevardpresse. Es ist ein Lied über die Suche nach dem Glück in der Einsamkeit. Citizen Kane ging traurig aus – im Schlussbild verbrennt der Schlitten und nimmt sein Geheimnis mit sich. Die Geschichte um Elvis Presley ging traurig aus – einsam und krank starb er in seinem Schloss. „King of the Mountain“ aber hat ein optimistisches Ende, wie das Video zeigt: Elvis lebt und ist glücklich im Schnee mit Rosebud. Der Wind schließt die Türen hinter der Vergangenheit und zu den leeren, verlassenen Palästen: „The wind it blows the door closed“. Ruhm und Geld interessieren nicht, sind wertlos. Von Wert ist das Paradies der Kindheit, die Familie, die Selbstbestimmung – symbolisiert durch den Schnee und den Schlitten.
Achim/aHAJ)

[1] Jenny Bulley: King of the mountain, Mojo 10/2014 S.62
[2] Interview in “Mojo” 12/2005, S.79
[3] John Mendelssohn: Warten auf Kate; Schlüchtern 2005; S.325

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Kite

Das ist ein Lied für den Sommer, so leicht, fröhlich und unbeschwert im „sanften Reggae-Rhythmus“ [1] kommt es daher. Die Stimme tänzelt und jubiliert über den Bassfundamenten und schwingt sich zu fast ekstatischen Höhen empor, wenn der Drache „over the moon“ hinausschießt. Dies ist der erste Eindruck beim Hören und auch den Biographen fällt nicht viel mehr dazu ein. Jovanovic [2] stellt immerhin fest, das die Strophen „tatsächlich gewisses Reggae-Feeling“ haben, dass aber der Refrain „wieder in klassisches Rockterrain“ führt.
Worum geht es in diesem Song? Ist es ein leichtgewichtiger Sommer-Sonne-Liebe-Text, den man schnell beiseite legen kann? Es ist das Gegenteil, die fröhliche Stimme erzählt eine fast schon unheimliche Geschichte. Die Protagonistin fühlt sich gefangen in ihrem Leben („My feet are heavy and I’m rooted in my wellios / And I want to get away and go“). Da tritt sie in Kontakt mit einer überirdischen Macht („There’s a hole in the sky / With a big eyeball / Calling me“), die ihr anbietet, sie aus ihrem Leben herauszuholen und in einen zweidimensionalen Papierdrachen zu verwandeln („Come up and be a kite“). Sie wird verwandelt, es ist faszinierend und fremdartig „over the moon“, doch sie sehnt sich zurück nach ihrer alten Existenz. Aber sie findet den Weg nicht mehr („Well, I’m not sure if I want to be up here, at all. / And I’d like to be back on the ground / But I don’t know how to get down, down, down!“). Fast den ganzen Song über kann man diesen Wunsch nach der Rückkehr hören, im Hintergrund taucht an verschiedenen Stellen leise ein „I wanna be home“ bzw. „I’d like to be down“ auf, eine zweite Stimme hinter der Erzählung selbst.
Kate Bush bestätigt in einem Interview, dass es genau um diesen Zwiespalt zwischen Wunsch und Wirklichkeit geht: „In the song the character starts to feel that he is rooted to the ground, but there is a force pulling him up to the sky. A voice calls out, ‚Come up and be a kite,‘ and he is drawn up to the sky and takes the form and texture of a kite. Suddenly he’s flying ‚like a feather on the wind,‘ and for a while he enjoys it, but the longing for home and the security of the ground overtake these feelings.“ [4]
Graeme Thomson mutmaßt, der Song spiegele die psychische Befreiung und die psychische Wandlung wider, die Kate Bush beim Tanzen erfahren hat [1]. Mit dieser Deutung kann ich mich nicht anfreunden – warum dann der Wunsch, wieder zurückverwandelt zu werden? Vielleicht geht es eher um die Verwandlung einer privaten Person in eine Person der Öffentlichkeit, die – einmal vollzogen – kaum noch umkehrbar ist. Die Plattenaufnahmen bedeuteten einen Schritt aus dem Privaten heraus, es ging los mit der Musik, es begann eine neue Zeit – das war verlockend, aber wohl auch ein bisschen erschreckend. Kate Bush wusste nicht, wie sich das entwickeln wird.
Kate Bush bezeichnete „Kite“ als ihren „Bob-Marley-Song“ [2], gab aber zu, dass er nicht leicht als ein solcher zu erkennen war “It was sparked off when I sat down to try and write a Pink Floyd song, something spacey; though I’m not surprised no-one has picked that up, it’s not really recognisable as that–in the same way that people haven’t noticed that Kite is a Bob Marley song, and Don’t Push Your Foot on the Heartbrake is a Patti Smith song.“ [3] Kate Bush spielt mit Elementen des Reggae und dies bestätigt ein Blick auf die Noten [6]. Der Song ist hauptsächlich im 4/4-Takt gehalten, es gibt aber Einschübe von 2/4-Takten an den Enden der Strophen und längere Passagen im 3/4-Takt. Diese 3/4-Passagen finden sich hauptsächlich in den Chorus-Abschnitten (z.B. ab „ooh what a diamond“). Der 3/4-Takt findet sich auch in der Coda, die dann aber im 4/4-Takt endet. Diese rhythmischen Abweichungen sind für einen Reggae nicht typisch, der normalerweise im 4/4-Takt steht und seine Spannung nicht aus metrischen Wechseln bezieht [7].
Weiter kennzeichnend für den Reggae ist eine Verschiebung der Taktschwerpunkte, die dieses ganz spezielle Reggae-Feeling erzeugen. „Beim ursprünglichen Reggae-Schlagzeug fällt auf, dass die Zählzeit 1 nicht betont wird. Der typische Reggae-Grundschlag hat den Betonungsschwerpunkt auf der Zählzeit 3 und wird meist von Bass- und Snare-Drum ausgeführt: Das Hi-Hat betont in der Regel die Afterbeats auf den Zählzeiten 2 und 4, die von Gitarre und/oder Keyboard gespielt werden.“ [7]. Diese den Song zum Tanzen bringenden Verschiebungen sind vielleicht das Kennzeichen, das auf „Kite“ am meisten zutrifft. Die Band hatte freie Hand, über den feststehenden Akkorden und unter der Melodie zu improvisieren [2] und hat vielleicht diese Reggae-Effekte herausgearbeitet.  Der Song steht hauptsächlich in B-Dur. Es gibt fast nur Dur-Akkorde im Song, nur ganz selten erscheinen Moll-Akkorde [6]. Dies sorgt für den fröhlichen Eindruck, die der Song vermittelt. Auch das ist für Reggae nicht typisch. „Im harmonischen Bereich unterscheidet sich der Reggae von anderen Arten der bluesbezogenen populären Musik, wie auch von seinem Vorläufer, dem Ska, durch die häufige Verwendung von Moll-Akkorden.“ [7]
Es gibt kürzere Ausweichungen nach C-Dur mit der Akkordfolge C-Dur/G-Dur/F-Dur/G-Dur [6]. Dies taucht immer dann auf, wenn es um den Kontakt mit der übernatürlichen Macht geht bzw. um die Konsequenzen der Verwandlung („My feet are heavy …. And I want to get away and go“, „And then I find it out …. There‘s a hole in the sky“, „l‘m 2.D. after a push …. I love the homeland“, „Well I‘m not sure … And I‘d like to be back“). Diese beiden Haupttonarten spiegeln dabei sehr fein den Konflikt der Protagonistin zwischen Verlockung (B-Dur: noch nicht das Licht selbst, aber die Ahnung des Lichts, die Hoffnung des Lichts, der Glaube an das Licht [8]) und nüchterner Betrachtung (C-Dur: der Durchbruch des Lichts, die Tonart des klaren Lichts [8]) wieder.
Insgesamt werden im Song eine Vielzahl von Akkorden verwendet. Auch dies ist für einen Reggae nicht typisch, da sich viele Reggae-Songs auf die Verwendung von zwei Akkorden beschränken [7]. Die Verwendung der zweiten mit dem C-Dur-Akkord beginnende Akkordfolge neben dem B-Dur findet sich aber vage im Reggae-Schema wieder. „Dem melodischen Prinzip, größere Intervalle zu vermeiden, entspricht die Tendenz, Akkorde zu gebrauchen, deren Grundtöne nur einen Ganzton auseinanderliegen.“ Größere Intervalle werden allerdings im Song nicht vermieden. „Kite“ ist also kein reinrassiger Reggae. Das Reggae-Gefühl wird hauptsächlich durch die Akzentverschiebungen ausgelöst. Kate Bush spielt mit Elementen des Reggae, deutet sie an, schmilzt sie in die Struktur ein, integriert die Elemente in ihr musikalisches Universum. Das „Kite“ mit seinem Zwiespalt zwischen Wunsch und Wirklichkeit für Kate Bush ein wichtiger Song ist, ist auch daran zu erkennen, dass es die Thematik auf das Cover des Albums geschafft hat. Die Protagonistin hängt an einem bunten Papierdrachen, im Hintergrund ist eine Andeutung des riesigen Auges des überirdischen Wesens zu sehen. Kate Bush gibt aber zu, dass alle Beteiligten hier im Überschwang des kreativen Prozesses ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen sind.
„I think it went a bit over the top, actually. We had the kite, and as there is a song on the album by that name, and as the kite is traditionally oriental, we painted the dragon on. But I think the lettering was just a bit too much. No matter.“ [5] Die so im Cover erzeugte Fremdartigkeit passt aber gut zum abgründigen Text (und natürlich auch zum Album und zur Künstlerin, weit weg vom Mainstream). „Kite“ ist ein Sommersong mit Tiefgang, in dem die Stimme wie ein bunter hin und her schwingender Papierdrache auf und ab tanzt. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH, S.109 u. S.116
[2] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.68
[3] Kate Bush: „Hello Everybody“ & Interview. KBC Ausgabe 2 (Sommer 1979).
[4] Robert Henschen: She’ll Crush The Lily In Your Soul. The Music Journal. Dezember 1978
[5] Donna McAllister: You Don’t Have To Be Beautiful… Sounds. 11. März 1978
[6] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987.  S.113f
[7] http://www.james.de/reggae/reggae07.htm (gelesen 08.07.2018) [8] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S.245 und S.71

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Lake Tahoe

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Dem Mysterium dieses Songs lässt sich einfach ausweichen, so wie es Tom Doyle tut [1]: “Here a Victorian female ghost surfaces from the waters of the titular lake ‘like a poor, porcelain doll’, before being reunited with her dog Snowflake in an apparition of her former home.” Man genießt ein wunderbar melancholisches, fast hypnotisch anmutendes Stück Musik mit einer merkwürdigen Geschichte – eben typisch Kate Bush – ohne sich tiefere Gedanken zu machen.
Für dieses Song-ABC habe ich “Lake Tahoe” mehrere Male hintereinander gehört, ich habe Musik und Text nebeneinander gelegt, beim nächsten Hören meine Eindrücke überprüft. Merkwürdiges ging dabei in mir vor. Mir war, als ob ich in einen Abgrund hineinschaue, vor dem sich Nebelschwaden langsam auflösen. Dieser Song hat neben dieser harmlosen Geschichte eine abgrundtief düstere zweite Ebene. Die folgenden Fragen haben mich misstrauisch gemacht, weil ich spontan keine Antwort auf sie hatte. Warum hat der Song diese epische Länge? Warum singt Kate Bush in zwei so unterschiedlichen Stimmfärbungen? Welche Rolle spielen die beiden Countertenorstimmen von Stefan Roberts und Michael Wood, die “über der Begleitung von Klavier und Streichern schweben” [2].
Der Song hat seine Quelle in einer Geschichte, die ein Freund Kate Bush erzählte: “It was because a friend told me about the story that goes with Lake Tahoe so it had to be set there. Apparently people occasionally see a woman who fell into the lake in the Victorian era who rises up and then disappears again. It is an incredibly cold lake so the idea, as I understand it, is that she fell in and is still kind of preserved” [3]. Geister habe Kate Bush schon früher beschäftigt – man denke an “Wuthering Heights” oder an das Video zu “Experiment IV”. Es sind Geister, die Macht über Menschen gewinnen wollen. Die Verlockung des Wassers, Geschichten aus einer anderen Welt, Zeitphänomene, verirrte Seelen, die den Weg nach Hause suchen [2] – Geschichten die Kate Bush liebt, wiederkehrende Elemente in vielen Songs. Zur Länge des Songs gibt es eine einfache Erklärung von Kate Bush selbst: “I think one of the things I was playing with on the first three tracks was trying to allow the song structure to evolve the story telling process itself; so that it’s not just squashed into three or four minutes, so I could just let the story unfold.” [3] Der Kern der Geschichte ist also geklärt, auch zur Länge des Songs gibt es eine Begründung. Aber was außer der Geistergeschichte will Kate Bush entfalten, mit was hat Kate Bush sie angereichert?
Die erste Erzählebene bilden die Countertenöre. Sie warnen vor dem Eiswasser des Lake Tahoe. Sie klingen wie fremdartige Frauenstimmen, unirdisch. Sind es warnende Geister über dem Wasser? Der Song beginnt mit ihren Worten “Lake Tahoe”, der See bekommt sein eigenes musikalisches Motiv. Er wird angesprochen wie eine Person, bekommt seine eigene Identität. Im Hintergrund ist eine liegende Streicherfläche zu hören, hohe Töne, leise, wie ein Nebel. Eine schimmernde Fläche, ein Glitzern über dem Wasser im Dunst, dazu Klaviertöne. Dieses Motiv verkörpert für mich die eisige und bedrohliche Stille des Sees. Der Sprechgesang der Countertenöre verfinstert sich plötzlich und kommt zu einem Haltepunkt bei “Just stand on the edge and look in there”. Ein eindeutiges Warnzeichen wird aufgestellt. Es ist, als ob jemand angehalten werden soll, der zögert, der aufmerksam geworden ist. Die Atmosphäre ändert sich.
Die zweite Erzählebene ist Kate Bush, die jetzt übernimmt. Sie ist die Protagonistin, die am See zögert. Sie ist es, die die Stimmen angeredet haben und gewarnt haben. Sie ist es, die hineinschaut in den See und die damit über die Grenze zur realen Welt hinausschaut. Es folgt beginnend mit “You might see” die Schilderung der Geistererscheinung – als ob ein Märchen erzählt wird, das etwas seltsam oder schaurig ist. Diese Schilderung ist zuerst ganz leise, etwas jazzig, verziert. Es klingt, als ob etwas wirklich Erstaunliches und Nicht-Wirkliches beschrieben wird.
Aus ganz weiter Ferne erklingt der Ruf nach dem Hund: “Snowflake”. Ist dies der Geist, der ruft (so sagt es der Text)? Oder ruft jemand anderes irgendwo am See? Ist dies ein Wiederhall des ersten Songs (“Snowflake”) des Albums. in dem es auch um ein sich Finden geht? Realität und Irrealität vermischen sich.
Die Countertenöre mischen sich dazu und sprechen eine zweite Warnung aus – diesmal vor dem Geist selbst: “Tumbling like a cloud that has drowned in the lake”. Im Hintergrund ist wieder das “Lake Tahoe”-Motiv zu hören.
Nach “like a poor, porcelain doll” gibt es bei 3:20 eine lange Pause, in der die Musik hinein verklingt. Fast zehn Sekunden lang ist diese Pause. Krähenrufe wie aus der Ferne über dem See klingen hinein in diese Stille. Krähenrufe sind für mich persönlich ein Bild des kalten Winters, diese Vögel sind aber auch die Totkünder der Märchen, die Boten des Mysteriums [4].
Nach diesem Innehalten wird die Wiedererzählung der Geistergeschichte (ein Märchen, dass man kleinen Kindern erzählt) abgelöst durch die Schilderung des Geistes selbst. Die Erzählerin erlebt es als real, sie sieht die Erscheinung. Die Musik ändert sich allmählich. Der Song wird dunkler, bluesiger und “wird zu einem langsamen, bedrohlich wirkenden Bolero, getragen von Kate Bushs Piano und Steve Gadds beständig rollendem Rhythmus” [2]. Dieser Rhythmus klingt, als ob die Wellen an das Ufer schlagen, langsam und hypnotisierend. Es sind die Wellen, die die Geistererscheinung im See begleiten. Dazu erklingt das Klavier, leise liegende Streicher tauchen auf, wie Nebel über dem See. Ist der Geist eine Inkarnation des eiskalten Sees?
Die Perspektive wechselt langsam in die des Geistes hinein, die Perspektive der Erzählerin wird immer mehr überlagert von dessen Perspektive. Der Geist sieht das leere Haus, das einmal eine Heimat war. Er sieht seinen jetzt alten Hund, der davon träumt, zu seiner Herrin zu laufen. Nach “He runs” nehmen summende Stimmen die rollenden Harmonien auf und singen sie mit. Für einen Moment ist auch die Sicht des Hundes als Erzählebene da. Ganz langsam verschieben sich die Ebenen immer mehr – nach “It’s a woman” wechselt die Perspektive ganz zu der des Geistes. Die Erscheinung ruft nach ihrem Hund: “Here boy, here boy”. Das erste dieser Rufe klingt in der Melodieführung sehr ähnlich der Melodie, die beim Fallen des Kruges in “A coral room” vorkommt. Dort war es mit der Erinnerung an Tote verbunden. Die Stimme ist hier ganz anders als die Stimme der Protagonistin am See: fahl, wie von fern – so als ob der Geist nur zu kurzen Ausrufen fähig ist, für die er seine ganze Energie benötigt. Im Hintergrund ist mehrmals (z. B. bei 8:30) ein leises Klappern zu hören, das entfernt an Kastagnetten erinnert. Ist es das Klappern von Knochen oder das Knacken von Eis? So ein Brechen wie von Eis ist auch zu Beginn dieser Passage zu hören. Graeme Thomson sagt es sehr treffend und poetisch [2]: “Hier und da erscheinen wunderbar kurze Farbtupfer aus dem Nebel über dem Wasser: ein zum Reißen gespannter Streicherton, ein kurzes Holzbläsermotiv, ein arabisch anmutender Melodiebogen, das düstere Klappern des Todes.” Immer wieder tönen dazu im Hintergrund diese hohen, leisen Liegetöne in den Streichern, die die bedrohliche Atmosphäre verstärken.
Bei 8:45 gibt es eine kleine Lücke in der Klavierspur. Sie wird zum Teil durch einen “hingehauchten Seufzer von Kate Bush überlagert […], als wäre die Erzählerin für einen kurzen Moment mit einem Bein durch das Eis gebrochen.” [2] Es klingt wie ein fast schon erschrockenes Atmen, so als ob man in kaltes Wasser hineingeht. Zu dieser Lücke gibt es eine sachliche Erklärung. Die Klavierspur wurde in langen Live-Takes aufgenommen – zum Schluss soll dabei Kate Bush ein Finger von der Taste gerutscht sein, so dass eine kleine Lücke der Stille entstand. Dieser Fehler blieb erhalten. Es zeugt nach Graeme Thomsom “von einem tief empfundenen, neuen Verlangen, die Stimmung des Moments zu bewahren” [2]. Das mag sein, für mich passt dieser Moment aber fast zu gut in die sich entfaltende Geschichte, um nicht Absicht zu sein.
Der Rhythmus rollt weiter, ab 10:00 wird er intensiver, die Streicher werden stärker. Der Geist und der See gewinnen an Macht. Der Song steigert sich bis zu einem Höhepunkt, wird schwerer und drängender. “Dieser ergreifende Höhepunkt ist mit der Zeile ‘You’ve come home’ erreicht und Kate Bush heult im Nebel auf, ehe sie erschöpft niedersinkt” [2]. Dieses “You’ve come home” ertönt mehrfach in immer höheren Tönen. Es klingt nicht freudig, es klingt fast verzweifelt und erschrocken. Kommt der Geist heim und bemächtigt sich der Frau? Richtet sich das “You’ve come home” an den Geist – ist es ein Schrei der Verzweiflung der Protagonistin? Ist das “home” die Protagonistin? Drei Fragen, die ich für mich mit “ja” beantworte – und mich schaudert es dabei.
Ab 10:30 gibt es zwei “schluckende” Töne, wie als ob Wasser in einen Mund dringt. Die Frau versinkt. Dann hört der Rhythmus der Wellen auf, der Geist verschwindet, seine Aufgabe ist getan. Der Song endet beinahe abrupt, es ist musikalisch wie ein Verdämmern, ein Verschwinden in der Tiefe. Die herabsinkende Stimme hier ist wieder die der Protagonistin (klar gesungen, Arabesken) und nicht mehr die des Geistes (wie von fern, eingebettet in das Rollen, verzweifelter Unterton). Die Erscheinung ist vorbei, der See hat sein neues Opfer mitgenommen. Der See ist die eigentliche zentrale Figur des Songs und daher ist sein Name der Titel.
Dieses ist meine Interpretation. Unter meinen Füßen hat sich das sichere Fundament über 10 Minuten ganz allmählich aufgelöst. Zieht der See die Protagonistin in die Tiefe oder befreit sie sich in den Schlusssekunden? Es bleibt offen.
Der Song lässt sich aber auch genießen, ohne sich diese abgründigen Gedanken zu machen. Die Musik selbst ist auch ohne zweite Deutungsebene von äußerster Raffinesse. Selbst der sonst erfrischend kritische Graeme Thomson ist hingerissen [2]: “Man wird dieses Stück sicher einmal als eines ihrer größten Werke betrachten”. “Lake Tahoe” ist für mich ein Meisterstück weit über die Popmusik hinaus.
Achim/aHAJ)

[1] Tom Doyle: Lake Tahoe. Mojo 10/2014, S. 70
[2] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.407-413
[3] John Doran: A Demon In The Drift: Kate Bush Interviewed. The Quietus. 10.11.2011
[4] Clemens Zerling, Wolfgang Bauer: Lexikon der Tiersymbolik. München 2003. Kösel-Verlag. S.164ff

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L’Amour Looks Something Like You

Leave It Open

Mit dem Album „The Dreaming“ erreichte Kate Bush endlich die Freiheit, die sie für die Gestaltung ihrer Musik benötigte. Das Album ist von dem Entzücken darüber geprägt, es ist eine Welt der Experimente. In den Songs ist die Freude über die Freiheit zu spüren. Es ist klar, dass so etwas über die Grenzen dessen hinausgeht, was gemeinhin als Popsong gilt. „Leave it open“ ist ein Paradebeispiel für so einen Song, der die  Grenze zum Bereich des „Ist sie nun völlig verrückt geworden?“ verschoben hat.
Worum es geht, hat Kate Bush selbst in einem Artikel an ihre Fans im Kate Bush Club beschrieben ([1], meine Übersetzung): „Wie Tassen werden wir mit Gefühlen, Emotionen gefüllt und geleert – Gefäße, die einatmen, ausatmen. In diesem Song geht es darum, zur richtigen Zeit offen und verschlossen für Reize zu sein. Oft haben wir einen geschlossenen Geist und einen offenen Mund, wenn wir vielleicht einen offenen Geist und einen geschlossenen Mund haben sollten.“
Umgesetzt ist dies mit geradezu überbordender Fantasie unter Nutzung vielfältiger Stilmittel. Mit einem pochenden, markanten Marsch-Rhythmus beginnt es – wie bei einer Pophymne von Genesis oder Queen. Aber dann setzt die Hauptstimme ein, sie klingt ganz verzerrt, fast unheimlich. Das ist nun kein Pop mehr, die Erwartungen werden sofort gebrochen. Ganz hohe Einwürfe einer Stimme kommen dazu („But now I’ve started learning how“), es klingt wie von fern, mit Hall. Ist das die Stimme des lernenden Kindes? Mit „Harm is in uns“ startet der Refrain. Diese Zeilen beginnen mit einem aufsteigenden Glissandi, der die Melodie (wenn man hier überhaupt von Melodie sprechen kann) noch weiter verzerrt. Als vierte Stimme kommt im Refrain ein männlicher Chor dazu: „Harm is in us but power to arm“. Für meinen Geschmack kommt ein bisschen viel „Harm is in us“ im zweiten Refrain vor. Der Schluss des zweiten Harm-Refrains geht in eine fast orgiastische Steigerung über, die den Rhythmus der Pophymne des Beginns wieder aufnimmt. Die Eselsschreie aus „Get out of my house“ mischen sich darunter, nun ist die Verrücktheit (weirdness) endgültig im Song angekommen. Verzerrt erklingt das „We let the weirdness in“, ganz zum Schluss im ruhigen Ausklang versinkt der Song in Passagen, die wie rückwärts gesungen klingen. Die erste Strophe endet mit „keep it shut“ – sie steht für die Verschlossenheit. Die zweite Strophe endet mit „leave it open“ – sie steht für die Offenheit. Diese Offenheit gibt dem Song auch seinen Namen. Der Schwerpunkt ist damit klar, Offenheit sollte das Grundprinzip sein, aber es gibt eben auch Ausnahmen.
Kate Bush erläutert in [1], wie sich der Song im Verlauf der Zeit veränderte. Es war die erste Demo, die aufgenommen wurde. Das Ziel war es, dem Song ein orientalisches Flair und eine unverwechselbare Stimmung zu verleihen, dabei wurden noch wenige Effekte benutzt. (Es wäre sehr interessant, einmal diese erste Demo zu hören!) Es wurde dann klar, dass jeder der einzelnen Gesangsteile einen individuellen Klang besitzen musste, da ja jeder einen individuellen Charakter darstellt. Die Vocals sollten klar unterscheidbar gemacht werden, insbesondere weil sie meist von einer Stimme – der von Kate Bush – gesungen wurden. Kate Bush fasst das in [1] dann nüchtern zusammen: „To help the separation we used the effects we had. When we mastered the track, a lot more electronic effects and different kinds of echoes were used, helping to place the vocals and give a greater sense of perspective.“
Der Song ist bei allen Klangexperimenten doch ganz klassisch in einem strengen 4/4-Takt gehalten (eben wie eine Pophymne), die Tonart ist ein g-Moll [2]. Es geht um Erfahrungen, um schmerzhafte Welterkenntnis. Folgerichtig ist damit gemäß Beckh [3] die Verwendung von g-Moll, der seelisch-ernsten Tonart, die tragischen Schicksalsernst ebenso ausdrückt wie Furcht und Bangen und manchmal eine gewisse Hoffnungslosigkeit. Es ist die Mozart-Tonart für das Schmerzlich-Verklärte. „Ach ich fühl‘s, es ist verschwunden, ewig hin der Liebe Glück“ singt in dieser Tonart Pamina in der Zauberflöte [3].
Der Schluss des Songs enthält wirklich einen rückwärts gesungenen Text. Kate Bush fand es faszinierend, wie Menschen immer wieder versuchen, solche verborgenen Späße zu entdecken, selbst wenn sie nicht vorhanden sind [4]. Hier aber ist so etwas vorhanden, wie Kate Bush selbst zugibt [4]: „I think there are only about three or four people who actually know what has been said there. I really like that, though–the idea of all these people sitting and listening over and over to the ending and wondering what’s being said. It’s lovely, like a game.“ Offenbar war das nichts ganz Unerwartetes, wie Brian Bath, einer ihrer ersten Mitstreiter und Teil der ersten Band, dazu feststellte [5]: „Kate hat immer versucht, rückwärts singen zu können. […] Ich glaube, das macht sie immer noch! Solche Sachen hat sie schon immer gern ausprobiert.“
Ich kann beim besten Willen diesen Rückwärtstext nicht identifizieren. Andere waren da offenbar besser, die Mehrheitsmeinung tendiert zu „they said they were buried here“ [7].

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist leaveitopen-400.jpg

„Leave it open“ ist ein gewagtes Experiment, das über die Grenzen des Erwarteten geht. Man kann lange darüber streiten, ob der Komponistin hier die Pferde doch zu heftig durchgegangen sind. Ron Moy [6] formuliert ein Fazit, dem ich mich anschließen kann (zitiert in meiner Übersetzung): „Dieses Zeug ist ziemlich beunruhigend – zweifellos mutig – aber das allein sollte nicht als Qualitätsgarant angesehen werden.  Andere experimentelle Tracks der Künstlerin werden in Bezug auf die Gesamtalben besser funktionieren, insbesondere, wenn sie […] in einen konzeptionelleren Rahmen passen, anstatt als Songs allein zu stehen.“
Das ist ein Kritikpunkt, den ich zugestehe. Das Experiment steht hier für sich allein, ist nicht in den Kontext eines Konzepts eingebunden. Aber die Experimente machen für mich Sinn bei der Umsetzung des Themas. Es geht um das sich Öffnen und das sich Verschließen gegen die von außen auf eine Person einprasselnden Einflüsse. Wie geht eine Musikerin damit um? In „Leave it open“ ist es zu sehen. Eigentlich möchte die Künstlerin eine Pophymne schreiben, aber eine Vielzahl von verzerrten Stimmen hindert sie daran. Merkwürdige, unheimliche, geisterhafte Stimmen kämpfen im Song um die Übermacht. Kann die Künstlerin, kann der Song sich wehren? Ja, die Hymne triumphiert, aber „We let the weirdness in“. Hymnen sind eben nicht die naive Natur der Künstlerin, sie muss experimentieren, das Verrückte und das Unheimliche zulassen. Und das gelingt in diesem Song exemplarisch.
Das Schlusswort möchte ich Kate Bush selbst überlassen, die an uns appelliert, offen an diesen Song (und an alle ihre Songs) heranzugehen [4]: „It means a lot to me if people are interpreting the music in the way that I originally wanted it to be done. But, I do feel that music is a bit like a painting, in that when you buy a painting, it’s because you like it. And what is important is your interpretation of what it means. That’s why it means so much to you. I think that applies to records as well.“ © Achim/aHAJ

[1] Kate Bush: About the Dreaming. KBC Ausgabe 12. Oktober 1982.
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987.  S.117f
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S.248ff und S.255ff
[4] Interview mit John Reimers. Voc’l. 1983.
[5] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.61
[6] Ron Moy: Kate Bush and Hounds of Love. Aldershot. Ashgate Publishing Limited. 2007. S.30
[7] https://www.carookee.de/forum/Kate-Bush/77/Leave_It_Open.8369640.0.01105.html (gelesen 12.07.2019)

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Lily

Die Welt ringsum bricht zusammen, es gibt keinen Halt, nur Chaos. „I feel that life has blown a great big hole through me“ singt Kate Bush fast verzweifelt klingend in „Lily“. Präziser kann dieses Gefühl kaum beschrieben werden.

In der Zeit der Entstehung des Albums „The Red Shoes“ gab es schwerwiegende Ereignisse im persönlichen Umfeld. Die Mutter von Kate Bush starb an Krebs, Freunde starben. Die Erschütterung durch den Tod der Mutter war so stark, dass Kate Bush die Arbeit monatelang unterbrechen musste. Den Albumhintergrund bilden Verluste, Verluste von Personen und Illusionen. Eine Suche nach Halt ist zu spüren, eine Suche nach Beistand, eine Suche nach Richtung, nach einem Ausweg. Das Album kommt aus einer Welt, die in Scherben liegt. Die Störung in der Beziehung zu ihrem langjährigen Lebenspartner Del Palmer deutet sich in den Liedern schon an, das Motiv der Trennung und der verlorenen Liebe kommt in mehreren Songs vor. Auch in „Lily“ geht es um Verlust, Einsamkeit, Suche nach Wärme und Nähe, um Suche nach Hilfe, Schutz und Unterstützung. „Lily“ beginnt damit, dass die ruhige und gelassene Stimme einer alten Frau ein Gebet sprich. Die alte Frau ist Lily Cornford von der Maitreya School of Healing – eine „Heilerin“, die Kate Bush gelegentlich konsultierte [1]. Ganz eindeutig ist dieser Song dieser Frau gewidmet, das drückt schon die Namensgleichheit aus. Das Gebet selbst ist das sogenannte Gayatri Mantra. Dieses vedische Mantra ist für viele Hindus das tägliche Gebet, das sich jedoch nicht an eine personale Gottheit wendet, sondern an die Sonne als sichtbare Repräsentation des Höchsten. Neben der Lobpreisung enthält es die Bitte um geistige Erleuchtung [2]. Zitiert wird es in einer variierten Fassung, die auf der englischen Übersetzung von William Quan Judge aus dem Jahr 1893 basiert [3]. Hinter diesem Gebet sind im Hintergrund ganz leise Töne zu hören. Es klingt unheimlich, nicht identifizierbar, bedrohlich, verzerrt, wie aus einem Horrorfilm. Monster huschen schattenhaft vorbei – das war meine Assoziation beim Hören mit größerer Lautstärke. Dazu erklingt eine vage Musik, nur einzelne Töne sind zu hören, ebenfalls an einen Horrorfilm erinnernd.  Die Stimmung dieses Hintergrundes hat mich jetzt beim Wiederhören ganz stark an „Blair witch project“ und die durch diesen Film erzeugte Stimmung erinnert. Vor diesem Hintergrund aus Horror bildet das Gebet einen Ruhepol. Es ist so, als ob die ruhige und gelassene Stimme der Heilerin die Monster zurückhält und einen geschützten Raum aus Sicherheit, Wärme und Zuversicht bildet. Diese Einleitung „explodiert“ dann förmlich in dem dann folgenden eigentlichen Song. Ein drängender, vorantreibender Rhythmus übernimmt und bestimmt den ganzen Rest des Liedes. Es ist ein tänzerischer, fast ekstatischer Rhythmus. Jovanovic [4] beschreibt dies als „einen funkigen Beat […], der beinahe in Richtung Hip-Hop tendierte. Der Song wurde allerdings quasi live von der Band eingespielt“. Del Palmer gibt dazu nähere Erläuterungen: „This is another track where the original bass and drums had to lie re-done at a later stage because the feel had changed almost to a hip-hop style“ [5].Ein Schalter wird umgelegt im Lied. Wenn der erste Teil eine Erinnerung war, ein Wunschtraum – jetzt sind wir in der Realität. Die zurückgehaltenen Monster der Gegenwart sind präsent und geben den Takt vor. Vier Akkorde bestimmen das ganze Lied und werden fast beschwörend wie ein Mantra eingesetzt – g-Moll, F-Dur, c-Moll und Es-Dur. Der Gesang – immer aus der Sicht der Protagonistin – durchläuft dabei mehrere Phasen. „In den Strophen sehnsuchtsvoll, die Überleitung wird dann mit tiefer Stimme gesprochen, der Refrain war aufrüttelnd und gewaltig gestaltet [4]“.

Mit „Well I said […]“ beginnt die erste Strophe. Die Haupttonart ist wohl g-Moll, g-Moll-Akkorde wechseln sich mit F-Dur-Akkorden ab [6]. G-Moll symbolisiert nach Beckh [7] ein frühes Verzagen, ein zu frühes Aufgeben der Hoffnung. In der Zauberflöte von Mozart bestimmt es die Klage der Pamina. Seelenfinsternis spiegelt sich in dieser Tonart wieder. In Wagners „Tristan und Isolde“ steht es für Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Wie so oft bei Kate Bush sagt die Tonart schon aus, worum es geht. Der F-Dur-Akkord kommt dazu – die fromme. religiöse, ätherische Tonart, die Naturtonart, die typische Tonart der Choräle [7]. Verzweiflung in der realen Welt und Schutzsuche in einer überirdischen Welt mischen sich. Dann erinnert sich die Protagonistin an den Rat der Heilerin: „And she said ‚Child, you must protect yourself. I’ll show you how with fire’“. Zu Beginn des Zitats der Heilerin (ab „Child […]) wechselt die harmonische Welt zu c-Moll-Akkorden [6], dies steht laut Beckh [7] für die Verwurzelung auf dem Boden, für Stärke und Vertrauen. Mit „Gabriel before me […]“ setzt dann das Anrufen von Schutzmächten ein. Während dieser Engel-Beschwörung kommen Es-Dur-Akkorde – die Paralleltonart zu c-Moll – dazu [6]. Die Protagonistin kämpft sich mit Hilfe der Erzengel hervor aus dem Dunkel. Es-Dur hat einen kämpferischen, heroischen Charakter, es steht für die Wiederaufwärtswendung zum Licht, ist stark und positiv [7]. „Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht“ heißt es in dieser Tonart im Schlusschor der Zauberflöte, Es-Dur ist die Tonart der Feier [7]. Mit zwei Tonarten (g-Moll und Es-Dur) wird auf die Zauberflöte verwiesen. Auch in dieser Oper geht es um Magie, um ein sich Herauskämpfen aus der Dunkelheit. Leider finden sich bei Kate Bush keine Aussagen dazu, ob dies ein bewusster Verweis ist oder eine ähnliche harmonische Gestaltung aus ähnlichen Empfindungen heraus. Eine Akkordgestaltung aus c-Moll und Es-Dur findet sich aber auch in „The Fog“. Dort steht c-Moll für die Sicherheit, die der Vater gibt und Es-Dur ebenfalls für das Herauskämpfen aus einer schwierigen Situation. Während der Anrufung der Erzengel sind im Hintergrund Töne wie aus einer Beschwörung zu hören. Ein merkwürdig mystisch klingendes Instrument erklingt, unweltlich und fast unirdisch. Paddy Bush spielt hier eine Fujara, ein aus dem slawischen Raum stammendes Instrument [4]. Der zweite Abschnitt „I said […]“ ist dann etwas ruhiger, die Unsicherheit hat sich etwas gelegt, die erste Beschwörung wirkt offenbar. Die Anrufung wird dann wiederholt, insgesamt erklingt sie dreimal. Zwischen den beiden Wiederholungen zum Schluss gibt es fast fröhliche kurze Gesangsausbrüche der Befreiung. Die Protagonistin schnurrt wie eine große Katze. Sie kämpft sich empor ans Licht.
Die tänzerische Stimmung wird durchgängig beibehalten und das Ende von „Lily“ kommt dann fast abrupt, ohne eine richtige Auflösung. Es ist eindeutig ein Schlusspunkt, ein „so – das war es!“. Es wurde gemutmaßt, dieser Song sei das kaum verhohlene Eingeständnis, dass Bush eine weiße Hexe sei [4]. Auch im Internet wurde darüber intensiv diskutiert und auch darüber, dass die Erzengel in einer falschen Reihenfolge angerufen wurden und warum das so sein könnte. Kate Bush gibt aber den klaren Hinweis, dass solche Passagen nicht Wort für Wort auf Geheimnisse zu untersuchen sind. „People seem to read a more ethereal dreaminess into my lyrics. I like messages in songs that are much more based in reality.“ [8] Aber das Lied zitiert eindeutig magische Elemente – nicht im exakten Sinne, sondern im Sinn des Hervorrufens eines bestimmten atmosphärischen Kontextes. Die dreimalige Anrufung der Erzengel ist in der Magie gebräuchlich. Das dreimalige Wiederholen kommt auch in vielen Märchen vor (drei Wünsche usw.). Die dreimalige Wiederholung eines Zaubers ist häufig (es dient der Bestätigung). Auch in der Bibel wird die Zahl drei im Sinne von  „ganz bestimmt, sicherlich“ benutzt. Jesus wird nach drei Tagen auferstehen, zur Unterstreichung werden Aussagen oft dreimal wiederholt [9]. Die vier Erzengel selbst stehen für spezielle Schutzbedürfnisse [10]. Gabriel ist der Beschützer der Familie und die Stärke Gottes – er geht voraus. Michael mit dem Lichtschwert steht rechts, er ist der Führer in eine neue Zeitepoche und führt in die erhoffte Selbstbefreiung. Uriel zur Linken als Licht Gottes soll die Finsternis erhellen und den Weg weisen. Am Schluss Raphael als Arzt Gottes, der die erlittenen Verletzungen heilt. Im Film „The Line, The Cross and the Curve“ laufen sie genauso angeordnet. Das finstere Monster wird dort überschritten und zurückgelassen. Am Ende geht Kate Bush ihren Weg ohne die ständige physische Präsens der Engel weiter [10]. Die Fassung von „Lily“ auf „Director’s Cut“ mit Mica Paris fügt dieser Deutung nicht viel Neues hinzu: Jovanovic meint, dass diese Version „sehr an die ungehemmten Zeiten von ‚Violin‘ erinnert“ [4]. Offenbar sind die ausgedrückten Gefühle immer gegenwärtig geblieben. „Lily“ war dann auch das Auftaktlied zu den „Before the dawn“-Konzerten. Das mag an der ungehemmten Energie dieses Songs liegen – aber vielleicht auch an der Bedeutung. Mit diesen Konzerten werden die Dämonen ausgetrieben, das Konzert ist eine rituelle Handlung, „Lily“ ist das Mantra für den Kampf mit den Dämonen der Unsicherheit und des Zweifels. Der Song hat etwas wirklich Tröstendes und Befreiendes. Vielleicht könnte man dieses Lied therapeutisch nutzen – die Gefühle dürften keinem Menschen fremd sein. (© Achim/aHAJ)
[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.321 und S.349
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Gayatri_Mantra  (gelesen 26.05.2017)
[3]  https://en.wikipedia.org/wiki/Gayatri_Mantra (gelesen 26.05.2017)
[4] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.183
[6] Kate Bush: Songbook „The Red Shoes“. International Music Publications Limited. Woodford Green 1994.  S.48ff
[7] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.248ff (g-Moll), S.148ff (F-Dur), S.123ff (c-Moll, Es-Dur)
[8] Tom Moon: A Return to Innocence. Philadelphia Inquirer. Januar 1994
[5] Del Palmer on Kate Bush: Well red. Future Music. November 1993
[9]  https://anthrowiki.at/Numerologie  (gelesen 19.05.2017)
[10] „Dreamin` Architect“ auf „http://www.carookee.com/forum/Kate-Bush/110/9315118.0.30115.html?p=3#tm (gelesen 16.03.2009)“
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Love And Anger

Es gibt Songs, bei denen die Geschichte um ihre Entstehung herum spannender ist als der Inhalt. „Love and anger“ gehört für mich dazu. Für diesem Text war ich versucht, ihm die Überschrift „Ein Lied sucht seinen Sinn“ zu geben, denn das trifft es sehr genau. Ich werde den Inhalt und eine etwaige Bedeutung daher nur streifen.
„This song! This bloody song!“ [1] Dieser Ausruf von Kate Bush zeigt, dass er für sie ein unter Schmerzen geborener Titel gewesen ist. Vielleicht hat daher Kate Bush in Interviews so umfassend Auskunft über die Entstehung gegeben. Die Basis für den Song entstand ganz zu Beginn der Arbeit am Album. „It was one of the most difficult to put together, yet the first to be written.“ [1]. Zuerst war da eine musikalische Idee, die zu einem ersten Rohling ausgebaut wurde. Dann ruhte die Arbeit daran. „The song started with a piano, and Del put a straight rhythm down. Then we got the drummer, and it stayed like that for at least a year and a half.“ [6]. Die Musik war da, die Melodie, aber die Worte fehlten. „I get a sound and I throw it in a song and I can’t turn it into a word later because it’s actually stated itself too strongly as a sound.“ [3]. Sogar die Keimzelle des Songs ist Kate Bush noch genau in Erinnerung. „[In] Love and Anger, the bit that goes ‚Mmh, mmh, mmh‘ was there instantly and, in itself, it’s really about not being able to express it differently.“ [3].
Worum geht es? Das wollte sich für Kate Bush einfach nicht erschließen. Der Sinn dieser Musik erschien ihr schwer fassbar. Für die Komponistin war das eine Qual. „It was so elusive, and even today I don’t like to talk about it, because I never really felt it let me know what it’s about.“ [2]. Andere hörten diesen Rohling und fragten nach dem Sinn. Kate Bush hatte aber einfach keine Antwort „[When] people ask me what it’s about, I have to say I don’t know because it’s not really a thought-out thing. It was so difficult for me to write that: in some ways, I think, <it’s> about the process of writing the song: I can’t find the words; I don’t know what to say. This thing of a big, blank page, you know: it’s so big…It’s like it doesn’t have edges around it, you could just start anywhere.“ [3]. Auch im Nachhinein konnte sie diese Frage nicht recht beantworten. Aber sie ist ehrlich: „It doesn’t really have a story. It’s just me trying to write a song, ha-ha.“ [1]. Der Song kam dann voran mit der Hilfe und der Unterstützung anderer Musiker. „It’s just kind of a song that pulled itself together, and with a tremendous amount of encouragement from people around me.“ [2]. Ihr Bruder Paddy Bush, Dave Gilmour und John Giblin trugen dazu bei, dass es voranging. „Paddy and Dave Gilmour, who put overdubs on it, had so much trouble with it. They kept on asking, What’s it about? and all I could say was, I dunno but, uh, doesn’t it feel, uh, cohesive to you? Well, I started bringing musicians in to see if they could bring it to life and John Giblin, the bass player, just said, This is great! and came up with something fresh right away. It was so nice having someone put all this enthusiasm into a song I’d almost given up on.“ [4].

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist love_and_anger_12-400.jpg

Die letzte Zeile des Songs kann dann auch als Dank an die Helfenden interpretiert werden: „But just you wait and see, someone will come to help you.“ [8]. Insbesondere der exotische Flair der Valiha brachte den Song stimmungsmäßig voran. Schließlich war Kate Bush dann doch einigermaßen mit dem Ergebnis zufrieden. „I think putting the Valiha on was very important. It’s a beautiful sounding instrument – it looks a bit like a Zither, and it’s from Madagascar. It sounds like sunshine – it has this really happy, bubbly sound. I think that really helped to give the song a different perspective. It’s a very straightforward treatment – drums, bass, guitar, piano – and I think for me it’s one of the more straightforward songs on the album. A chirpy little number.“ [6].
Paddy Bush war auch Jahrzehnte danach noch stolz darauf, am ersten Stück der Popmusik mitgearbeitet zu haben, in dem ein traditionelles madagassisches Instrument verwendet wurde [7]. Nach vielen Schmerzen hatte es das Stück dann doch auf das Album geschafft und Kate Bush war einigermaßen zufrieden „There were so many times I thought it would never get on the album. But I’m really pleased it did now.“ [2]. Einen Sinn hatte sie schließlich doch noch zusammengezimmert, aber in der Nachbetrachtung ist immer noch eine gewisse Unzufriedenheit zu spüren. „Relationships revolve around love and anger. Being in love makes you very angry sometimes and there’s two sides to everything. I must be honest though, I’m not really sure what I’m trying to say here.“ [5].
Der Song endet dann mit einem beinahe triumphierenden „Yeah!“ (hurra, endlich geschafft) und einem Lachen, aus dem vielleicht Erleichterung herauszuhören ist. Ich finde es sympathisch, dass dieser Gefühlsaufbruch nicht herausgeschnitten wurde. Von Anfang an geplant erscheint er mir nicht. Love and anger, Liebe und Wut, das hat Kate Bush wahrscheinlich beim Nachdenken über diesen Song empfunden, Liebe zur musikalischen Idee, Wut über die Schwierigkeiten. Im Video zum Song werden diese zwei Seiten dann durch das Aufeinandertreffen von Balletttänzern und wirbelnden Derwischen symbolisiert [12]. Wahrscheinlich wegen seiner Eingängigkeit und musikalischen Unkompliziertheit wurde der Song wohl als Single veröffentlicht. Eine Single muss eben nicht besonders tiefgründig sein.
Die musikalische Gestaltung ist recht eingängig und einfach. Der Song steht in einem durchgehenden 4/4-Takt und ist in reinem F-Dur komponiert. Es gibt nur Dur-Akkorde, hauptsächlich Tonika, Dominante, Subdominante der Tonart [8]. Nach Beckh ist F-Dur die Naturtonart, die sich über die Schwere des Irdischen erhebt [9]. Es ist erstaunlich, dass sich so etwas Eingängiges dann doch als so sperrig erwiesen hat. 
Bei den Biographen wird der Song nur kurz gestreift. Jovanovic hebt hervor, dass David Gilmours Gitarre dem Titel im Refrain großartige Kraft und Stärke verleiht [10]. Graeme Thomson [11] ist kritischer. Der Song klingt für ihn wie eine weniger gelungene Version von „The big sky“, „einem anderen eher lästigen Song. Es beginnt ebenso reduziert und endet schließlich in einem extremen rhythmischen Getöse.“ Das ist harsch, aber nicht ganz falsch. Vielleicht wusste Kate Bush auch nicht, wie sie den Song beenden sollte. Das Lachen zum Schluss setzt schließlich einen guten emotionalen Schlusspunkt. Beim Hören des gesamten Songs kommt mir aber der Gedanke in den Sinn, dass die Komponistin bei den Arbeiten zu diesem Album vielleicht etwas die Leichtigkeit verloren hat. Komponieren ist nicht immer nur Genie, es ist auch harte Arbeit. Nach Abschluss darf man auch erleichtert sein. © Achim/aHAJ

[1] Len Brown: „In the Realm of the Senses“. New Musical Express, 07.10.1989. [2] WFNX Boston, Herbst 1989
[3] Steve Sutherland: „The Language of Love“. Melody Maker, 21.10.1989.
[4] Phil Sutcliffe: „Iron Maiden“. Q, November 1989.
[5] N.N.: „Love, Trust and Hitler“. Tracks, November 1989 [6] Tony Horkins: „What Katie Did Next“. International Musician, Dezember 1989.
[7] Stefan Franzen: „Paddy Bush und die Musik Madagaskars (Teil 2)“. http://morningfog.de/?p=4907 (gelesen 27.09.2019)
[8] Kate Bush: The Sensual World [Songbook]. EMI Music Publishing Ltd., London 1990. S.9ff
[9] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.149ff
[10] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.172
[11] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.314
[12] Maria Montgomery Sarnoff: „Perfect Vision“. Option, März 1990.
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Lyra

Misty

Bei einem Glas Wein auf Madeira zu sitzen und auf das Meer schauen – ein ungewöhnlicher Ort, um über „Misty“ nachzudenken. Aber es hilft dabei, andere Perspektiven einzunehmen und nicht nur einen Blick auf Frosty den Schneemann zu werfen. Nicht der Schneemann ist das Zentrum dieses Songs, es ist die Protagonistin. „Misty“ ist ein faszinierendes Musikstück, etwas über dreizehn Minuten lang, eher ein gigantisches Nocturne als ein herkömmlicher Song. Graeme Thomson sagt sehr zutreffend, es sei „selbst für Kate Bushs Verhältnisse ein seltsamer Song“, der sich „durch einige Momente geradezu überirdischer Schönheit“ auszeichne [1].
Kate Bush sagt wenig zu diesem Song. Die Journalisten fokussierten sich auf „Sex mit einem Schneemann, WOW!“ und thematisierten dies in den Interviews. Wahrscheinlich hat Kate Bush innerlich (vor Lachen?) jedesmal die Augen verdreht. In einem Interview mit der Berliner Zeitung gibt sie aber einen wichtigen Hinweis: „Es ist schon kurios, dass gerade dieses Lied die Vorstellungskraft vieler Ihrer Kollegen enorm zu beschäftigen scheint. Das amüsiert mich sehr. Als ich den Song schrieb, dachte ich zunächst: Was für eine lächerliche Idee! Dabei ist es ein sehr düsterer Song, wie viele der anderen Lieder“ [2].
„Misty“ steckt voller Geheimnisse – und ja, es ist ein sehr düsterer Song. Um das alles aufzudröseln, ist es nötig, zuerst einmal die erzählte Geschichte kurz darzustellen. So treten dann die Punkte zutage, an denen anzusetzen ist. Die Protagonistin baut einen Schneemann, der möglichst lebensnah werden soll. Blut läuft von ihrer Hand, sie läuft ins Haus. Nachts in ihrem Zimmer öffnet sich auf einmal das Fenster. Der Schneemann kommt herein, legt sich neben sie. Er ist kalt, aber sie ist nicht erschreckt, sie ist fasziniert wie in einem Traum. Er ist kalt, und er schmilzt, wenn sie ihn anfasst. Er löst sich langsam auf, während die Dämmerung naht. Am nächsten Morgen erwacht die Protagonistin. Der Schneemann, Misty, ist verschwunden, nur noch Wasserspuren und Reste dessen sind da, was im Schnee war. Die Protagonistin ist voller Sehnsucht, irgendwo draußen muss er sein, draußen wo es weiter schneit. Um ihn zu erreichen, würde sie alles riskieren und sich hinaus in den Schnee stürzen.
„Misty“ ordnet sich damit ein in das Hauptthema des Albums – der Einbruch des Übernatürlichen, insbesondere  übernatürlicher, halbwirklicher Wesen, in die alltägliche Welt. Andy Gill fasst das präzise und sehr treffend zusammen: „These songs all deal with empathy for figures that only exist in a half-formed, mythical manner – it’s as if the fall of snow offers cover for these beings, allows them to take life under its blanket.“ [6]
Zu Beginn erklingt ein ruhiges Klavier, begleitet von sanfter Percussion (auch später wird dies nur durch ganz sparsame weitere Farben von Gitarren, Bass und Effekten ergänzt), dann beginnt die Stimme („Roll this body“). Wie eine Beschwörung wirkt dieser Text bis „I run back inside“, auch musikalisch erinnert es ein bisschen an eine rituelle Handlung. Die Harmonien schwingen zwischen zwei Akkorden hin und her (As-Dur, B-Dur) [3]. Dies ist eine ungewöhnliche Akkordverbindung – zu As-Dur würde man eigentlich den b-Moll-Akkord erwarten. Die Protagonistin will dem Schneemann Leben geben („Give him life“), sie will, dass er für sie lächelt („Make him smile for me“). Sie gibt ihr Blut für ihn, aber erschreckt dann über ihr Tun („My hand is bleeding / I run back inside“).
Die Protagonistin vollführt hier (ob bewusst bleibt unklar) Blutmagie. Sie gibt ihr Blut, um unbelebter Materie (hier dem Schnee, welken Blättern, Gras) Leben einzuflößen. In der Mythologie galt der Mensch als aus dem Blut der Götter erschaffen. Die symbolische Verbindung von Blut und Leben ist dabei essenziell, Blut verbindet die eigene Seele mit der eines anderes Wesens [4]. Ein allbekanntes Beispiel ist das Märchen Schneewittchen, in dem zu Beginn Blutstropfen in den Schnee fallen und damit auf Neubeginn und neues Leben verweisen [5].
Dann gibt es einen Bruch in der Stimmung, die Musik ändert sich, sie klingt nicht mehr beschwörend, es ist nun Musik, die etwas erwartet. Aus der Realität geht es in eine Welt, die unwirklich wie ein Traum erscheint. Ab „I turn off the light“ klingt auch die Stimme anders, höher, hingebungsvoll, bebend fast, wie im Angesicht eines Wunders. Die Harmonien weiten sich aus (der H-Dur-Akkord ersetzt zunehmend den B-Dur-Akkord) [4]. Akkordfolgen mit Schwerpunkten auf den Akkorden As-Dur und H-Dur bestimmen nun weite Teile des weiteres Songs. Der Schneemann erscheint zu dieser mystischen Musik. Ist es ein Geliebter? Ist es ein gewünschtes Kind? Der Text lässt das offen. Aber auf drängende Nachfragen [9] nach einem sexuellen Unterton (offenbar können viele männliche Musikjournalisten nicht in anderen Bahnen denken) ließ sich Kate Bush aber zu einer Aussage verleiten: „To that song, yeah. Yeah, because of the story that’s being told“. Man soll ja der Komponistin glauben, es handelt sich also wohl wirklich um einen unirdischen Geliebten.
Vor „So cold next to me“ gibt es eine instrumentale Passage, ein Innehalten von unwirklicher Schönheit. Die Musik kommt dann zur Ruhe, Klaviertöne fallen in die Tiefe, wie perlendes, schmelzendes Wasser. Zu „I can feel him melting in my hand / melting, melting in my hand“ wird die Musik so ruhig, dass es mir wie ein Ausdruck von Verzauberung erscheint. Die Zeit scheint für einen Moment stillzustehen. Diese Passage wird später fast genauso (fast noch intensiver) wiederholt. Einen schmelzenden Schneemann als Traumsymbol legt die allgemeine Traumdeutung als das Weichwerden eines verhärteten Herzens aus [10]. Genau das passiert hier, die einsame Protagonistin wird durch den von ihr erweckten Schneemann verzaubert, sie öffnet sich der Liebe (und der Schneemann schmilzt daran). Mit „He won‘t speak to me“ wird wieder die musikalische Gestaltung des Beginns (Realität?) aufgegriffen. Ab „Full of dead leaves“ vermischen sich die beiden musikalischen Welten. Es ist eine fast traumhafte Stimmung in der Musik, irreal, traumartig, unwirklich.
Mit Beginn der Textzeile „Sunday morning“ sind wir wieder in der Musik des Beginns, die Realität hat die Protagonistin eingeholt. Die Intensität steigert sich allmählich. Verlust und Sehnsucht sprechen aus jedem Wort und aus jedem Ton. Es klingt ein bisschen so, als ob ein Herz vor Sehnsucht pocht. Die Stimme wird immer intensiver. Die Protagonistin realisiert ihren Verlust und sie realisiert wohl auch, dass ihre Liebe den Schneemann getötet (zum Schmelzen gebracht) hat. Sie kann es vor Sehnsucht nicht mehr aushalten („I can’t find him / Misty / Oh please can you help me? / He must be somewhere“). Das Lied endet mit den Textzeilen „Open window closing / Oh but wait it’s still snowing / If you’re out there / I’m coming out on the ledge / I’m going out on the ledge“. Abrupt wird es dann ruhiger und endet. „Ledge“ übersetze ich in diesem Kontext jetzt einmal mit Fensterbrett. Draußen fällt der Schnee, will die Protagonistin sich hinausstürzen, in den Schnee hinein? Ist das ein Selbstmord, um mit dem Geliebten wieder vereint zu sein? Ein Liebestod? Das Cover des Albums „50 words for snow“ zeigt eine Frau und einen Schneemann, sie küssen sich, eingefroren und zugedeckt vom Schnee, es sieht aus wie ein Relief auf einer Grabplatte. Lebend können sie nicht zusammenkommen – der kalte Schneemann und die warme Frau. Das Ende vom „Misty“ ist für mich ein Liebestod im Schnee. Diese Deutung wird unterstützt, wenn man sich die harmonische Gestaltung anschaut und analysiert. Die verwendeten Tonarten haben gemäß Beckh [7] eine Bedeutung, die verblüffend gut dazu passt. Das Folgende ist gemäß Beckh zitiert.
Die Haupttonart scheint das As-Dur zu sein. As-Dur ist tiefste Tiefe, die dunkelste der Dur-Tonarten, die mystische Tonart. Es steht für die „Ahnung und Empfindung des kommenden Weihnachtslichts inmitten der tiefsten Jahresfinsternis“. Tiefe Innerlichkeit und Weihe verkörpert diese Tonart, es „scheinen sich weite Wunderreiche der Nacht oder geheimnisvolle Reiche des Überirdischen vor uns aufzuschließen, wir sehen uns auf einmal in mystische Tiefen des eigenen Inneren, des Innersten der Welt hineingeführt, ein Licht beginnt aufzuleuchten, wo wir bisher nur Dunkel vermuteten.“  As-Dur ist die Tonart der Nachtstücke. Bekannte Musikstücke sind in dieser Tonart geschrieben, z.B. Liszts „Liebestraum“.  Alle diese Zitate klingen wie Beschreibungen der Grundstimmung von „Misty“, das ja auch eine Art Liebestraum ist.
Zu Beginn des Songs wird häufig der B-Dur-Akkord benutzt. B-Dur ist noch nicht das Licht selbst, es ist die Ahnung des Lichts, die Hoffnung des Lichts, der Glaube an das Licht, Tonart des Glaubens und der Hoffnung. Robert Schumann verwendet B-Dur als „Liebestonart“.  Die Tonart steht für sichere Glaubenszuversicht, es ist die Tonart der liebenden Erwartung, der ahnenden Erwartung des Schicksals. So wird sie in „Der fliegende Holländer“ von Richard Wagner benutzt. Wagner – ein Meister in der Verwendung der Tonarten – hat die Charakteristika dieser Tonart oft herausgearbeitet. Er benutzt sie zur Darstellung des „Sterns der wahren Liebe“ im „Tannhäuser“ („Heilige Elisabeth – bitte für mich!“), der Brautchor aus „Lohengrin“ steht in B-Dur („Treulich geführt ziehet dahin, wo euch der Segen der Liebe bewahr! Siegreicher Mut, Minnegewinn, eint euch in Treue zum seligsten Paar“). In „Die Walküre“ ist es die Tonart der liebenden Erwartung („Winterstürme wichen dem Wonnemond“). Es ist Überwindung des Winters durch den Frühling der Liebe.
All das passiert auch in „Misty“. Der Winter im Herzen der Protagonistin weicht durch den Zauber einer mystischen Liebe.  Schmilzt der Schneemann an dieser Liebe? Wenn er im Song auftritt, dann wird der B-Dur-Akkord durch den H-Dur-Akkord ersetzt, der zum As-Dur dazukommt. H-Dur ist nach Beckh die Vorahnung des Hinübergehens, es ist die „Verklärung“. Diese hoch über dem Irdischen liegende Tonart wird nur verwendet, wenn man damit etwas ganz Bedeutsames ausdrücken will.  As-Dur ist die dominierende Tonart in Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“, der Oper schlechthin über eine verzweifelte Liebe, die im Tod endet. Es ist die Tonart der Liebesnacht und des Liebestods („Mild und leise, wie er lächelt“). Dieser Schlussgesang wandelt sich überirdisch verklärend nach H-Dur und endet in einer Apotheose in H-Dur.
Kate Bush spiegelt in „Misty“ Wagners Liebestod wieder, musikalisch und inhaltlich, für mich gibt es da keinen Zweifel. Bewusst oder intuitiv – das muss allerdings offen bleiben. Es gibt aber möglicherweise eine weitere Inspirationsquelle, die zum Song beigetragen hat. Ich zitiere den Beginn des Märchens „Schneewittchen“, der interessante Gemeinsamkeiten aufweist. „Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab. Da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Hätt‘ ich ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen! Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum Schneewittchen genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.“ [8]
Schnee, die Protagonistin an einem Fenster, Blut fällt in Schnee, ein magischer Wunsch, der Wunsch wird erfüllt, die Protagonistin stirbt – Gemeinsamkeiten mit „Misty“ sind für mich sichtbar. Aber vielleicht geht hier meine Fantasie mit mir durch, das mag am Wein und am Blick auf das Meer liegen.
Mein Fazit: „Misty“ verwebt den Liebestod aus „Tristan und Isolde“ mit märchenhafter Blutmagie (vielleicht analog zu Schneewittchen) zu einem neuen Mythos. Graeme Thomson meint, „[…] es ist die düstere Atmosphäre der Trauer, die den Song prägt“ [1]. Es ist aber auch die Geschichte einer alles überwindenden Liebe, die vielleicht doch eine Art Happy-End im Tod findet. Daher enthält „Misty“ neben unendlicher Trauer auch Hoffnung.    © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.413f [2] ‪Martin Scholz: Ich will das nicht. Berliner Zeitung. 27.11.2011
[3] https://chordify.net/chords/Kate-bush-misty-antirecords (gelesen 25.04.2018)
[4] https://www.inana.info/blog/2018/01/25/symbolik-ritual-blut.html (gelesen 03.05.2018)
[5] https://symbolonline.de/index.php?title=Blut (gelesen 03.05.2018)
[6] Andy Gill: ‪Kate Bush: The ice queen of pop returns. The Independent. 18.11.2011 [7] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.196ff (As-Dur), S.244ff (B-Dur), S.171ff (H-Dur)
[8] zitiert nach https://www.grimmstories.com/de/grimm_maerchen/sneewittchen_schneewittchen  (gelesen 03.05.2018)
[9] John Doran: A Demon In The Drift: ‪Kate Bush Interviewed. The Quietus. 13.11.2011 [10] https://traum-deutung.de/schneemann/  (gelesen 25.04.2018)

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Moments Of Pleasure

„Moments of Pleasure“ gehört für mich zu den bewegendsten Liedern von Kate Bush. Es ist das, was ich ein „Erinnerungslied“ nenne, eine Kategorie von Songs, die bei Kate Bush häufiger vorkommt. Titel wie „Blow Away“, „A Coral Room“ und „Among Angels“ gehören dazu. Es sind ruhige, melancholische Balladen, in denen an Vergangenes, unwiederbringbar Verlorenes, an Verstorbene erinnert wird. Meist sind diese Songs sparsam instrumentiert, nur mit Klavier und Streichern. Auch „Moments of Pleasure“ ist so ein trauriger Blick zurück. Kate Bush selbst sagt es so: „It’s to show just how precious life is and all those little moments that people give you. And that’s how people stay alive, through your memories of them.“ [5] Es ist ein Song, „der allzu flüchtige Momente der Freude heraufbeschwört und am Ende in einer traurigen Aufzählung […] verstorbener Weggefährten gedenkt“ [1]. Graeme Thomson hat dieses Liste durchleuchtet [1], es finden sich da Kate Bushs Tante Maureen, Alan Murphy (‚S Murph’), Gary Hurst (‚Bubba’), Bill Duffield (der Lichttechniker war während der ‚Tour of Life’ verunglückt) und John Barrat (dessen Spitzname ‚Teddy‘ aus der Kinderserie ‚Andy Pandy‘ stammt), Tonassistent bei den Aufnahmen zu ‚Never for ever‘ und ‚The Dreaming‘.
Ein weiterer wichtiger Name ist der von Michael Powell, dem Regisseur des Tanzfilms ‚The red Shoes‘. Diese Film ist einer von Kate Bushs Lieblingsfilmen [1]. Kate Bush hatte Powell kurz vor dessem Tod gefragt, ob er Interesse an einer Zusammenarbeit habe [1]. Beim Besuch in New York im späten Frühjahr 1989 gab es ein Treffen, draußen fegte dazu ein später Schneesturm über die Stadt hinweg [1]. Diese Szene findet sich in den Lyrics des Songs wieder. Der Regisseur war da 84 Jahre alt, vom Alter gezeichnet, sehr gebrechlich. En Jahr später ist er gestorben. Die Bedeutung dieser Begegnung schildert Kate Bush in bewegten Worten: „I was very lucky to get to meet Michael in New York before he died, and he and his wife were extremely kind. I’d had few conversations with him and I’d been dying to meet him. As we came out of the lift, he was standing outside with his walking stick and he was pretending to be someone like Douglas Fairbanks. He was completely adorable and just the most beautiful spirit, and it was a very profound experience for me. It had quite an inspirational effect on a couple of the songs.“ [6] Dieses Treffen muss Kate Bush sehr beeindruckt haben, was sich allein schon am Titelsong „The red Shoes“ des darauf folgenden Albums ablesen lässt.

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Die Erwähnung von Kate Bushs Mutter Hannah Bush wird oft so aufgefasst, als ob sie auch zu den Personen gehört, an die erinnert wird. Der Song ist aber nach Thomson Mitte 1991 aufgenommen worden, vor Hannah Bushs Tod [1]. Sie wird im Text mit einer ihrer Spruchweisheiten erwähnt: ‚Every old Sock meets an old Shoe‘ [1]. Hannah Bush starb dann während der Entstehungszeit des Albums, was dieser Erwähnung tragische Tiefe verlieh. Der Song existiert in zwei Fassungen, die Originalfassung findet sich auf „The red Shoes“. Hier beginnt es mit zarten Klavierklängen, die Gesangsstimme ist präsent im Vordergrund, dann kommt ein Streicherteppich hinzu. Möventöne sind im Hintergrund bei „into another moment“ zu hören. Der Chorus „Just being alive / It can really hurt“ wird fast herausgeschrieen, die Stimme ist hier voller Emotion, die Worte „treffen den Hörer wie ein Hammer“ [1]. Ron Moy [2] konstatiert, das dies den Trauerprozess genauer und ökonomischer zusammenfasst, als es jemals eine blumige poetische Lobrede schaffen könnte. Zum Schluss hinter den Erinnerungen klingt die Musik aus, sie verebbt quasi. Eine fast verzweifelte Stimmung herrscht von Anfang bis Ende.
In der musikalischen Gestaltung lenkt nichts von der inhaltlichen Aussage ab. Der Takt ist ein reiner 4/4-Takt, die Tonart ist ein reines Des-Dur [3]. Tonverbindungen über Taktschwerpunkte hinweg sorgen für einen schwebenden, schwerelosen Eindruck [3]. Die Tonart Des-Dur steht gemäß Beckh [4] für den Ausdruck des Allerhöchsten. Ein eigenartiger Abgrund zwischen Höhe und Tiefe scheint sich innerhalb dieser Tonart aufzutun. Diese Tonart ist wie ein Gebet aus der Tiefe, das fast hoffnungslos nach den verlorenen Lichteshöhen emporblickt (z.B. Beethovens ‚Appassionata‘), sie kann aber auch ein ernstes, feierliches Weihegebet sein (z.B. in Bruckners 8. Sinfonie) [4]. Alle diese Gefühle und Stimmungen finden sich in Kate Bushs Song wieder. 

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Die Fassung auf „Director‘s Cut“ intensiviert diese Gefühle noch einmal. Das Klavier klingt nun tiefer, ruhiger. Auch die präsente Stimme ist tiefer, ruhiger, langsamer. Es gibt keine Streicherteppiche mehr. Der ganze Song ist viel mehr in Moll, in Dunkelheit getaucht. Töne verhallen, als ob sie in die Unendlichkeit hinein verdämmern. Der Chorus hat nun seinen Text verloren, die Melodie wird durch einen Chor gesummt. Dieser Summchor erinnert mich an den Summchor aus „Madame Butterfly“ von Puccini, dort wird er in einer Szene eingesetzt, in der die Titelfigur gewahr wird, dass ihr Geliebter sie verlassen hat und nicht mehr kommen wird. So wie dort ist die Stimmung auch in „Moments of Pleasure“ tieftraurig. Kate Bush ist nun zwanzig Jahre älter, sie muss die Fassungslosigkeit über den Verlust nicht mehr in Worte fassen. Es gibt zu viel davon, wenn man älter wird. Zur Textzeile „it‘s just started to snow“ erklingen auf einmal höhere Klaviertöne, so als ob Schneekristalle herabfallen. Bei „And I can hear my mother saying“ bricht die Stimme fast, dies ist nun eine wieder gegenwärtige Erinnerung, ein Satz der verstorbenen Mutter aus der Vergangenheit. Die Liste der Toten musste Kate Bush am Ende leicht kürzen, denn „offenbar erwies sich der bereits aufgenommene  Piano-Track als ein klein wenig zu kurz und sie musste auf jemanden verzichten“ [1]. Maureen und Bill Duffield fehlen nun.
Der Song hat die verzweifelte Grundstimmung der ersten Version verloren. Er ist nun in ein Dämmerlicht getaucht, er ist zu einer zeitlosen Elegie geworden. Graeme Thomson [1] schreibt es sehr treffend: „Als das üppige Streicherarrangement des Originals wegfiel, bekam der winterliche Text mehr Gewicht und es wurde so ein persönliches Stück über den Verlust liebgewonnener Menschen, dass man den Schnee im Hintergrund fallen hören konnte.“ Es singt nun jemand, der den Schock der Verluste öfter erlebt hat und der ihn nun für einen unausweichlichen Bestandteil des Lebens hält. Das Nichtakzeptieren in der ersten Fassung ist gewichen. Nun ist das Lied auf eine stille Art und Weise verstörend und bewegend. Die Weiterentwicklung von Kate Bush in diesen zwanzig Jahren zwischen den beiden Fassungen bringt Siobhan Kane [8] für mich auf den Punkt: „This version is even more poignant, for the fact that there is more loss, yet the choir that hums along elevates us sky-high, gently–and takes Bush into another realm, sharing space with someone like Puccini and his Hummingbird Chorus. She shares a common ground with opera in terms of its expansiveness, turning people’s everyday lives and stories into great art, for we are all epic, in a way, aren’t we?“
Wie soll man diese Details über diesen bewegenden Song zusammenfassen? Ich kann dem Fazit von Ron Moy [2] fast nichts hinzufügen: „The humanism, affectism and grounded spirituality of this song quite overwhelmed me upon first listen. Indeed, it is one of the few songs that carry such an emotive charge that I have to be careful when I choose to listen to it. […] Relatively few songs have moved me to tears – but ‚Moments of Pleasure‘ did, and does.“ Ein letztes Wort zu diesem Song von Kate Bush selbst – die Essenz in einem Satz [7]: „I’m not talking about only pain or only ecstasy, but this notion that life is so precious. The moments of pleasure couldn’t exist without the sadness.“ © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S321f und S.395f
[2] Ron Moy: Kate Bush and Hounds of Love. Aldershot. Ashgate Publishing Limited. 2007. S.117
[3] Kate Bush: The red shoes (Songbook). Woodford Green. International Music publications Limited. 1994. S.31ff
[4]  Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.231ff
[5] Chrissie Iley: „Beating About The Bush“. The Sunday London Times. 12. September 1993
[6] Marianne Jenssen: „Rubber Souls“. Vox. November 1993
[7] Tom Moon: „A Return to Innocence“. Philadelphia Inquirer. Januar 1994.
[8] Siobhan Kane: „Album Review: ‪Kate Bush – Director’s Cut“, Consequence of Sound (Webseite), 24.05.2011. https://consequenceofsound.net/2011/05/album-review-kate-bush-directors-cut/ (gelesen 20.01.2020)

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Mother Stands For Comfort

Dieser Song scheint ein Mysterium zu sein. Irgendwie läuft er unter dem Radar. Graeme Thomson [1] zum Beispiel widmet dem Song in seiner Biografie genau dreieinhalb Zeilen, und das in einem Buch von 459 Seiten!
Mother Stands For Comfort ist der vierte Song auf der ersten Seite des Erfolgsalbums Hounds Of Love. Es ist das einzige Stück dieser ersten Seite, das keine Single geworden ist. Der Song ist wohl einfach zu ungewöhnlich. Schon allein das Thema sperrt sich gegen eine Single: Der Song handelt von einem Sohn, der ein schreckliches Verbrechen begangen hat, und davon, wie seine Mutter ihn beschützt. Ein schwarzer Schwan unter lauter Schwanenprinzessinnen! Mother Stands For Comfort ist ruhig, zurückgenommen, fast psychopathisch emotionslos in der Instrumentation. Die Stimmung ist abgekühlt, erfroren. Jemand verlässt sich auf die bedingungslose Liebe seiner Mutter, ganz egal was er getan hat. Ich liebe Mother Stands For Comfort, es ist ein Song, der problemlos auf Bushs vorherigem Album The Dreaming hätte sein können. Aber wie für fast alle Titel dieses Albums gilt auch hier: für eine Single ist er zu abgründig.
Kate Bush „war schon immer eine Weberin lyrischer Rätsel, ihre Songs sind ein Wandteppich des Tiefsinnigen und des Eigenartigen“ [10, meine Übersetzung]. Mother Stands For Comfort zeigt Kate Bushs beispiellose Fähigkeit, so ganz unterschiedliche Themen wie das Mütterliche und das Makabre zu mischen und „eine psychologische Tiefe zu zeigen, die ebenso verstörend wie tröstlich ist“ [10, meine Übersetzung].
In seiner erfrorenen Stimmung klingt der Song so, als wenn er auch auf die zweite Seite in die Suite The Ninth Wave passen würde. Auch diese Suite balanciert Licht und Dunkelheit aus, so wie es dieser Song tut. In der Stimmung spiegelt er für mich Waking The Witch, er hat eine ähnlich spröde Kantigkeit. Aber er wirkt wie ein fremder Alien auf der A-Seite des Albums, die Seite, die Kate Bush mit Hounds Of Love übertitelt hat. Hounds of Love, das sind die Jagdhunde der Liebe und ihr treibender Rhythmus ist das beherrschende Element sämtlicher anderer Songs auf der A-Seite (so „Sound Chaser“ [9]). Mother Stands For Comfort ist ein eisigkalter Blick auf die Jagdhunde der Liebe von der bösen, toten Seite aus.

Kate Bush ist in mehreren Interviews auf den Inhalt des Songs eingegangen. Sie bezeichnet ausdrücklich den Protagonisten als „Son“, also als männliche Person. Aus dem Text des Songs geht das nicht klar hervor. „It’s really about the power of maternal love and that in the song, the son has done something criminal, and uh it’s irrelevant in a way what he’s done, because it’s the mother wanting to harbor her son and keep him safe. That’s her concern to look after her child, rather than the morality of the situation. Her love is much more important to her than what’s right or wrong“ [4]. Liebe kann verschiedene Gestalten annehmen, hier geht es um eine eher abseitige Art der Liebe, eine Liebe ohne moralische Grenzen. „There are many different kinds of love and the track’s really talking about the love of a mother, and in this case she’s the mother of a murderer, in that she’s basically prepared to protect her son against anything. ‚Cause in a way it’s also suggesting that the son is using the mother, as much as the mother is protecting him. It’s a bit of a strange matter, isn’t it really? (laughs)“ [5]. Auf eigenen Erfahrungen beruht das laut Kate Bush nicht. „No, certainly not on that level! But I have read reports, heard of things–through news, etc.– in the past, where that has happened“ [7].
Kate Bush arbeitet in diesem Song einen krassen Gegensatz heraus. Da ist eine Mutter, das Musterbeispiel an Fürsorge und Sicherheit – aber sie gewährt einem Mörder Schutz, der sie wohl auch psychologisch manipuliert. Das ist als Thema für einen Song weit von der Komfortzone entfernt. Die mütterliche Figur als Verbündete beim Verbrechen, das stellt unsere Wahrnehmung von Moral in Frage. Der Song betrachtet die Grenzen, bis zu denen mütterliche Liebe gehen wird, um ein Kind zu beschützen – und stellt sie zur Diskussion. Kate Bush zeigt uns die Ereignisse nach dem Mord. Da sie uns nicht wirklich aufklärt, bleibt es uns überlassen, uns die Vorgeschichte vorzustellen und zu überlegen, wer getötet wurde und warum ein Junge zum Mörder werden konnte. Und wir werden auch im Unklaren darüber gelassen, ob die Mutter wirklich so ist wie geschildert. Der Song ist die Sicht (und die Einbildung) des Sohnes, die Wirklichkeit könnte völlig anders sein. Wir bekommen nur einen Blick in seine (wirre) Seele und keinen in ihre.
Um das Abgründige dieses Songs besser zu verstehen, werde ich die Beziehung Mutter – Sohn anhand des Textes genauer anschauen. Ich folge dabei einem Gedankengang, den „Sound Chaser“ im Bush-Forum niedergeschrieben hat [9]. „She knows that I’ve been doing something wrong, But she won’t say anything.“ Hier stellt sich sofort eine entscheidende Frage: Ist die Mutter wirklich im Unklaren über das Verbrechen? Schließlich geht es um Mord („Mother will hide the murderer.“). Das Schweigen der Mutter ist der zentrale Aspekt, den Kate Bush in diesem Song hervorhebt. Die Mutter bleibt stumm und macht sich damit mitschuldig an den Verbrechen ihres Kindes. Das ist eine kraftvolle Aussage, unausgesprochene Dinge haben genauso viel Gewicht wie das gesprochene Wort.
„She thinks that I was with my friends yesterday, But she won’t mind me lying“ Diese etwas paradoxe Zeile vertieft diese Aussage noch und geht tiefer auf das ein, was in der Mutter vorgeht: Sie denkt, das ich bei meinen Freunden war, nie würde sie mich einer Lüge bezichtigen. Der Mutter ist nur der Schutz ihres Kindes wichtig. Sie verschließt ihre Augen vor dem, was passiert. Sie hält die Aussage ihres Kindes für wahr, auch wenn die Tatsachen dagegen sprechen. Mutter bildet den geschützten Raum um den Sohn. Die Realität und die Beziehung zu ihrem Sohn sind in ihrem Kopf getrennt.
„Mother stands for comfort / Mother will hide the murderer.“ Auch diese Zeile ist bemerkenswert, weil sie aufzeigt, das der Protagonist ebenso wie die Mutter auf zwei Ebenen denkt. Mutter steht für Schutz, das ist eine Aussage in der ersten Person. Mutter wird den Mörder verstecken – auf einmal wird in die dritte Person gewechselt. Das ist eine De-Personifizierung, das ist schizophren. Der Sohn distanziert sich von seiner Mörder-Natur, betrachtet die wie etwas Fremdes. Ganz klar entzieht er sich der Verantwortung, der Schuld. „Mutter wird den Mörder verstecken“ – diese Zeile hallt durch das ganze Lied, es ist ein Refrain, der die Erzählung zusammenhält und sich in die Psyche des Zuhörers einbrennt. In einem Satz fasst er die Essenz des Songs zusammen: Beschützerinstinkte kollidieren mit unseren Moralvorstellungen und das ist nur auszuhalten, wenn man schizophren darauf reagiert.
„It breaks the cage, and fear escapes and takes possession / Just like a crowd rioting inside / Make me do this, make me do that, make me do this, make me do that“ Die Distanzierung des Sohns geht weiter, er gibt die Schuld an seinem Verhalten einem diffusen „It“. Irgendwas Böses (der Wahnsinn, die zweite Natur?) bricht aus und  hat die Person übernommen. In einem unheimlichen Bild wird geschildert, wie es der Sohn empfindet, wenn dieses Böse in ihm um sich greift. Es ist wie eine Menschenmenge aus inneren Stimmen, die im Inneren randaliert und ihn die Taten begehen lässt. Diese Zeilen legen das innere Chaos offen, das der Protagonist erlebt. Es ist ein Kampf um Kontrolle, während widersprüchliche Emotionen und Impulse im Protagonisten streiten.
„Am I the cat that takes the bird? To her the hunted, not the hunter.“ Das ist ein weiterer Hinweis auf die Ambivalenz der Hauptperson. Für mich wird deutlich, dass der Protagonist Geborgenheit sowohl als Zufluchtsort als auch als Gefängnis empfindet („it breaks the cage“). Ist der Protagonist die Katze oder der Vogel? Der Schutz der Mutter bietet eine Atempause vor den inneren Dämonen, führt aber auch zu einer Unfähigkeit, sich den Konsequenzen seiner Handlungen zu stellen. Der Sohn ist sich aber sicher, die Mutter wird ihn beschützen. Die Komplexität dieser Beziehung wird spürbar und veranschaulicht den raffinierten Umgang des Liedes mit der menschlichen Psychologie.
„Mother hides the madman-“
Wieder diese Distanzierung, der Wechsel in die dritte Person. Der Erzähler ist sich seines Wahnsinns anscheinend bewusst, verdrängt sie aber. Kommt hier noch eine manipulative Komponente dazu? Manipuliert er seine Mutter, bewusst oder unbewusst? Wie kann er sich sonst so sicher sein?
„Mother will stay mum.“
Und hier haben wir ein schönes, tiefes Wortspiel. Selbst die Worte haben hier in diesem Song eine doppelte, schizophrene Natur. Mutter bleibt Mama, ungeachtet der Tat ihres Kindes. Und Mutter wird Stillschweigen bewahren („mum“ = Mama, „to stay mum“ = „den Mund halten“, „Mum’s the word“ = „Nichts verraten! / Kein Wort darüber!“).
Es ist die Einprägsamkeit solcher Zeilen, die Bushs geniales Songwriting auszeichnet. Jede dieser Textpassagen fügt dem emotionalen Aufbau des Songs eine weitere Schicht hinzu und macht ihn komplexer. Immer tiefer werden wir hineingezogen und dazu gezwungen, uns mit den Abgründen zwischen Richtig und Falsch, Liebe und Schutz, Ehrlichkeit und Manipulation auseinanderzusetzen. Und Kate Bush lässt uns dabei allein, nie löst der Song die Spannung auf, die er aufbaut.
Nun könnte man fragen, wie das denn auf die Hounds Of Love-Seite des Albums passt. Aber der Text ist voller Verweise auf das Konzept der Hound, der Jagd, so „Sound Chaser“ in [9]. Da steht „hide“ (verstecken), da steht „It breaks the cage“ und „escapes“ (ausbrechen, flüchten), es gibt „Cat“ und „Bird“ (Jagd-Motiv, der Vogelkäfig). Da findet sich „Hunted not the hunter“ (Gejagter, nicht der Jäger) mit seiner Vertauschung der Rollen gegenüber den anderen Songs. Mother Stands For Comfort ist ein dunkler Vertreter, es sind böse „Hounds“, es ist eine düstere, abgründige Form „Of Love“. 

Kate Bush malt dazu meisterlich eine Klanglandschaft, die beunruhigend und einzigartig ist. Die Drums von Stuart Elliott und der Bass von Eberhard Weber tragen stark zur Wirkung bei. Ein skeletthaftes Schlagzeugmuster im Rhythmus eines Schaukelstuhls, nur Kick und Snare, bildet die Grundlage, auf der das gesamte Percussion-Muster, Klavierakkorde und eine gewundene Kontrabassmelodie aufgebaut sind. Die meisten anderen Sounds wie zerbrechendes Glas stammen höchstwahrscheinlich vom Fairlight. Dazu kommen ein nahezu gehauchter Gesang und klagende Backing Vocals von Kate Bush. Ein sehr fremdartig klingendes, geisterhaftes Fairlight bestimmt die Chorus-Passagen. Die Chorus-Passagen sind sehr zärtlich gesungen, die Strophen dagegen in einem anderen Tonfall, eher erzählend. Zum Schluss gibt es hohe Kate-Stimmen, die Vokalisen singen. Sie klingen wie klagende Schreie, ein bisschen verrückt, psychotisch, irrational. Sind das die Stimmen im Kopf? Ganz am Ende ertönt nur noch das Fairlight, dieser Schluss ist merkwürdig und abrupt. Alles in dieser Komposition spiegelt den Wahnsinn der Geschichte wieder. Kate Bush hatte genaue Vorstellungen, was sie musikalisch wollte. Für sie schrie der Basspart förmlich nach Eberhard Weber. „Yes, I do love the bass, it’s a very beautiful instrument and, there’s no doubt, it does put a very strong mark on the track with the player’s personality really coming through. And, it depends, but often there are some tracks that are asking for someone’s particular style. And on this album I felt that Hello Earth and Mother Stands For Comfort were very much in the style of Eberhard Weber, actually it was partly Del’s suggestion. I’ve been a fan of his for a long time and a few years ago we brought him over for Houdini on The Dreaming. This time he came over specially from Munich, and stayed two days to do the two tracks“ [6].
Faszinierend ist, wie der Bass eingesetzt wird. Er ist kein prägendes Rhythmusinstrument, er schleicht im Untergrund des Songs hin und her und formt von unten die Melodie des Songs. Auch der kalte, synthetisch klingende Sound wurde mit Bedacht gewählt. „Quite often I find synthetic sounds create a coldness, that if the track is lonely or sad or dark, sometimes you want that kind of coldness, that machine-like coldness, which is very specific. And with acoustic instruments you get a real – normally – a very warm, human presence and something that’s intimate and really there, something that breathes, you know, it’s not this kind of dead, cold, machine. And I feel that both are very usable, depending on what you want to say.“ [5] Hier aber hier war dieser Sound genau passend. „Well, the personality that sings this track is very unfeeling in a way. And the cold qualities of synths and machines were appropriate here“ [6].
Die Art und Weise, wie das traurige Klavier im Kontrast zum außerirdisch anmutenden Synthesizer steht, passt zu meinem Verständnis des Textes. Das Klavier ist sehr warm und traditionell, wohingegen der Synthesizer klingt, als würde er von einem anderen Himmelskörper ertönen. Beides ist ineinander verschlungen, die zwei Seiten des Songs lassen sich nicht voneinander trennen. Mutterliebe und Verbrechen sind untrennbar miteinander verbunden. 
Zur Analyse der musikalischen Struktur beziehe ich mich auf die in [2] abgedruckten Noten. Der Song steht in einem streng durchgehaltenen 4/4-Takt, was für mich gut zur eingefrorenen Starrheit des Texts passt. Die Gesangsmelodie enthält viele Töne, die über die Taktgrenzen hinweggehen, das erzeugt einen schwebenden, bodenlosen Zustand. Der Rhythmus ist starr, aber der Gesang verliert so den Boden unter den Füßen. Sehr häufig ist die Tonfolge e-g-e-g-e-g in der Melodie in den Strophen, z.B. „She knows that I‘ve been doing something wrong“. Diese pendelnde Tonbewegung ist für die Strophen charakteristisch. Später gibt es die umgekehrte Folge g-e auf „Mother“ ( …. will hide the murderer z.B.) in Chorus und Outro. Meine Folgerung: diese kleine Terz steht für die Mutter und für die Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Zwei Töne, zwei Personen. Die Strophen sind eine Beschreibung der Situation des Protagonisten, die Chorus-Partien und das Outro beschreiben seine Sicht auf die Mutter.
Die Tonart ist ein a-Moll, fast überall gibt es nur Akkorde dieser Tonart. So starr wie der Rhythmus, so starr wird die Tonart eingehalten. Die einzige Abweichung ist der zweimal auftauchende B-Dur-Akkord (auf „lying“ in „but she won‘t mind me lying“ und auf „takes the bird“ in „Am I the cat that takes the bird“). Der B-Dur-Akkord wird auf dem letzten Ton der Silben wieder durch den leitereigenen C-Dur-Akkord abgelöst. B-Dur, das ist weit von a-Moll weit entfernt. Zur Symbolik der Tonarten beziehe ich mich wieder auf Beckh [3]. Die Tonart a-Moll ist schwermütig, poetisch. Sie steht für die romantische Zwienatur, die Zwielichtnatur, sie ist auch die Sehnsuchtstonart. Sie kann aber auch der Ausdruck finsterer Entschlossenheit sein. Offenbar ist diese Tonart genauso vieldeutig und zwiegespalten wie der Protagonist des Songs. B-Dur ist noch „nicht das Licht selbst, aber die Ahnung des Lichts, die Hoffnung des Lichts, der Glaube an das Licht“. Es ist die Liebestonart, sie steht für Glaubenszuversicht. Wird hier durch die Verwendung angedeutet, dass es ein bisschen Licht gibt in der Geisteswirrnis des Protagonisten? Ist da ein ganz kleiner musikalischer Schimmer von Hoffnung, von Liebe?

Man sieht, Mother Stands For Comfort ist sehr komplex. Es bleibt die Frage offen, was Kate Bush den Anstoß gegeben hat, diesen Song zu komponieren. Sam Liddicott stellt sich in seinem Essay über den Song auch diese Frage, kommt aber zu keiner eindeutigen Antwort. „I do wonder what started the process of Mother Stands for Comfort. Bush was often inspired by film, T.V. and literature, but I do not think there is any particular work that directed this track. It sort of makes me think of Bush writing songs for Hounds of Love and perhaps it was a cloudy day and quite moody. Alone with her thoughts, she came up with the incredible Mother Stands For Comfort!“ [11]. Bestimmt hat Kate Bush während der Komposition des Albums Filme geschaut, sie liebt das ja. „Sound Chaser“ hat mich auf eine Idee gebracht, welcher Film vielleicht dabei war: „[…] da ich den Song immer mit einer „Psycho/Norman Bates“-Atmosphäre verbinde (Kate –> Hitchcock-Fan)“ [9]. Ist der Song eine Reflexion über die Konstellation aus „Psycho“ von Hitchcock? Auch da gibt es diese den Mörder Norman Bates „beschützende“ Mutter, die immer stumm bleibt. Kate Bush war immer eine Hitchcock-Verehrerin: „Hitchcock was definitely a genius. His dreams must have been extraordinary. He must have plucked his ideas out of the sky, or had a private line to Mars“ [15]. Hitchcocks visueller Stil hat auch das Video zur Single Hounds Of Love geprägt. Die Grundkonstellation ist auf jeden Fall passend: „Norman Norman erwähnt sein Hobby, das Präparieren von Vögeln, und kommt auch auf seine Mutter zu sprechen. Er bezeichnet sie als „harmlos“, nur „manchmal ein bisschen bösartig“. Er äußert auch, dass er keine Freunde brauche, denn der beste Freund eines Mannes sei seine Mutter“ [14]. Auch die gespaltene Persönlichkeit von Norman Bates erinnert an den Protagonisten unseres Songs. „Einerseits sei er ein schüchterner, unauffälliger Mann, andererseits verkörpere der andere Teil seiner Persönlichkeit seine herrschsüchtige Mutter. […] Als Mrs. Bates begraben werden sollte, stahl er ihren Körper und konservierte ihn, um das Verbrechen gewissermaßen ungeschehen zu machen. So lebte er fortan mit seiner verstorbenen Mutter zusammen und sprach mit ihr, indem er ihre Stimme imitierte. Da er seine Mutter, auf deren Beziehungen er krankhaft eifersüchtig war, genaustens imitieren wollte, nahm er an, dass sie ihm gegenüber genauso empfinden und handeln würde. Wenn Norman sich für eine Frau interessierte, rebellierte die eifersüchtige Mutter in ihm und ermordete diese – in Frauenkleidern und Perücke“ [14].
Im Film ist Norman Bates eindeutig die Katze, die die Vögel (die Frauen) fängt, tötet und ausstopft. Im Song bleibt das offen: „Am I the cat that takes the bird?“. Wie im Song bekommen wir im Film bloß die Sicht des Sohnes auf die Realität und auf seine Mutter zu sehen, sie selbst bleibt stumm. Es gibt die Mutter nicht mehr, sie ist tot, existiert nur noch in der Einbildung. Vielleicht ist das in diesem Song auch so. Leider gibt es von Kate Bush zu solchen Ähnlichkeiten keine Aussagen, deswegen muss das als Idee stehen bleiben. Aber auf jeden Fall sollte sich der Protagonist des Songs vorsehen, im Film geht es nicht gut aus. Die tote Mutter übernimmt die Kontrolle über ihn, so der Text der Schlussszene [13]. Vielleicht denkt die Mutter im Song auch ganz anders über das Geschehen, wir bekommen ja nur die Sicht des  Sohnes zu hören, die Mutter bleibt stumm (tot?). Wäre der Schluss von „Psycho“ und damit die Sichtweise der Mutter nicht auch ein schönes Schlusswort für den Song?

„It’s sad… when a mother has to speak the words that condemn her own of son… but I couldn’t allow them to believe that I would commit murder. (A pause) They’ll put him away now… as I should have… years ago. He was always… bad. And in the end, he intended to tell them I killed those girls… and that man. As if I could do anything except just sit and stare… like one of his stuffed birds. (A pause) Well, they know I can’t even move a finger. And I won’t. I’ll just sit here and be quiet. Just in case they do… suspect me“ [13]. Das Lied, ein eindringliche Mischung aus Familie und Tod, wirft immer mehr Fragen auf, je näher man hinschaut. Beantwortet wird keine davon. Mit beschwörenden Melodien und scheinbar harmlosen Texten stößt uns Kate Bush in die Untiefen einer komplexen Beziehung zwischen Mutter und Kind. Mother Stands For Comfort ist ein Song gefrosteter, außer Kontrolle geratener Emotionen, der uns in einen psychologischen Abgrund hineinstürzt und uns darin allein lässt. Es erstaunt (und beglückt) mich jedes Mal wieder, Kate Bush auf dem Album Hounds Of Love zu erleben. Es macht mich fassungslos, wie man ein so lebensbejahende Lieder wie The Big Sky und Jig of Life schreiben konnte, aber dann auch das erschreckende, abgrundtiefe Mother Stands For Comfort!
„I really admire Kate’s ability to make such beautiful art about culturally intense or taboo topics. Her music sounds like it comes from another universe but at the core it is always cleverly human. Only Kate can make such a cold concept feel so warm“ [8]. Langsam hat sich die Tiefe dieses Songs herumgesprochen, die Zeitschrift Mojo wählte ihn auf Platz 38 der besten Songs von Kate Bush [12]. Sam Liddicott sagt es sehr schön so – und dem ist nichts mehr hinzuzufügen: „On an album as varied and stunning as Hounds of LoveMother Stands For Comfort underlines how Kate Bush is SUCH an immensely talented and varied creator“ [11]. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.273
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.124f
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.78ff (a-Moll) und S.245 (B-Dur)
[4] Night Flight, Unedited version, November 1985
[5] „Classic Albums interview: Hounds Of Love“. Interview mit Richard Skinner. Radio 1. 26.01.1992.
[6] Interview mit Peter Swales (unedited). Musician. Herbst 1985.
[7] N.N. (australischer Interviewer). Interview 2, CBAK 4011 .
[8] https://www.reddit.com/r/katebush/comments/r3j5t7/mother_stands_for_comfort_a_personal_analysis/?rdt=41441 (gelesen 14.04.2024)
[9] https://www.carookee.de/forum/Kate-Bush/86/Mother_Stands_For_Comfort.13942741.0.01105.html (gelesen 14.04.2024)
[10] https://songmeaningsfacts.com/mother-stands-for-comfort-by-kate-bush-unraveling-the-enigmatic-lyrical-tapestry/ (gelesen 15.04.2024)
[11] https://www.musicmusingsandsuch.com/musicmusingsandsuch/2020/11/27/feature-the-black-sheep-of-the-family-kate-bushs-mother-stands-for-comfort-from-hounds-of-love (gelesen 15.04.2024)
[12] https://www.mojo4music.com/articles/the-mojo-list/kate-bushs-50-greatest-tracks/ (gelesen 15.04.2024)
[13] https://the.hitchcock.zone/wiki/Scripts:_Psycho_(revised_draft,_01/Dec/1959)_-_part_8 (gelesen 18.04.2024)
[14] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Psycho_(1960) (gelesen 22.04.2024)
[15] Ted Nico: Fairy Tales & Nursery Rhymes. Melody Maker. 24. August 1985

Moving

„Moving ist schon aus einem einfachen Grund ein ganz besonderer Song. Er eröffnet das Debutalbum „The kick inside“ von Kate Bush. Er wurde als erster Song in der Aufnahmesession im Juli/August 1977 aufgenommen, nach Erinnerung des Produzenten Andrew Powell dauerte das nur zwei Stunden [2]. In Japan erschien er als Single am 6. Februar 1978 und erreichte den Platz 1 der Charts [1]. Der Song wird allgemein als Tribut an ihren Tanz/Schauspiellehrer Lindsay Kemp angesehen [1]. Eröffnet (und beschlossen) wird er mit gesampelten Walgesängen, die vom Album „Songs of the Humpback Whales“ von Roger S. Payne stammen [1]. Roger S. Payne ist ein amerikanischer Biologe, der sich intensiv mit den Gesängen der Wale beschäftigt hat [11].

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„Moving“ ist der erste Song auf „The kick inside“, er ist sozusagen das Eingangsstatement. Wird seine Bedeutung angemessen gewürdigt? Die Biographen gehen nur auf eher offen sichtbare Dinge ein. Ron Moy [3] bleibt aus meiner Sicht recht allgemein. Für ihn adressiert der Song die Hauptthemen von Kate Bushs Songs – Liebe, Beziehungen, Sinnlichkeit und Begehren. Für ihn ist er direkt („touch me, hold me, how my open arms ache“) und gleichzeitig poetisch und metaphorisch („you crush the lily in my soul“). Ron Moy sieht diese zwei Pole (Aktivität / passive Reflexion) als typisch für viele Lyrics von Kate Bush an – damit belässt er es in seiner Analyse. Für Graeme Thomson [2] spiegelt „Moving“ die physische Befreiung und die psychische Wandlung wieder, die Kate Bush beim Tanzen erfahren hat. Der „moving stranger“ ist demnach Lindsay Kemp und das Bild der Lilie, die er zerdrückt („crush the lily in my soul“) steht gemäß Thomson für eine positive Erfahrung, nämlich, dass die Bewegung ihr Kraft verleiht und sie nicht etwa schwächt. Hier frage ich mich allerdings, wie das Zerdrücken einer zarten Blume in der Seele so uneingeschränkt positiv gesehen werden kann.
Phil Sutcliffe [4] beschreibt den Song so: „It’s a complete evocation of the movement of the dancer, speaking with his limbs, sense through sensuality, as sexy as his ‚beauty’s potency‘, the dancer and the watcher in harmony like lovers.“ Alle diese Analysen sprechen Aspekte des Songs an, gehen für mich aber nicht genug in die Tiefe. Ich werde versuchen, einige Gesichtspunkte zu ergänzen. Ein Blick auf die Gestaltung des Songs ist dabei hilfreich. „Moving“ beginnt mystisch. Es braucht einige Sekunden, um zu identifizieren, was hier gerade für fast zwanzig Sekunden erklingt. Es sind Walgesänge, sirenenhafte Klänge, fremdartig und fast unheimlich in ihrer Wirkung. Es sind die „Walgesänge, die sie so liebte“, so sagt es Graeme Thomson [2]. Nach diesen zwanzig Sekunden setzen dann zart die Instrumente und der Sologesang ein. Der Gesang ist teilweise reich verziert, für den Produzenten Andrew Powell klang das wie die „Königin der Nacht“ aus der Zauberflöte [2]. Diese Koloraturen sind besonders ausgeprägt bei „how you move me“, „potency“ und auf „soul“, insbesondere zum Schluss des Songs. Eine Königin der Nacht der Romantik singt hier. Im zweiten Chorus kommen einige Echos hinzu durch einen Chor aus von Kate Bush gesungenen Stimmen. Zum Ausklang ertönen wieder Walgesänge, ein bruchloser Übergang in den nächsten Song findet statt. Offenbar geht es hier um mehr als nur diesen einen Song. Insgesamt ist „Moving“ in eine äußerst romantische Stimmung getaucht.
Aus dieser Beschreibung heraus die Verbindung zu Lindsay Kemp zu finden, ist nicht offensichtlich. Zum Glück gibt es Äußerungen von Kate Bush selbst, die das erläutern. Es war ihr wichtig, Lindsay Kemp ein Lied zu widmen. „He needed a song written to him. He opened up my eyes to the meanings of movement. He makes you feel so good. If you’ve got two left feet it’s ‚you dance like an angel darling.‘ He fills people up, you’re an empty glass and glug, glug, glug, he’s filled you with champagne.“ [4] Kate Bush sagt ausdrücklich, dass der Song dem Schauspiellehrer gewidmet ist, das heisst aber nicht automatisch, dass es ein Song über ihn ist. Ihr Mentor hat aber Kate Bush die Augen dafür geöffnet, wie man ganz verschiedene Stimmungen ausdrücken kann. Paul Kerton geht darauf in seinem Buch sehr ausführlich ein. Er zitiert z.B. Kate Bush so: „Er sagte zum Beispiel, ihr werdet jetzt alle zu ertrinkenden Seeleuten, Wellen schwappen schon über euch, und jeder fing an zu schreien. Er lehrte mich zu schreien und mir meines Körpers bewusst zu werden“ [5]. In diesem frühen Zitat klingt schon die Faszination für das Wasser und das Meer an, die sich im ganzen Werk von Kate Bush wiederfindet. Der Wal ist ein Geschöpf des tiefen Wassers, geheimnisvoll, immer in Bewegung. Der Wal ist ein „moving stranger“. „Whales say everything about ‚moving‘. It’s huge and beautiful, intelligent, soft inside a tough body. It weighs a ton and yet it’s so light it floats. It’s the whole thing about human communication — ‚moving liquid, yet you are just as water‘ — what the Chinese say about being the cup the water moves in to. The whales are pure movement and pure sound, calling for something, so lonely and sad…“ [4].

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Folgerichtig schwebt Kate Bush bei der „Tour of Life“ zu diesem Song dahin in einem meerblauen (Thomson spricht von meergrün) Trikot, wie im Traum, als schwimme sie in der Tiefe, gefangen in einem Walzer unter Wasser [2]. Auch die Verbindung zwischen Wal und Tanz ist für Kate Bush offensichtlich. „On the ground they’re ppff (splodging sound), but in the water they’re ‚wahooo!‘ Which is the way with a lot of dancers“ [4]. Eine Identifizierung des „moving stranger“ mit einem anonymen Liebhaber (durchaus denkbar) scheint also nicht gemeint zu sein. Kate sieht den Wal als Verkörperung des Meeres, als durch den Tanz befreites Wesen. Der Wal hat aber weitere Bedeutungen. Im Christentum verbirgt sich hinter ihm der Teufel als Ungeheuer der Tiefe des Wassers. Seine Kieferbacken markierten die Tore zur Hölle [9]. „Der Bauch des Wals als Ungeheuer des Wassers gleicht dem Ort des Todes, dem verschlingenden Grab der Dunkelheit des Unbewussten, dem Bereich der Nacht“ [9]. „Bei solchen mythischen „Nachtmeerfahrten“ besteht aber Gefahr, dass unser in unbekannten seelischen Raum vorstoßendes Bewusstsein von den archaischen Mächten des Unterbewussten überrannt wird“ [9]. Der Wal ist Symbol für den Ort des Ursprungs, der Rückholung und Wiedergeburt, er steht für die „dunkle Nacht der Seele“ [9]. Der Wal ist also etwas Unheimliches, er steht für das Ungewisse, die andere Seite, das lockende Geheimnis, die Verführung. Vielleicht muss man das für Kate Bush so typische Motiv des Wassers ähnlich sehen – es geht um Nachtmeerfahrten auf die andere Seite. Ich weise auf „The Fog“, „Nocturn“ und „A Coral Room“ als Beispiele hin.
Es erscheint folgerichtig, wenn als Gegensatz auch ein Symbol für die verführte, angelockte, unschuldige Seele im Song auftaucht: „You crush the lily in my soul“. Die Lilie hat in der Symbolik als Grundbedeutungen die Reinheit des Herzens, die Unbeflecktheit, die Jungfräulichkeit [10]. Sie verweist auf die keusche Unberührtheit der Gottesmutter [10]. Im Song wird diese Unschuld gebrochen, der Tanz (die Verlockung des Wals) hat neue Welten eröffnet, Welten, die dunkler, geheimnisvoller sind. Dieser Prozess ist auch schmerzhaft, das deutet klar das Wort „crush“ an. Die musikalische Gestaltung spiegelt diese ganzen Aspekte wieder. Der Song ist in einem reinen 4/4-Takt gehalten, keine Abweichung stört den traumverlorenen Tanz [6]. Notiert ist „Moving“ in d-Moll, ab und zu gibt es Aufhellungen nach Dur – z.B. zu „As long you‘re not afraid to feel“, „Try to fall for me“ und zum letzten „Soul“ in „You crush the lily in my soul“ [6]. Es scheint A-Dur zu sein. Nach Beckh [7] steht d-Moll für das Starre, Erstorbene der Natur. Etwas mit Grab und Tod, mit dem Starren und Steinernen der Gruft hat diese Tonart zu tun. Sie scheint von einer Welt finsteren Werdens und Gestaltens zu sprechen, die vom Sonnenhaften des Lebendigen noch nicht durchleuchtbar ist [7]. Interessanterweise steht die berühmte Rachearie der Königin der Nacht ebenfalls in d-Moll (verwandte Koloraturen finden sich ja im Song). Kurt Pahlen weist bei dieser Arie darauf hin, das d-Moll eine Tonart ist, in der auffallend oft seelische Bewegung ausgedrückt wird [8]. Seelische Bewegung ist genau das Kernthema von „Moving“. A-Dur steht gemäß Beckh für Lichteshöhen, es steht für die durch irgendein Erlebnis, irgendeine Begegnung ausgelöste höchste verklärte Seelenstimmung [7].
Die Kombination dieser beiden Tonarten gibt die Grundstimmung von „Moving“ sehr gut wieder, auch die Tonarten stehen für den Ausbruch aus einer starren Welt in eine Welt des Lebendigen, sie stehen für eine Befreiung. Ganz folgerichtig musste für mich dieser Song das Album eröffnen. Er setzt das Thema für das Album, ist das Eingangstor in die Welt von Kate Bush. Er thematisiert die Verführung durch das Unheimliche und Unbekannte, den Verlust der „Unschuld“ durch das Veröffentlichen des Albums und durch das Tanzen bei Lindsay Kemp. Schon der Titel „Moving“ drückt es aus – Bewegung, von einem Punkt zum anderen. Eine in ihrer alten Welt gefangene Kate Bush bricht aus und tanzt in die Zukunft. So sehe ich diesen Song, ein helles Licht der Verheißung leuchtet auf aus der Dunkelheit. Kate Bush lockt uns in ihre Welt und nimmt uns mit auf ihre Nachtmeerfahrt. © Achim/aHAJ

[1] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Moving_(Kate_Bush_song) (gelesen 16.07.2019)
[2] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.107, 111, 116 und 169
[3] Ron Moy: Kate Bush and Hounds of Love. Aldershot. Ashgate Publishing Limited. 2007. S.13f
[4] Phil Sutcliffe: „Labushka“. Sounds 30.08.1980
[5] Paul Kerton: Kate Bush. Bergisch-Gladbach. Gustav Lübbe Verlag GmbH. 1981. S.42
[6] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.122f
[7] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.155ff (d-Moll) und S.136f (A-Dur)
[8] Kurt Pahlen: Wolfgang Amadeus Mozart – Die Zauberflöte. Mainz 2011. Schott Music GmbH & Co KG. S.108
[9] Clemens Zerling, Wolfgang Bauer: Lexikon der Tiersymbolik. München 2003. Kösel-Verlag. S.314f
[10] Clemens Zerling: Lexikon der Pflanzensymbolik. Baden und München 2007. AT-Verlag. S.155f
[11] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Roger_Payne (gelesen 20.08.2019)

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Mrs. Bartolozzi

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Mehrfach lassen sich deutliche Parallelen zwischen Kate Bushs Klavierliedern und den romantischen Liedern von Franz Schubert ziehen. Um diese Ähnlichkeit zu veranschaulichen soll nun exemplarisch Kate Bushs Klavierlied „Mrs.Bartolozzi“ mit Franz Schuberts „Gretchen am Spinnrad“ Op. 2 verglichen und in Beziehung gesetzt werden.
Schuberts besondere Fähigkeit als Liederkomponist machte sich laut einer Aussage des romantischen Komponisten und Klaviervirtuosen Franz Liszt mitunter darin bemerkbar, dass er die Fähigkeit besitze, „Gefühle in begrenzte, aber scharf ausgeprägte Konturen“ zu fassen und „lyrische Inspirationen im höchsten Grade zu dramatisieren“. Auffällig ist hierbei, dass auch die Besonderheit von Kate Bushs Schaffen, von ihren Kollegen und Zeitgenossen auf eine ganz ähnliche Weise beschrieben wird. Die Journalistin Lisa Ortgies beschreibt im Rahmen einer Dokumentation des Senders ARTE Kate Bushs musikalische Inszenierung lyrischer Inspiration wie folgt: „Kate Bush has covered the story as if she was the spirit of the Bronte-sisters“. Auch die Autorin Celeste Fraser Delgado äußert sich zur Behandlung der menschlichen Gefühlswelt in Bushs Arbeiten:
„I think she is very different from american popstars because, most of them always sing the same kind of love song. What makes Kate Bush different is that she explores the complicated and contradictory feelings people have in the experience of love“.
Während Schuberts „Gretchen am Spinnrad“ einem Text von Johann Wolfgang von Goethe zu Grunde liegt, stammt der Liedtext zu Mrs. Bartolozzi von Kate Bush selbst. Doch scheint ein Vergleich der beiden Lieder auch insofern sinnvoll, da Bush sich immer wieder bei Goethes Faust bedient, wenn es darum geht, dass Menschen bei dem Versuch alles rational erfassen und ergründen zu wollen, scheitern. Zuerst sollte man sich die wichtigsten Merkmale der Klavierlieder Schuberts vor Augen führen, um deren Verwendung und Transformation in Kate Bushs Liedern besser zu verstehen.
Generell ist festzuhalten, dass die Melodik in Schuberts Liedern vor allem von kleinen Intervallschritten geprägt ist und eher selten größere Sprünge aufweist. Seine Lieder sind sehr kantabel und beinhalten meist ausgedehnte rezitativische Passagen. So bekommt die Verwendung von Sprüngen und ariosen Partien meist auch eine wichtige Bedeutung auf inhaltlicher und interpretatorischer Ebene. Gleichzeitig implizieren seine Lieder einen sehr opernhaften Gestus, der durch die Emanzipation der Klavierbegleitung verstärkt wird. Dies gilt auch für Bushs Kompositionsstil. Hiermit wurde bereits ein weiteres Merkmal des schubert’schen Klavierliedes genannt. Der Klaviersatz dient nun nicht mehr ausschließlich der Harmonisierung einer Gesangsmelodie, sondern wird zum eigenständigen Partner der Gesangsstimme.
Oftmals dient der Klaviersatz als formgebendes Element auf rhythmischer Ebene, zeichnet Bewegungsabläufe ab oder bildet gar eine Nebenstimme zum Gesang. So kann auch die Nähe zwischen Sänger und Klavier als interpretatorisches Mittel genutzt werden. Was Franz Schuberts wie auch Kate Bushs Klavierlieder auszeichnet ist, dass sich beide bereits wohl bekannter Formern und Mittel bedienen, sie jedoch in ungewohnter, neuer Weise zum Einsatz bringen und diese in einen neuen Kontext stellen.
Ein weiterer typischer Charakter für das romantische Klavierlied ist seine von Terzabständen geprägte Harmonik. Der starke Wechsel zwischen Moll und Dur und der damit verbundene Wechsel der Stimmungen. Auch frühe Modulationen, die besondere Verwendung der Subdominante, der Verzicht auf harmonische Logik, Plagalschlüsse anstelle authentischer Kadenzen, auffällige Tonrepetitionen, Tonartendeutung und die Verwendung fester rhythmischer Bewegungsabläufe sind genretypisch.
Während Schuberts Gretchen am Spinnrad in Liebeskummer versunken die Fäden ihres bevorstehenden Schicksals spinnt, findet sich Kate Bushs Mrs. Bartolozzi beim Wäschewaschen mit ihrer neuen Waschmaschine wieder.
Beide Frauen schwelgen in schwermelancholischer Erinnerung an ihre Männer und sind eingebunden in hausfrauliche Tätigkeiten. In beiden Liedern stellt das Fenster als typisch romantisches Symbol die Verbindung zu nicht erreichbaren Welten, Sehnsüchten, Personen dar und zugleich die Situation einer isolierten Wartenden, die in diesem Kontext im Schatten ihres berühmten bzw. erfolgreichen Mannes steht.

„… Nach ihm schau ich zum Fenster hinaus…“ (aus Gretchen am Spinnrad)
„… Out of the corner of my eye I think I see you standing outside…“ (aus Mrs. Bartolozzi).

Um das Bild des romantischen Fensterblickes zu verstärken, fügt Kate Bush in ihrem Booklet direkt neben den zitierten Vers, das Bild eines alten Fensters ein, das dem Betrachter einen diffusen Ausblick in einen sommerlichen Garten ermöglicht. Im Zentrum des Gartens ist eine behangene Wäscheleine zu sehen.
Betrachtet man beide Lieder nun auch auf tonaler Ebenne, so fällt auf, dass beide in der Tonart D-Moll, einer Tonart die der Schilling’schen Encyclopädie nach zur Darstellung „schwermüthiger Weiblichkeit“ dient und „tiefe Trauer“ zum Ausdruck brächte. Es scheint also schlüssig, dass sich Schubert dieser Tonart hinsichtlich seiner Textvorlage bedient und es mag auch kein Zufall sein, dass Bush in ihrer Rezeption der Romantik ebenfalls D-Moll als Tonart vorzieht. Obgleich dies in direkter Anlehnung zu Schuberts romantischem Schlüsselwerk „Gretchen am Spinnrad“ geschehen sein mag, oder ob sie auf Grund ihrer Sensibilität und Faszination für Tonarten instinktiv D-Moll als Haupttonart gewählt hat bleibt offen.
So lässt sich der harmonische und thematische Rahmen durchaus als nahezu deckungsgleich definieren. Während bei Schuberts Gretchen die Unruhe zum Programm wird, liegt bei Kate Bush der Fokus bei der Monotonie. In beiden Fällen wird das Warten und das Trauern zum undurchdringlichen Kreislauf im Klaviersatz um den sich alle Gedanken drehen. Bei Schubert durch schnelle, gleichmäßige, in sich kreisende Sechzehntelfiguren im pianissimo, einer gleichförmigen Begleitstruktur im 6/8 Takt und einem Orgelpunkt in der linken Hand. Bei Bush durch ein gleichbleibendes Muster aus ab- und wieder aufsteigenden Viertel- und Achtelnoten in der rechten Hand, während die linke Hand ebenfalls einen Orgelpunkt bildet und dazu auf der Quinte eine rhythmisch fixe, rezitativische Begleitung aufbaut.
Festzuhalten ist, dass die jeweils rechte Hand der beiden Klaviersätze ein sehr regelmäßiges, typisches Kreisen, der Maschinen skizziert, während die linke Hand den Rhythmus des Fußpedals am Spinnrad oder das Pumpen der Waschmaschine vertont. Gleichzeitig steht jenes Kreisen für ein mentales Kreisen und gefangen sein der Protagonistinnen. Um die Monotonie und Eintönigkeit zu illustrieren, verwenden beide Komponisten über weite Strecken hinweg feste Akkordfolgen als Grundlage ihres maschinenhaften, statischen Klaviersatzes.
Schubert wählt als Akkordfolge (Takt 49-65), ein Muster, das den jeweils neuen Akkord erst über einen bereits voraus greifenden Dominantseptklang erreicht. So gelingt es ihm von E-Dur (Takt 49) bis nach B-Dur zu modulieren um rechtzeitig am Höhepunkt des Textes angelangt, mit sämtlichen logischen, harmonischen Gesetzen zu brechen.
Bei Bush gestaltet sich die harmonische Begleitung ganz ähnlich. Schon Takt eins beginnt mit einem dominantischen Septakkord in Moll, welcher bereits auf Schlag zwei zum Akkord der Haupttonart D-Moll führt. Die Begleitung besteht also aus einem Wanken zwischen der Tonika D-Moll und der Molldominante A-Moll. Die Besonderheit ist hierbei jedoch die linke Hand, die mit ihrem permanenten Orgelpunkt auf dem Ton d.
Eine ständige Spannung zwischen Orgelpunkt und der Terz des A-Moll Dreiklangs, aber auch die Reibung zwischen der Quinte des Tonikaklangs D-Moll und einer hinzugefügten Sexte h, lassen den Eindruck eines krampfhaften Festhaltens an Erinnerungen entstehen.
Eine Spannung die sich nie ganz aufzulösen scheint und wenn, dann nur scheinbar. Möglicherweise findet hier die Vertonung eines „Nicht loslassen wollen“ der verwitweten Mrs. Bartolozzi statt. Die Auflösung in harmonisch klare Gefilde hätte auch dem Reinigungsprozess ihrer zu waschenden Wäsche gleichgesetzt einen aus ihrer Sicht, den Geliebten vermeidlich auslöschenden Akt zur Folge.
Der Höhepunkt in der Melodik findet sich in Takt 100 auf dem Ton Es, der harmonisch von einem C-Moll Akkord mit None harmonisiert wird. Hier befindet sich Bush harmonisch eigentlich auf der Dominantparallele jedoch wieder in einer Mollvariante. Die gewählten Akkorde sind demnach nicht wirklich eindeutig miteinander verwandt, sondern stehen lediglich in Terzverwandtschaft zueinander, was auch als ein typisches Merkmal, die Harmonik der schubert’schen Klavierlieder auszeichnet. Durch den stetigen Wechsel von Moll und Dur und der Verwendung von Terzrückungen entstehen starke Eintrübungen, die einen wichtigen Beitrag zur Stimmung der Lieder leisten.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Klavierlieder von Kate Bush oftmals auf thematischer, harmonischer und vor allem auf der Ebene der Klavierbegleitung einen sehr romantischen Gestus entwickeln. Die Art des Gesangs pendelt dabei immer wieder zwischen klassischer Gesangstechnik und improvisierender Popstimme, was dazu führt, dass die Atmosphäre der Lieder an die opernhaften Züge der romantischen Kunstlieder erinnert. Thomas Schöberl

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My Lagan Love

Ne T’Enfui Pas

Never Be Mine

Melancholisch kommt dieser Song daher, die Stimmung ist gebrochen romantisch. Ich mag diese zu Herzen gehende Stimmung. „Never be mine“ erinnert mich an die Mornas der kapverdischen Musik, die ich sehr liebe. Die Stimmung einer Morna ist melancholisch und nachdenklich, der Text voller Sehnsucht, Heimweh und Verlangen [1] – und genau so ist auch dieser Song von Kate Bush.
Es geht um ein Begehren, das aber besser ein Traum bleiben sollte – das ist die offensichtliche Deutungsvariante. Kate Bush gibt diese Interpretation selbst in verschiedenen Interviews.
„It’s that whole thing of how, in some situations, it’s the dream you want, not the real thing. It was pursuing a conscious realisation that a person is really enjoying the fantasy and aware it won’t become reality. So often you think it’s the end you want, but this is actually looking at the process that will never get you there. Bit of a heart-game you play with yourself.“ [2]
Noch deutlicher und präziser sagte sie es in einem anderen Interview so:
„It’s a desire to have something you can’t have, but in a lot of cases if the dream came true it would be horrible. The dream holds the fascination and power.“  [3]

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Für Graeme Thomson [4] ist dies der „ewige Kampf zwischen Traum und Vorstellung, das Ringen zwischen Verstand und Instinkt, zwischen dem, was wir wissen und dem was wir fühlen.“ Wie so oft bei Kate Bush ist die erste Interpretation wie eine Folie, die über möglichen Untiefen liegt. Mehrere Rezensenten haben eine zweite Variante herausgelesen und herausgehört, die der verlorenen Liebe. Karen Clements  [5] meint „Bush expresses the terrible pain of rejection with haunting vocals and the bittersweet sounds of Uillean pipes“. Und auch Martin Townsend  [6] geht in diese Richtung – offenbar nach doch etwas tieferer Beschäftigung mit dem Song: „It’s first verse – an account of walking home through the burning stubble and seeing her lover’s face ‚ghostly in the smoke‘ – could only be plucked from real life, and brilliantly underlines the sense of a love lost in the very moment that it’s won. The vocal work of the Trio Bulgarka and the mournful tones of Spillane’s Uilleann pipes combine quite beautifully here.“ Ich selbst hatte lange eine dritte Variante im Sinn. Die Stimmung hat mich sehr stark an „The Fog“ erinnert, Es gibt ja auch Gemeinsamkeiten – siehe dazu weiter unten. Ich habe „Never be mine“ jahrelang so „gefühlt“, als ob hier die Protagonistin von einer anderen (ländlich-irischen) Lebensweise fasziniert ist. Sie ist sich aber auch bewusst, dass dies nur als Traum funktioniert. Ich gebe zu – eine etwas abwegige Analyse. Ich stehe nicht mehr dazu ;-).

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Rob Jovanovic bleibt in seiner Biographie [7] wie so oft bei der Interpretation von Songs sehr an der Oberfläche. „Behäbig, bleibt trotz der vielen dort zusammen kommenden Einflüsse aus Irland, Deutschland und Bulgarien wenig überzeugend.“  Meine Meinung ist, dass er den Song nicht versteht. Er sieht noch nicht einmal die Folie, er sieht nur eine musikalische Reflexion und kann sie nicht mit dem Inhalt in Verbindung bringen. Und welchen deutschen Einfluss kann er meinen? Dass der Deutsche Eberhard Weber den Bass zupft?
Eine genauere Analyse lässt sich gut mit einem Durchgang durch das Lied Zeile für Zeile verbinden. Danach wird klarer sein, wie „Never be mine“ zu verstehen ist. „I look at you and see […]“ – der Beginn ist ruhig. Klavier, Percussion, ein Streicherakkord, all das verbindet sich zu einer zarten und romantischen Stimmung. Bei „smoke“, „smell“, „Will now mean you and here“ kommen irische Flöten dazu. Wie in „The Fog“ erinnern sie an Heimat, es ist ein geerdeter Klang, tief im Volksmusikalischen verwurzelt. Vielleicht hatte ich genau aus diesem Empfinden heraus jahrelang die dritte Interpretation im Kopf. Der Text ist voller sprachmächtiger Bilder und fast schon Lyrik. Zum mit „This is where I want to be […]“ beginnenden Abschnitt erklingt im Hintergrund das Trio Bulgarka. Sie singen einen fremdartigen, langen Akkord, der sich zuerst überhaupt nicht nach Stimmen anhört. Es ist eine Tonfarbe, ein Einsatz von Stimmen als Instrument. In der Schlusszeile des Abschnitts „But I know that this will never be mine“ setzt das Trio auf „mine“ dann abrupt aus. „Mine“ – die Welt der Protagonistin – hat nichts zu tun mit der Welt, die durch das Trio illustriert wird. Mit „Ooh, the thrill and the hurting […]“ beginnt eine wieder anders gestaltete Musik. Basstöne bestimmen den Rhythmus. Für mich symbolisieren sie das Herzklopfen des „thrill and the hurting“. Die Beziehung zwischen den beiden Personen bietet also Herzklopf-Potenzial – aber es ist nur eine Vorstellung, ein Wunschtraum, eine Imagination, keine Realität („I know that this will never be mine“). Die nächste Strophe sagt ganz klar, dass die im Song angesprochene Person die Protagonistin nicht wirklich braucht. Dieser Wunschtraum ist einseitig. „That clumsy goodbye-kiss could fool me, / But I’m looking back over my shoulder / At you, happy without me.“  Begehren ist da, aber ohne Erwiderung. Verlorene Liebe? Durchaus möglich, nicht naheliegend. Aber die Protagonistin ist Realistin („At you, happy without me.“). Im Schluss ab „Ooh, the thrill and the hurting“ kommen alle diese Einflüsse zusammen in einer Coda, die zum Ausklang fast ein bisschen verspielt wird. Der Tagtraum ist kein Albtraum. Ab „It will never be mine“ drängt sich das Trio Bulgarka immer mehr in den Vordergrund, jetzt mit fast verständlichen Passagen. Der Herzklopfen-Bass schließt sich an. Die Stimmung wird hypnotisch und versetzt den Zuhörer beinahe in Trance. Der Schluss endet einfach so auf einer Note – ein Schlusspunkt ist gesetzt, der Realismus hat sich durchgesetzt. Das ist keine Überraschung – der Titel sagt es ganz unmissverständlich: „Never be mine“. Interessant sind die eindeutigen Rollen, die musikalischen Elementen zugeordnet werden. Die irischen Flöten sind verbunden mit der Erwähnung der anderen Person, mit Verwurzelung in der Heimat. Das Trio Bulgarka ist  verbunden mit dem, was man sich ersehnt, dem Traum. Der Bass steht für das Herzklopfen, die emotionale Bewegung. Dabei spiegeln sich diese Elemente durchaus ineinander, wie Kate Bush erläutert. „On Never Be Mine all the Irish stuff was done, and then the girls came in. Two separate entities put together, but similar energies. And sometimes you can hear little Irish riffs and flavours in the Bulgarian music and vice-versa“ [2]. All das illustriert aufs Schönste die Macht des Traums. Das Lied ist „hopelessly romantic in its self-realization that the dream of love is often more powerful than the reality.“ [8]

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Die Tonart ist ein c-Moll [9]. C-Moll hat einen starken, positiven, kämpferischen Charakter. Es ist diejenige Tonart, die am festesten auf dem Boden, am stärksten auf der Erde steht, ein Zeichen eigener Kraft und Stärke – aber auch manchmal ein Symbol für die Tragik des Irdischen [10]. Es ist die passende Tonart für den Realismus, der schließlich auch in diesem Traum siegt. Bezeichnend ist, wie c-Moll in anderen Songs von Kate Bush eingesetzt wird. In „The Fog“ steht c-Moll für das Grundvertrauen (in den Vater), in „Lily“ für den Rat der Heilerin, in „Running up that hill“ wird in dieser Tonart ein Wunsch an Gott gerichtet. Bei Kate Bush ist c-Moll die Klangwelt der Ratgeber, der Wissenden, der „guten Mächte“. Es ist die Sicherheit und der Schutz, der feste Grund unter den Füßen. In der Musik und im Gesang fehlt jeder Hauch von Verzweiflung, der ja bei der Verlorene-Liebe-Interpretation mindestens ansatzweise vorhanden sein müsste. Dies alles zusammen ist für mich Beleg genug dafür, dass die erste Interpretationsvariante die schlüssigste Variante ist und dass Kate Bush in ihren Aussagen zum Song wenig verschwiegen hat. Ein weiteres Interview [11] zeigt auf, dass der Weg zum erzielten Ergebnis aber etwas komplizierter war. Offenbar war es nicht leicht, die ganzen Aspekte auf Anhieb zu integrieren, der Song entfaltete sich Stück für Stück auf dem Weg. An den Details wurde wieder und wieder gefeilt. „I wanted a sort of eastern sounding rhythm. I wrote it first on the piano, though the words were completely different, except for the choruses. I did it on the piano to a Fairlight rhythm that Del programmed [,,,]. We got Eberhard (Weber) over to play bass and he played on the whole song. When we were trying to piece it together later we kept saying it just doesn’t feel right, so we just took the bass out and had it in these two sections. You hardly notice it going out at all. I think the song has a very light feel about it, which helps the whole imagery. The Uilean pipes have a very light feel, and the piano is light .. I think it’s a nice contrast when the bass suddenly come in. […] The piano on this is an upright Bernstein that has a really nice sound – I think it has to do with proportions for us. We did have a big piano and it’s a small room, and it didn’t record well. The small piano sounds much bigger.“ Auch bei diesem Song zieht Graeme Thomson [4] ein treffendes Fazit. „Kate Bush ist hier etwas Fantastisches gelungen. Sie zeigt, wie uns das, was wir fühlen, gleichzeitig gefangen hält und befreit, so sehr wir uns vielleicht dagegen wehren mögen. Und wie anschaulich macht sie deutlich, dass unsere Sinne Assoziationen beflügeln und so darüber entscheiden, wie wir uns erinnern: ‚the smell of burning fields will now mean you and here!‘.“  Um die Assoziation vom Beginn wieder aufzugreifen: auch das spiegelt die Stimmung einer kapverdischen Morna wieder. „Never be mine“ ist textlich und musikalisch ein Wehmutsgesang.  (© Achim/aHAJ)  
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Musik_der_Kapverdischen_Inseln (gelesen 21.04.2017)
[2] Len Brown: In the Realm of the Senses. New Musical Express, 7. Oktober 1989
[3] N.N.: Love, Trust and Hitler. Tracks, November 1989
[4] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. , S.303
[5] Karen E. Clements : Tales of Love. Cornell Daily Sun, 27. Oktober 1989
[6] Martin Townsend: Kate Bush: The Sensual World EMI EMD 1010.  New Hi-Fi Sound, November 1989.
[7] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.174
[8] Brad Bradberry : Kate Bush – The Sensual World. Option, Jan/Feb 1990.
[9] Kate Bush: Songbook „The Sensual World“. EMI Music Publishing Ltd.. London 1990. S.45-47
[10] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.123-126
[11] Tony Horkins: What Katie Did Next.  International Musician, Dezember 1989
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Night Of The Swallow

„Night of the Swallow“ ist eines der eher ruhigen, auf den ersten Blick weniger experimentellen Stücke auf dem Album „The Dreaming“. Allerdings besitzt es Besonderheiten, die es zu einem sehr wegweisenden Song gemacht haben, deren Bedeutung und Einfluss über das Bush-Universum hinausgehen. Graeme Thomson fasst das so zusammen [1]: „[Der Song] steckt voller dunkler Vorahnungen, Licht und Schatten bilden ein geschlossenes Ganzes und barocke Balladenkunst geht mit traditionellen keltischen Instrumenten eine bestechend schöne Verbindung ein.“ Diese damals neue und überraschende Einbeziehung von traditionellen Instrumenten und Stilformen wurde von Kate Bush auch auf späteren Alben aufgegriffen. Sie war damit eine Wegbereiterin für andere Künstler, die dieses neue Stilmittel aufgriffen. Der Song folgt auf dem Album auf „The Dreaming“, es ist ein bruchloser Übergang. Hier vermischen sich zu Beginn Didgeridooklänge mit irischen Klängen, Australien weicht Irland, beide Songs besinnen sich auf die Tradition. „Night of the Swallow“ kann am ehesten als Ballade bezeichnet werden. In der Stimmung erinnert es mich immer an „Oh England my Lionheart“ vom Album „Lionheart“. Auch dort schimmert die Tradition durch die Pop-Folie.

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Das Klammern in einer Beziehung, die zu große Enge, die Suche nach einer Befreiung (sei sie noch so riskant) – dies ist für Kate Bush das eigentliche Thema [3]: „Yes, unfortunately a lot of men do begin to feel very trapped in their relationships and I think, in some situations, it is because the female is so scared, perhaps of her insecurity, that she needs to hang onto him completely. In this song she wants to control him and because he wants to do something that she doesn’t want him to she feels that he is going away. […] Of course, from the guys point of view, because she doesn’t want him to go, the urge to go is even stronger. For him, it’s not so much a job as a challenge; a chance to do something risky and exciting.“ Offenbar hat Kate Bush über diese Thematik intensiv nachgedacht [3]: „It’s almost on a parallel with the mother and son relationship where there is the same female feeling of not wanting the young child to move away from the nest.“ Es handelt sich natürlich um eine ausgedachte Situation, aber nach Kate Bush nicht ohne Beziehung zur Realität [3]: „But although that woman’s very much a stereotype I think she still exists today.“ Im Song ist das feinfühlig umgesetzt. Der Gesang der Frau ist zu Beginn fast ein verzweifeltes Schreien bzw. Rufen, hochemotional. Es wird dann weicher, und zärtlicher, manchmal fast flehend. Der Song ist hier ist ruhig und balladenhaft. Den Mann kennzeichnet im Refrain eine ganz andere Stimmfärbung, der Gesang ist ruhig, beschwichtigend, leise Trommeln im Hintergrund. Im Chorus wird es dann ausgelassen, tänzerisch, voranstürmend, beschwingt-euphorisch, sehr irisch. Der Chorus steigert sich zum Schluss fast hymnisch beschwingt. Der Drang nach Freiheit bricht sich Bahn. Der Mann vergleicht sich dabei mit einer Schwalbe und hier zeigt sich das tiefe Eindringen von Kate Bush in eine Thematik. Dieser Vogel ist das Symbol für das sehnsüchtig erwartete neue Leben, für Wachstum und Fruchtbarkeit mit der Hoffnung auf vorteilhafte Veränderungen [4]. Sie ist das Sinnbild für Auferstehung, Licht, Erneuerung in Reinheit. Sie ist schnell, lebhaft, kühn bei Gefahr und voller Finten in den Flugkünsten. Dies trifft sehr genau zu auf den Charakter und die Sehnsüchte des Mannes. Neben dieser positiven Symbolik gibt es aber auch eine negative Seite [4]: die Schwalbe kann auch für Täuschung und Selbstbetrug stehen. Dies drückt sogar ein Sprichwort aus – eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Hier spiegeln sich die Befürchtungen der Frau wieder.

Auch musikalisch ist der Song sehr interessant [5]. Er steht im einem durchgängigen 4/4-Takt, es gibt ganz kleine Einsprengsel anderer Taktarten (3/4 und 5/4). Notiert ist der Song in h-Moll. Sehr häufig kommt aber auch der H-Dur-Akkord vor, der nicht zum harmonischen System gehört, es mischen sich  h-Moll und H-Dur. Aus h-Moll kommen die Akkorde h-Moll, G-Dur, A-Dur und fis-Moll vor, aus H-Dur die Akkorde H-Dur und E-Dur. Ebenso gibt es den cis-Moll-Akkord, der zu beiden harmonischen Systemen gehört. Der Song beginnt und endet mit H-Dur. Chromatisch aufsteigende Akkordketten (E-Dur, F-Dur/Cis-Dur, fis-Moll) verbinden die beiden Welten. Dies geschieht auf „I won‘t let you do it – das steht im 3/4-Takt – und auf „I won‘t let you go through with ist – das steht im 5/4-Takt. Reines H-Dur herrscht von „Meet them over at Dover“ bis „the Water“ bzw. „to malta“. Im Booklet ist das als „Refrain“ gekennzeichnet. Von „With a hired plane“ bis „before the morning“ gibt es dann reines h-Moll, ebenso weiter von „Give me a break“ bis „like a swallow“. Im Booklet ist das als „Chorus“ gekennzeichnet. Die Welt des Mannes ist damit in klar getrennte harmonische Bereiche getrennt, ein h-Moll-Bereich folgt auf einen H-Dur-Bereich. In der Welt der Frau sind H-Dur und h-Moll vermischt. Der Grundton beider Tonarten ist gleich, es schwankt zwischen Dur und Moll – zwei Seiten einer Medaille. Die beiden Tonarten passen in ihrer Bedeutung (gemäß [6]) sehr gut zur Thematik des Songs. H-Dur ist nicht mehr ganz im Irdischen, es ist die Vorahnung des Herübergehens, das Licht vor Sonnenuntergang, die Verklärung, steht für etwas Überirdisches. Es ist auch die Tonart der höchsten Liebe (in „Tristan und Isolde“ endet so z.B. der „Liebestod“). Es ist die Tonart der letzten Verklärung. H-Moll steht dagegen für Empordrängen, für ein Emporstürmen mit Abgrundgefahr. Die Tonarten sagen klar, dass der Frau und der Mann bei allen Unterschieden in den Charakteren in tiefer Liebe miteinander verbunden sind (H-Dur). Diese Beziehung wird aber „angegriffen“ durch das h-Moll, das für Freiheit, Herausforderung und die Suche nach Gefahr steht – nicht ohne Grund geht der Gesang des Mannes von H-Dur in h-Moll über.

„Night of the Swallow“ ist Kate Bushs erster Song mit einem starken irischen „Akzent“. Es ist der irische Dudelsack zu hören, die Uilleann Pipes. Das Lied war das erste von zwei (das andere war „Sat in Your Lap“), das für das Album aufgenommen wurde [7]. Es wurde hauptsächlich im Frühling 1981 in den Abbey Road Studios in mehreren Sessions an dem Song gearbeitet. Die irische Musikergruppe kam in Irland zusammen, wo Bush über Nacht mit ihnen zusammenarbeitete. Nachdem sie die Aufnahme um sieben Uhr morgens beendet hatte, flog sie zurück nach London, um das Lied zu mischen. Aufgenommen wurde der Song mit Stuart Elliott, Del Palmer und den irischen Musikern Bill Whelan, Liam O’Flynn und Dónal Lunny der Gruppe Planxty und Seán Keane von The Chieftains. Kate Bush hatte lange auf eine Gelegenheit gewartet, diesen irischen Touch einzusetzen [8]: „I’ve wanted to work with Irish music for years, but my writing has never really given me the opportunity of doing so until now. As soon as the song was written, I felt that a ceilidh band would be perfect for the choruses.“ In ihren Anfangsjahren war Kate Bush freigiebiger mit Informationen über ihre Arbeit, sie sprach bereits im Juli 1981 über das Lied [9]: „She has more or less completed five tracks, one of which involves the Irish folk band, ‪Planxty. She asked the group if they would be interested in working with her, they said yes, she flew to Dublin, found she had a ’strong feeling for Ireland‘ (mum has Irish blood), and together they came up with ‚Night of the Swallow‘.“

Die Zusammenarbeit mit den irischen Musikern hat Kate Bush sehr zugesagt [9]: „They’re fantastic musicians with open, receptive minds, which is unusual for people who work with traditional folk music.“ Vielleicht hat dies dazu geführt, dass sie auch später ungewöhnliche Kooperationen (Trio Bulgarka!) nicht gescheut hat. „Night of the Swallow“ ist ein komplexer Song, der sich anmutig durch viele wechselnde Stimmungen schlängelt. Er kombiniert perfekt ganz unterschiedliche Dinge – Schönheit, Schmerz, Enthusiasmus und auch eine gewisse Unheimlichkeit. Diese Stimmungswechsel werden verstärkt durch die Verwendung von bewegend-schwungvoller irischer Musik, die als Kontrast zur rauen Seite der Geschichte benutzt werden. Er ist durch diese Verwendung der irischen Musik wegweisend gewesen. Für mich besonders schön ist, dass diese Neuheit nicht herausgestellt wird, sondern wie ganz selbstverständlich und organisch integriert daherkommt. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.242
[2] Kris Needs: „Dream Time in the Bush“. ZigZag 1982
[3] Paul Simper: „Dreamtime is over“. Melody Maker. 16.10.1982
[4] Clemens Zerling, Wolfgang Bauer: Lexikon der Tiersymbole. Kösel Verlag. München 2003. S.273ff
[5] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987.  S.127ff
[6] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S.171ff (H-Dur) und S.181ff (h-Moll)
[7] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Night_of_the_Swallow (gelesen 18.10.2018)
[8] Kate Bush: „About the dreaming“. KBC Issue 12. Oktober 1982
[9] Ian Birch: „What I did on my holidays“. Smash Hits. 23.07.1981

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Night Scented Stock

„Night Scented Stock“ vom Album „Never For Ever“ (1980) ist wohl eine der Kompositionen von Kate Bush, die mit am wenigsten beachtet wird. Das liegt an der unglaublichen Kürze von 52 Sekunden und daran, dass die Komposition ohne Text auskommt. Ein kürzeres Stück hat Kate Bush bisher nicht geschrieben, selbst „Aerial Tal“ ist länger. So ein „Interludium“ kann nicht viel Inhalt, nicht viel Bedeutung haben, das ist vielleicht die Einschätzung, die man beim Zuhören gewinnt. Aber das täuscht, wie ich darlegen werde.
Es erfordert als Popmusikerin schon viel Mut, richtig lange Stücke zu schreiben, so wie es Kate Bush auf „50 Words For Snow“ gemacht hat. Aber lange Stücke gestatten es, eine Geschichte und die Musik dazu behutsam zu entfalten. Sie sind wie Blumen, die langsam aufblühen und die ihre Schönheit zeigen. Bei einem kurzen Stück ist die Herausforderung viel größer. Hier muss Bedeutung ganz konzentriert auf kleinsten Raum untergebracht werden. Das ist sehr schwierig, deshalb sind solche Stücke meist wirklich nur Überleitungen. Hier nicht. Je mehr ich „hineinschaute“, desto mehr wurde ich überrascht. Der ungewöhnliche Titel erweckt natürlich zuerst Aufmerksamkeit. „Night-scented stock“, das ist der englische Name für eine Pflanze, der botanische Name ist Matthiola longipetala [1]. Im Deutschen ist der Name Abendlevkoje, es ist eine eher unscheinbare Pflanze, deren Blüten nachts stark duften.
„Ein intensiver Duft entströmt den violetten Blüten. Diese duften vor allem abends, tagsüber auch, wenn der Himmel mit Wolken bedeckt ist. Der betörende Duft ist eine köstliche Mischung aus Vanille, Veilchen und Nelken. In die Nähe von Sitzplätzen pflanzen, die man Abends benutzt, für süß duftende, luxuriöse, laue Sommernächte!“ [7] Auf eine tiefere Bedeutung werde ich noch zurückkommen, aber dieser Titel passt schon mal gut zur Musik des Stücks. „Night Scented Stock“ ist rein instrumental, er besteht ausschließlich aus einem Geflecht von Gesangsstimmen, alle von Kate Bush gesungen. Es sind wunderschön gehauchte „aaahs“ und „oohs“, ein weiterer Text kommt nicht vor. Es ist Musik wie ein betörender Duft. Das Stück ist eindeutig ein Ausprobieren, ein Ausloten und Ausweiten der musikalischen Palette, wie Kate Bush sagt. „This album taught me that I should be a little more brave about that because music without words is just as beautiful and sometimes I feel the need to just keep putting words on music instead of just letting the music be. I hope in the future that perhaps I will move into that area a little more.“ [6]

Die Inspiration kam dabei aus der klassischen Musik, wie Kate Bush auf eine entsprechende Frage erläutert. „That’s probably why I’m fond of it because it’s a new area. And I love music without words when it works because it suddenly becomes so much freer, it’s like landscapes moving around you and I’ve always wanted to work in a musical area sometimes rather than always putting lyrics to my songs.“ [4] „Night Scented Stock“ verbindet auf dem Album zwei der zentralen Songs miteinander, „The Infant Kiss“ und „Army Dreamers“. Das Stück geht übergangslos in diese beiden Songs über. Diese beiden Songs sind in der Stimmung ganz unterschiedlich, mysteriös und geheimnisvoll der eine, ironisch und traurig-böse der andere. „Night Scented Stock“ setzt dem eine Stimmung der Nacht gegenüber, es ist eine Stimmung wie aus einem Traum. Das funktioniert gut, das passt auch ohne mehr Bedeutung. Ohne eine solche Überleitung wäre der Kontrast zwischen den beiden angrenzenden Songs extrem gewesen.
Stimmungsmäßig hätte es auch gut zwischen „The Wedding List“ und „Violin“ gepasst, auch hier hätte es den Kontrast der Stimmungen elegant abgemildert. Das zeigt seine musikalischen Qualitäten als Übergangsstück. Aber es ist mehr als eine Brücke. Es kann meiner Meinung nach nur zwischen „The Infant Kiss“ und „Army Dreamers“ stehen, weil es diese beiden Songs durch eine gemeinsame Geschichte verbindet. Drei Lieder werden zu einer Einheit verbunden, eine Geschichte wird erzählt. Leider hat sich Kate Bush nie zu den Absichten dieses Songs geäußert, ich kann nur selbst eine Deutung versuchen. Zwei Lieder werden miteinander verbunden, in denen es um die Beziehung einer Frau zu einem Kind/Sohn geht. Das Kind wächst zwischen den Songs. „The Infant Kiss“  handelt von einem Jungen, dessen erwachende Sexualität die verklemmte Protagonistin irritiert. In „Army Dreamers“ geht es um den im Krieg gefallenen Sohn und um das, was er hätte werden können, wenn es anders gelaufen wäre. Beide Songs sind aus der Sicht der Frau geschildert. Ein ganzes Leben zieht in diesen 52 Sekunden des Interludiums an uns vorbei. Es ist nur Gesang, nur gehauchtes Entzücken.
„The infant kiss“ endet nicht, es gibt einen direkten Übergang in „Night scented Stock“. Eine Gegenwelt tut sich dort auf. Ist dies die sexualisierte Gegenwelt, die die prüde viktorianische Protagonistin verdrängt hat und der sie sich nun wortlos öffnet? Zeigt das, was aus ihr wird im Laufe des Lebens? Der Tonfall von „Night Scented Stock“ wird zum Schluß hin immer erwartungsvoller, es tritt dieser „jetzt passiert etwas“-Moment in der Musik ein und genau dann beginnt mit den Klängen des Ladens von Gewehren „Army Dreamers“. Die Protagonistin erwacht in der bitteren Realität. Wie immer bei Kate Bush tragen die gewählten Tonarten subtil zur Wirkung bei. „The Infant Kiss“ steht in Fis-Dur mit Einmischung von fis-Moll [3]. Fis-Dur – das ist die „im Tod, im Hinübergehen Erlösende und Errettende, die Hinüberführende, Venus Urania (himmlisch erlösende Liebe).“ [2]. Aber da ist auch noch die andere Seite – das fis-Moll. Das ist die „Tonart des Abgrunds“ [2]. „Army Dreamers“ schwankt ständig zwischen h-Moll und der parallelen Dur-Tonart D-Dur hin und her [3]. D-Dur ist „die Tonart des siegenden Helden, das Erreichen des höchsten Ziels, der siegreichen Überwindung, die eigentliche Siegertonart“ [2]. Das siegreiche, verheißungsvolle D-Dur aber wird in sein düsteres, trauriges Gegenstück h-Moll verwandelt.

Die Verbindung „Night Scented Stock“ steht zu beiden Welten passend in H-Dur. Es beginnt mit H-Dur, in der Mitte weicht es in die Paralleltonart as-Moll aus, um dann wieder in H-Dur zu enden [3]. Der H-Dur-Akkord ist die Subdominante von Fis-Dur, das ist die Tonart von „The Infant Kiss“, beide Tonarten passen gut zueinander. In „Army Dreamers“ wendet sich das H-Dur zu einem düsteren h-Moll, das ist ein subtiles Kippen der Stimmung, eine Art Ernüchterung. H-Dur und as-Moll werden selten verwendet, es sind Tonarten für ganz besondere Momente. H-Dur liegt „nicht mehr ganz im Irdischen, enthält einen verklärten Nachglanz dieses Irdischen und damit zugleich die Vorahnung des Hinübergehens.“ [2]. As-Moll ist die „Tonart vom Scheiden des Tageslichts, vom Lebenslicht“ [2]. Die Tonarten sagen, was der Protagonistin passiert: auf Verklärung und himmlische Liebe folgt das Aufwachen, die düstere Realität.
Die Verbindung der drei Stücke wird auch durch die Symbolik gestützt. Es stellt sich ja die Frage, warum das Verbindungsstück ausgerechnet den Namen dieser Blume trägt. Die Levkoje bedeutet in der Pflanzensymbolik „friedvoll unbeschwertes Dasein“ und in der Planzensprache „Ich glaube an eine gemeinsame Zukunft“ [5]. Das ist ja das, was sich eine Mutter für sich und ihren Sohn wünscht. Aber es gibt auch einen Verweis auf die viktorianisch-verklemmte Welt von „The Infant Kiss“. „Wegen ihres außergewöhnlichen Aromas wusste man [die Abendlevkojen] bereits im Altertum in den Gärten zu schätzen. Im 18. Jahrhundert machten sie Karriere durch alle Gesellschaftsschichten hinweg: Beim Debütantinnenball durften Levkojen in keinem Blumenbukett fehlen und die jungen Verehrer versäumten es nicht, sich vor dem Tanz eine der wohlriechenden Blüten ins Knopfloch zu stecken“ [8]. Ich sehe richtig vor mir, wie die Protagonistin aus „The Infant Kiss“ ihre Verklemmung ablegt, den Duft der Abendlevkojen aufnimmt und in ein glückliches Leben aufbricht.
Wenn ich „Night Scented Stock“ höre, dann fühle ich mich in eine warme Nacht versetzt, voller Duft von Blumen. Ich schließe die Augen und träume. Vielleicht tut das auch die unsichtbare Protagonistin dieses Songs. Ich liebe den textlosen Gesang, dieses betörende, geheimnisvolle Gurren, diesen Chor aus Stimmen. Ich sehe dann immer das Cover des Albums vor mir, mit seinen Nachtgestalten. Aber hier wird sich jede und jeder seine eigenen Bilder machen. Auf jeden Fall ist es ein faszinierendes Stück. Es zeigt, in welche Welten damals das Songwriting von Kate Bush aufbrach. Es lässt schon die Welten von „The Ninth Wave“ und „Aerial“ anklingen. Es ist ein Ausblick auf die Zukunft. Es ist ein Zeichen der Freiheit, die sie sich nach den ersten beiden Alben erarbeitet hatte. © Achim/aHAJ

[1] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Matthiola_longipetala (gelesen 23.08.2022)
[2] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.102ff (Fis-Dur), S.138ff (fis-Moll), S.171 (H-Dur), S.179 (as-Moll) und S.180 (D-Dur)
[3] „Kate Bush Complete“. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.61f (Army Dreamers), S.101 (The Infant Kiss), S.130 (Night Scented Stock)
[4] „Never For Ever Debut“, Interview mit Peter Powell, Radio 1, 11.10.1980
[5] Clemens Zerling: Lexikon der Pflanzensymbolik. AT Verlag. Baden und München 2007. S.155
[6] NfE Interview – EMI (London). 1980
[7] https://deaflora.de/Shop/Essbare-Blueten/Abend-Levkoje.html?language=de (gelesen 26.08.2022) [8] https://www.mein-schoener-garten.de/pflanzen/levkoje/levkojen (gelesen 26.08.2022)

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Nocturn

Diesem Song nähere ich mich mit einer gewissen Scheu. Ich mag ihn sehr, aber er ist für mich ein großes Geheimnis, ein Mysterium. Es fällt mir schwer, in ihn hineinzugehen und ihn zu analysieren. Für mich ist er einer der schönsten und bewegendsten Songs von Kate Bush. Wenn ich ihn höre, dann will ich einfach nur eintauchen und nicht über ihn nachdenken.
„Nocturn“ ist der hypnotische Höhepunkt der Suite „A Sky Of Honey“, die das Doppelalbum „Aerial“ beschließt. Oft wird darauf hingewiesen, dass diese Suite ein Analogon zur „The Ninth Wave“-Suite des Albums „Hounds of Love“ ist. Dort ist das ebenso hypnotische „Hello Earth“ das vorletzte Stück und führt zu einer Art Erlösung, genauso verhält es sich mit „Nocturn“. Der Song ist der große Ruhepol, das Abtauchen in eine mystische Tiefendimension. Wie „Hello Earth“ führt er zum letzten Lied der Suite, zurück in die Realität oder in eine andere Wirklichkeit. Der Name des Songs sagt es schon: „Nocturn“ ist ein großes Nachtlied, ein Mondscheinlied der Sehnsucht. Es ist ein cis-Moll-Nocturne, wie es auch schon Chopin geschaffen hat. In der Schlusssteigerung wandelt es sich in reinen Jubel, in überirdisches Entzücken beim Übergang von Nacht zu Tag. Anders als „Hello Earth“ ist das Lied selbst eine Reise aus der Dunkelheit ins Licht.
Im Booklet hierzu wird die blaue Nacht dargestellt, die nach rechts so heller wird, so als ob dort der Morgen kommt. Wasser ist zu sehen, Sterne und Vögel, ein Mensch als Vogel verkleidet. Nur hier im Booklet der Sky-Seite taucht ein Mensch auf, er erscheint aber wie in einen Vogel verwandelt. Beschreibt dieses Lied eine Metamorphose, eine Verwandlung des Menschen? Text und Musik geben hierzu Antworten.
Zu Beginn von „Nocturn” wird ganz leise ein Text gehaucht: „Sweet Dreams”. Das signalisiert, dass es um so etwas wie eine hypnotische Traumsequenz geht. Der Mensch im Einklang mit der Natur (der Mensch verwandelt in einen Vogel) ist nur im Traum möglich. Das nächtliche Licht wird dann in all seinen Facetten (Mondlicht, Sternenlicht wie Diamantenstaub) beschrieben. Das Lied kulminiert im Sonnenaufgang (“Look at the light , all the time it’s a changing / Look at the light, climbing up the aerial”), im Aufwachen (“and all the dreamers are waking”) und im Ausschwingen in das letzte Lied der Suite, in “Aerial”. Der Text beschreibt die Reise einer Gruppe von Menschen ans nächtliche Meer, weg von der Stadt mit ihrem Trubel, ihrer Hektik. Im Licht der Sterne baden sie im Meer, lassen sich von der Natur gefangen nehmen. Immer tiefer tauchen sie hinab. Den Sonnenaufgang erleben sie wie eine göttliche Erscheinung, es ist wie das Werden einer neuen Welt. Es ist nicht klar, ob das nicht nur ein Traum der Protagonistin ist: Im Booklet findet sich an einer Stelle „Could be in a dream“, in der Partitur [1] dagegen „Could be in my dream“.
Der Song ist musikalisch außerordentlich komplex, obwohl er so einfach erscheint. In meiner Analyse beziehe ich mich auf die Partitur aus dem Aerial-Songbook [1]. Der Takt ist ein 4/4-Takt mit einigen, kleineren Brechungen (2/4, 6/4). Aber diese scheinbare Regelmäßigkeit wird subtil unterlaufen. Rhythmische Aufbrechungen und sich überlagernde rhythmische Muster bringen den Takt immer wieder zum Schweben. Die Tonart ist ein cis-Moll. Cis-Moll ist nach Beckh [2] die Sehnsuchtstonart der klassischen Musik. Es ist eine warme Tonart voller Schwermut. Sie öffnet in unserem Herzen die verborgenen Quellen der Sehnsucht. Etwas von der leuchtenden Schönheit der parallelen Dur-Tonart E-Dur gießt sich auch über cis-Moll aus, anstatt Sonnenlicht ist es das sanftere Licht des Mondscheins. Cis-Moll ist in höchstem Maße eine romantische Tonart. Nocturnes von Chopin stehen in dieser Tonart, ebenso die Mondscheinsonate von Beethoven. Alle Bedeutungsnuancen gemäß Beckh finden sich idealtypisch in „Nocturn“ wieder.

Die Hauptakkorde sind cis-Moll, A-Dur und H-Dur, ganz selten kommen einige Farbtöne dazu. Der Eindruck ist schwebend, es klingt nicht wie ein reines Moll. Das liegt daran, dass die Akkorde A-Dur und H-Dur Subdominante und Dominante der Dur-Parallele zu cis-Moll sind. Die Akkordfolge schwingt dadurch zwischen Moll und Dur hin und her. Die Akkordfolge cis-Moll – A-Dur – H-Dur wird bis Takt 52 strikt durchgehalten, der letzte H-Dur-Akkord erscheint auf „Something“ in „Just as something more. Dann gibt es keinen H-Dur-Akkord mehr bis zum Takt 156 „and all the dreamers are waking“. Hier erscheint der H-Dur-Akkord auf dem letzten Viertel des 2/4-Taktes, hier rein instrumental. Dann folgt der Übergang zu cis-Moll und zur Charakteristik von „Aerial“. Über hundert Takte wird diese Erlösung durch den H-Dur-Akkord herausgezögert. Dieses lange Vermeiden des dominantischen Akkords bedarf natürlich einer Erklärung. Dazu ist es nötig, sich die Bedeutungen der Akkorde A-Dur und H-Dur und der durch sie angedeuteten Tonarten anzuschauen.A-Dur, das sind nach Beckh [2] „die lichten Höhen“. Charakteristisch ist der dieser Tonart innewohnende Niederstieg von den Höhen des Überirdischen zu den Tiefen des Irdischen. H-Dur ist nach Beckh [2] die Sonnenuntergangstonart. H-Dur ist nicht mehr ganz im Irdischen, es enthält einen verklärten Nachglanz dieses Irdischen und damit zugleich die Vorahnung des Hinübergehens. H-Dur ist die ätherische, überirdische Tonart der Verklärung. Wagners Liebestoddrama „Tristan und Isolde“ wird z.B. von dieser Tonart bestimmt. Diese hoch über dem Irdischen liegende Tonart wird nur verwendet, wenn man damit etwas ganz Bedeutsames ausdrücken will.
Folgt man diesen Tonartenbedeutungen, dann ist klar zu sehen, was in „Nocturn“ musikalisch geschieht. Die Musik weicht aus dem sehnsuchtsvollen, romantischen cis-Moll des Traums und der Nacht aus, strebt nach Höherem, nach Verklärung, nach Erlösung. Ist der H-Dur-Akkord der Erlösung zu Beginn noch präsent (eine Verheißung?), so fehlt es dann den ganzen Rest des Songs, bis es am Übergang zu „Aerial“ wieder erscheint. Dieses letzte Lied „Aerial“ ist die andere Welt, die verheißene, überirdische Welt und dieser letzte H-Dur-Akkord signalisiert den Übergang. Das Ziel ist erreicht. Auch in der musikalischen Gestaltung der einzelnen Abschnitte des Songs findet sich dieser Gegensatz von realer Welt und der anderen Welt wieder. „Nocturn“ ist musikalisch in sieben Abschnitte gegliedert, die sich klar voneinander abgrenzen lassen. Das klingt beim Hören alles ganz leicht und wie selbstverständlich, ist aber in sich sehr komplex. In der Beschreibung muss ich daher ein bisschen ausholen. Eine meisterliche Komponistin ist am Werk!
„On this Midsummer night / Everyone is sleeping / We go driving / Into the moonlight“: Teil 1 bildet mit diesem Vers 1 eine Art Einleitung zum Song in den Takten 1 bis 16, die Partituranweisung ist ein „Arhythmic and ethereal“. Der Abschnitt beschreibt die Eingangssituation des Songs: die nächtliche Fahrt ans Meer. Die Melodie wird durch  ruhige Akkorde in ganzen Noten begleitet, der träumerische, ruhige Eindruck wird dadurch verstärkt. Sehr viel der gesamten Melodik ist vom Sekundschritt abgeleitet. Sehr ungewöhnlich (und damals neu) für Kate Bush ist die melismatische Sekundwechselfolge zum Beispiel zu „on this midsummer night“ mit ihrem charakteristischen Wechsel Cis-H fünffach wiederholt auf „summer night“.
Teil 2 (Chorus 1) erstreckt sich von Takt 17 bis Takt 32, er beginnt mit „Could be in a dream“. Das ist nun eine ganz andere Welt. Die langen Akkorde der Einleitung setzen sich fort, es dominiert jetzt aber ein ganz charakteristischer Rhythmus (ich nenne es „Muster A“) mit einer Schwerpunktverschiebung im dritten Viertel des Takts. Die Musik beginnt gegenüber dem Takt zu schweben. Der Text beschreibt das Hineingehen in das Meer, beschreibt das nächtliche Meer, es klingt entrückt, wie ein Traum. Es gibt keinen H-Dur-Akkord in diesem Abschnitt. Ist das also alles in dieser Welt?
Teil 3 (Vers 2) erstreckt sich von Takt 33 bis 60, es beginnt mit „We tired of the city“ und endet mit „just as something more“. Auf diesem schließenden „more“ singt die Singstimme das H in einem ganz lange ausgehaltenen Ton. H – das ist das „more“ gegenüber der realen Welt. In diesem Abschnitt kommt wieder der H-Dur-Akkord vor, aber nur vor diesem „more“. Die Sekundwechselfolge ist nun mit triolischen Aufbrechungen durchsetzt. Ein bewegter, emotionaler Eindruck entsteht so, die Musik ist eindeutig heraus aus dem normalen Takt. Der neue Rhythmus („Muster B“) ist nun gegen den Takt verschoben. Im Text geht es um die Sehnsucht, die Suche nach Erlösung, die Unzufriedenheit mit der Situation. Alles in der musikalischen Umsetzung spiegelt das wieder.
Teil 4 (Chorus1 + Chorus2) geht von Takt 61 bis 76, er wird einmal wiederholt. Er beginnt mit „Could be in a dream“ und endet mit „we swim further and further“. Wieder gibt es keinen H-Dur-Akkord. Der Rhythmus ist das Muster A, die Gesangsmelodie nimmt manchmal kleine Teile des Musters A auf. Die langen Akkorde der Einleitung sind auch wieder da. Ab dem letzten Takt dieses Abschnitts beginnen sie sich aufzulösen. Es entsteht ein rhythmisches Muster C im Wechsel mit den ganzen Noten des Beginns. Die Realität beginnt sich zu verwandeln, je länger die Protagonisten im Sternenlicht schwimmen. Auch die Singstimme von Kate Bush wird durch Kate Bush im Chor gedoppelt, mehrere Welten scheinen sich aufzutun, die klare Sicht scheint zu verschwimmen.
Im Teil 5 von Takt 77 bis 108 wandelt sich die Welt endgültig, während die Protagonisten in die Tiefe des Meeres hineintauchen. Teil 5 beginnt mit dem Ende des Chorus („we dive down“), umfasst zwei Brückenpassagen im Text und endet mit „Could be in my dream“. Der Rhythmus ist das Muster A, das sich ab „a diamond night“ leicht zu verändern beginnt, aber im Taktschema bleibt. Auch das Muster C im Wechsel mit den ganzen Noten beginnt sich subtil zu verändern, es beginnt zu „schimmern“. Es gibt immer noch keinen H-Dur-Akkord, aber musikalisch wird ganz vorsichtig an H-Dur „angeklopft“. Im instrumentalen Teil vor „a diamond night“ kommt nämlich der Ton ais in den Akkorden hinzu, der Leitton zu H-Dur. Im Text tauchen die Schwimmer im Meer immer tiefer hinab in die Tiefe. Aber im Gegensatz zum passiven Versinken in „Hello Earth“ zur geheimnisvollen Textzeile „Tiefer, tiefer, irgendwo in der Tiefe gibt es ein Licht“ ist das hier ein aktives Herabtauchen, ein aktives Streben nach dem überirdischen Licht. Es folgt ein instrumentaler Break bis Takt 110, ein „Interlude“, das fünffach wiederholt wird. Das Geschehen klingt aus, etwas Neues passiert ab jetzt in den Teilen 6 und 7. Das ais in den Akkorden ruft nach H-Dur, nach Erlösung.
Teil 6 geht von Takt 111 bis 138, er beginnt mit „And it come up the horizon“. Das Muster A bildet die durchgehende Begleitung. Im ersten instrumentalen Break hinter „horizon“ (4 Takte) kommt parallel zum Muster A ein vom Muster B abgeleitetes, verschobenes Muster B* dazu. Endlich treffen die beiden Welten aufeinander. Das ist ein Moment großer Emotionalität, eine Art Herzstocken. Im zweiten Abschnitt (ab „a sea of honey“) in den Takten 130 – 138 wechselt das Muster B* in ein Muster D aus vier Viertelnoten, pulsierend, auftrumpfend – das nimmt die rhythmische Welt des folgenden Songs „Aerial“ vorweg.
Teil 7 (Takt 139 bis 158) ist dann der Kulminationspunkt. Der Chor kommt hinzu, „Look at the light“. Ab „a changing“ findet sich immer der Ton ais in der Begleitung, der Leitton zu H-Dur. Der Ton ais kündigt den Wandel an. Das Muster A wird zuerst durchgehalten, wechselt ab „bright white coming alive“ in ein ganz neues Muster E. Das geht dann mit dem endlich hereinbrechenden, erlösenden H-Dur-Akkord in Takt 156 in den Aerial-Rhythmus aus reinen Vierteln und reinen Achteln über. In „Aerial“ werden wir dann nur noch den cis-Moll-Akkord finden – wir sind in einer anderen Welt angekommen.
Alles an diesem Song ist Geheimnis, Erwartung, sich aufbauende Spannung und Erlösung. Es ist eine Reise aus der Dunkelheit des Traums in das grelle Licht eines Tages. Mit subtilen Mitteln gelingt es Kate Bush, dies umzusetzen. Das ist so gut gemacht, wie es nur einer meisterlichen Komponistin gelingen kann. „Nocturn“ ist ein großes Geheimnis, perfekt und genial in Musik gesetzt. Es ist und bleibt ein Wunder auch ohne Analyse. Aber ein tieferer Blick auf die Details bringt alles noch mehr zum Funkeln. © Achim/aHAJ

[1] ‪Kate Bush: Aerial (Songbook), London 2006. Faber Music Ltd. S.108ff [2] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.268 (cis-Moll) und S.171ff (H-Dur) und S.139f (A-Dur)

Not This Time

Oh England My Lionheart

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Ein Krieg ist beendet („The soldiers soften, the war is over.“), ein abgeschossener Militärpilot kommt in seinem Sarg zurück in sein geliebtes England („Dropped from my black Spitfire to my funeral barge.“). Das Lied ist ein Strom von Erinnerungen, Bildern, Emotionen. Jemand kommt nach Hause, aber es ist nur noch eine Zwischenstation auf einem Weg ohne Rückkehr, es ist die Wehmut des endgültigen Abschieds. Das Lied endet mit einen “I dont’t want to go”.
Ein zurückhaltendes Arrangement, Klavier, Flöten, Cembalo, berührender Gesang – das Lied verströmt ein beinahe mittelalterliches Flair [1]. Überall im Text finden sich England-Verweise (London Bridge, Shakespeare, die Themse, der Tower und seine Raben), alles ist von Sehnsucht geprägt. Kates Gesang aber lässt alles Zuckersüße an dem Titel verfliegen [1]. Diese melancholische, ganz ruhige und romantische Ballade hat damals sofort mein Herz für das Album gewonnen. Der Song ist eine Erinnerung an alles Gute und Schöne, alles in Text und Musik beschwört die Vergangenheit und die Heimat hervor. Diese perfekte Kombination aus Musik und Text ist tief bewegend, sie bedient sich unvergesslicher Bilder, verortet Erinnerungen in Zeit und Raum [2]. Aber wer tot ist der muss gehen – und da hilft kein noch so emotionales “I don’t want to go”. Wenn ich genau hinhöre auf den Rhythmus – es ist ein ruhiges, langsames Dahinschreiten. Hinter der Beschwörung der Vergangenheit versteckt sich ein Trauermarsch. Zu diesem Song wird der Sarg des Piloten zum Grab getragen. Mit dem letzten “I don’t want to go” senkt sich die Melodie, hinunter in die Erde, es ist zu Ende. Es ist ein Lied über den Tod.
“Oh England my Lionheart” ist für Kate Bush eine ganz persönliche Herzensangelegenheit. Für das Persönliche spricht, dass der Text im Booklet handschriftlich abgedruckt ist. Kate mag den Titel nicht mehr, möglicherweise deckt er doch zu viel aus dem Inneren auf. Er ist aber eindeutig das Zentrum des Albums, nicht ohne Grund spiegelt sich dies im Namen des Albums wieder. Kate verortet sich hier in ihrer Heimat und in ihren musikalischen Traditionen, mit voller Hingabe. Das geht vielleicht wirklich nur als Totenklage, um nicht kitschig zu werden.
Aber wie so oft bei Kate Bush – eine zweite Ebene ist denkbar. Mit ihren ersten zwei Alben tritt sie heraus aus ihrer kleinen Welt in die Öffentlichkeit. Trägt sie hier in diesem Song auch ihre Kindheit zu Grabe? “I don’t want to go”.
Achim/aHAJ)

[1] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S. 93f
[2] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 153

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Oh To Be In Love

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„Oh to be in Love“ wurde von Kate Bush zuerst im Sommer 1976 als Demo-Version aufgenommen [1], da war sie 17 oder 18 Jahre alt. Seine offizielle Premiere hatte der Song dann auf dem Debutalbum „The Kick inside“. Die Demo-Version ist auf zahlreichen Bootleg-CDs und auf der Bootleg 7‘‘-Single „Cathy Demos Volume Two“ zu finden [1], das als Hinweis für Sammler. Als Single wurde er nicht veröffentlicht, aber er schaffte es auf eine EP mit vier Tracks für den brasilianischen Markt, die EP ‚4 Sucessos‘ [1]. Meines Wissens ist es der einzige Song von „The Kick inside“, den Kate Bush nie live gesungen hat. Warum eigentlich nicht? Er hat Charme, er ist ganz lebensnah. Aber er ist vielleicht lebensnaher, als es ein normales Pop-Publikum damals gewohnt war. Auf dem Album reiht sich der Song ein in eine Folge von Liedern, die verschiedene Facetten der Liebe betrachten. Vielleicht bilden „Feel It“, „Oh To Be In Love“ and „L’Amour Looks Something Like You“ eine Art Einheit, aber sie lassen sich auch einzeln gut betrachten.
In „Oh to be in Love“ kommen zwei Menschen zusammen zu einem Date. Die ersten beiden Strophen schildern die Situation aus der Sicht der Protagonistin. Aus dem Text spricht ein bisschen ein „Was mache ich hier?“-Gefühl („How did I come to be here, anyway? / It’s terribly vague, what’s gone before“). Offenbar war es eine Zufallsbekanntschaft, etwas Spontanes („I could have been anyone / You could have been anyone’s dream“). Der Text ist voll von Zweifeln, von Unsicherheit über die Situation. Der folgende Chorus („Oh, to be in love / And never get out again“) wird zweimal gesungen. Hier ist ist eine männliche Stimme dabei – Frau und Mann haben zusammengefunden. Zwischen den beiden Chorus-Passagen nimmt ein musikalisches Zwischenspiel die Musik der Strophen auf. Es ist eine wortlose Strophe, Worte sind offenbar nicht mehr nötig.
In der dann nach dem zweiten Chorus folgenden dritten Strophe hat sich die Welt verändert. Alles sieht anders aus und neu („All the colours look brighter now / Everything they say seems to sound new“). Liebe hat die Welt verwandelt. Mit einem weiteren Chorus klingt der Song aus.
„Oh to be in Love“ ist ein zärtlicher Titel, fast eine Ballade, aber mit viel vorwärtstreibender Energie. Das Balladenhafte und Romantische wird durch dezente Chorbegleitung in den Strophen unterstrichen. Auch die für spätere Songs von Kate Bush so typischen exotischen Instrumente sind schon zu finden – Paddy Bush spielt Mandoline. Passender für ein zärtliches Ständchen geht es nicht. Musikalisch ist der Song sehr interessant – zur Analyse orientiere ich mich an [2]. Der Song ist in Ges-Dur komponiert, aber verwendet die Tonart auf unkonventionelle, etwas ungewöhnliche Weise. Dur-Akkorde herrschen vor, aber auch leitereigene Moll-Akkorde werden verwendet. Der B-Moll-Akkord erklingt z.B. auf den Schlusstönen von „It‘s terrible vague what‘s gone before“ und „Why did you make it so unreal?“. Der Es-Moll-Akkord erscheint im Chorus.

Leiterfremde Dur-Akkorde aber heben die Musik heraus aus der Normalität und geben dem Song etwas von bebender Erwartung, von Spannung. Der verminderte Dreiklang auf F zum Beispiel ist durch einen E-Dur-Dreiklang ersetzt, der der Tonart ganz fremd ist. Statt des leitereigenen As-Moll-Akkords erklingt der As-Dur-Akkord. Das erste Mal erscheint dieser „fremde“ Akkord auf dem „hits“ in „As the light hits you“. Im Chorus erklingt dieser Akkord auf dem „Love“ in der ersten und zweiten Zeile „Oh to be in love and never get out again“, in der dritten dieser Zeilen erklingt auf dem „Love“ der leitereigene As-Moll-Akkord. Die Spannung und Ungewissheit der ersten zwei Chorus-Zeilen ist weg. In dieser dritten Zeile ist zudem die Singstimme eine Oktave höher und die Melodie auf dem „Love“ ist ausgeschmückter.
Wenn man die Tonartenbedeutungen gemäß Beckh [3] heranzieht, dann muss man bewundern, wie feinsinnig dies Kate Bush hier hinbekommen hat. Ges-Dur ist die Tonart der errettenden Liebe, der über die Schwelle führenden Venus. As-Dur ist das Licht in der Finsternis. „Ein Licht beginnt aufzuleuchten, wo wir bisher nur Dunkel vermuteten“ – so beschreibt es Beckh. E-Dur schließlich steht für Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit und Liebeswärme. Passendere Tonarten für diese Geschichte sind kaum denkbar. Ich bewundere es jedesmal, wie treffsicher und subtil Kate Bush schon auf ihrem ersten Album die Tonarten verwendet, das ist schon außerordentlich. 
„Oh to be in Love“ ist erstaunlich reif für eine so junge Sängerin. Ich bewundere seine sensible Darstellung davon, wie sich ein Zufalls-Date in Liebe verwandelt. Zur Interpretation möchte ich nicht zu sehr ins Detail gehen, das würde etwas pornographisch. Ich fasse die Strophen als die Gedanken der Protagonistin auf. Zuerst ist die Situation unsicher, es ist ja ein Zufallsdate. Wie wird es ausgehen? Dann kommt der erste Chorus, sie haben Sex miteinander. Offenbar kommen Beide zum Höhepunkt (die veränderte Färbung auf dem dritten „Oh, to be in love / And never get out again“). Das Zwischenspiel ist ohne Worte, jetzt macht sich die Protagonistin keine zweifelnden Gedanken mehr. Ein zweiter Chorus folgt (noch einmal Sex), wieder mit Höhepunkt. Ein gutes Date, wie die Protagonistin in der dritten Strophe bestätigt!
„Oh to be in Love“ ist eine hinreißend realistische Schilderung des Zusammentreffens zweier Menschen. Der Song ist eine erstaunlich präzise Schilderung und schafft es, sein Thema ohne jeden erhobenen Zeigefinger zu präsentieren. Der Song ist unplakativ, direkt und ehrlich – einfach schön! © Achim/aHAJ

[1] https://www.katebushencyclopedia.com/oh-to-be-in-love (gelesen 26.05.2020)
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987.  S.134f
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S.106 (Ges-Dur), S.198f (As-Dur), S.263 (E-Dur)

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One Last Look Around The House Before We Go

Passing Through Air

Pi

Pi - Kate Bush

Unbefangene Bush-Neulinge bemerken sofort die Ungewöhnlichkeit und Gewagtheit dieses Liedes. Es ist ja schon sehr exzentrisch, ein Lied über eine transzendente Zahl zu schreiben und über Minuten nur die Dezimalziffern von Pi zu singen. Dieses “Außerordentliche” lockt dazu, sich diesen Titel anzuhören – die Umsetzung dann versetzt in Staunen.
Es gibt das hübsche Bonmot über Kate Bush, dass sie selbst aus dem Telefonbuch von Kent noch ein erstklassiges Lied machen würde. Das war natürlich ein Scherz, aber vielleicht hat sich Kate Bush – die sehr humorvoll ist – da doch gedacht “das wollen wir mal sehen!”.
Ein Telefonbuch ist eine zufällige Auflistung von zusammenhanglosen Daten, das reicht nicht für einen Song. Aber Zahlen – da ist mehr Potenzial. Pi ist eine der berühmtesten Zahlen, unzählige Menschen haben schon in der Vor-Computer-Zeit versucht, weitere Dezimalstellen zu errechnen und sich so zu verewigen. Das ist eine Aufgabe, die nie endet – denn Pi hat als transzendente Zahl unendlich viele Dezimalstellen und keine ist vorhersehbar. Pi ist außerdem – als Verhältnis von Kreisumfang zu Durchmesser – ein Symbol für Unendlichkeit, für Harmonie, für Symmetrie. Schon haben wir typische Zutaten zusammen für einen Bush-Song: Menschen, die von etwas besessen sind; ein Symbol der Harmonie, die man jederzeit vor sich sieht (jeder Kreis ist eine Visualisierung von Pi), die man aber niemals endgültig erreichen kann.
Es begeistert (und irritiert), wie ein so mathematisches und damit vermeintlich trockenes Thema mit so einer sinnlichen Musik umgesetzt wird. Eine die rhythmischen Begrenzungen und Reglementierungen aufhebende und überschreitende Musik ist zu hören, ein mit betörender Sinnlichkeit gesungener Zahlenreigen.
Zärtlich, fast wie eine Liebeserklärung singt sie von dem Mann und seiner Begeisterung für Zahlen. Ein konkretes Bild kommt zustande: Ein Mensch, gefangen in seiner Hingabe. Kate Bush singt hier ganz anders als z.B. in “A Coral Room” oder “Joanni”. Aber genau das macht die Wirkung aus – hier die Zahlen direkt, klar oder laut herauszusingen würde die Stimmung verderben. Das Zurückhaltende, Flüsternde, Gehauchte ist hier ein perfekt eingesetztes Stilmittel. Ausgedrückt werden soll die Liebe zu diesen Zahlen (auch die Besessenheit von ihnen) und da passt Zärtlichkeit und Traumverlorenheit. Murmelnd, gurrend, zart – jede Zahl sagt “ich liebe Dich”. Text und musikalisches Stilmittel passen zusammen. Dieser zurückhaltende, sanfte, sich in den Grund einbettende Gesangstil ist es, der hier einen fast hypnotischen Effekt auslöst. Es ist kein Gesang – es ist eine Beschwörungsformel, ein Liebeszauber.
Mathematik ist sinnlich und erotisch – das ist das Unerwartete des Textes. Aber auch Melodie und Rhythmus spielen mit den Erwartungen. Das Lied steht im 6/8-Takt, unablässige Ketten von Achtelnoten bilden einen pochend gleichmäßigen (digitalen) Teppich, in unterschiedlich lange Gruppen gleicher Tonhöhe gegliedert, taktüberspannend. Der tänzerische Takt und das gleichmäßige Pochen – das steht gegeneinander. Die Gruppen der gleichen Akkorde in den Achtelketten werden zudem von Durchgang zu Durchgang subtil verändert. Durch diese Stilmittel wird ein fast schwereloser Zustand erreicht, ein unablässiges Kreisen. Dies könnte bis in alle Unendlichkeit so weitergehen – genau wie die Dezimaldarstellung der Zahl Pi. Das alles leuchtet in einer klaren Grundtonart C-Dur, die aber auch unablässig in andere Sphären ausgeweitet wird. Jeder rationale Boden ist transzendiert – wie es für die nicht-rationale transzendente Zahl Pi angemessen ist. Aus einem Song wird ein numerologisches Mantra.
Der im Stil der Supremes (jedesmal beim Hören kommt mir dieser Vergleich in den Sinn) akzentuierende Chor unterstreicht und erdet dies durch seine vorantreibende Art wieder. Wie ein kleiner Dynamo treibt er das Schwungrad des Songs immer wieder an und hält es in Schwung. Diese eigentlich widersprüchlichen Komponenten sind zu einer Einheit zusammengefasst auf eine sinnlich-ironisch-intelligente Art, wie es nur Kate Bush vermag. Das ist wirklich Verlockung, ein Sirenengesang für Mathematiker, ein normaler Mensch kann nur bewundernd zuhören.
Pi ist einer der Songs von Kate Bush, den ich mir mit am häufigsten einzeln anhöre. Ich sehe ihn als eine stimmige Einheit und dies ist für mich ein Grund für die Faszination, die er auf mich ausübt. Selten wurde mathematische Schönheit so ergreifend mit Musik verbunden. Und wahrscheinlich nur Kate Bush kann dies singen, ohne dass es völlig lächerlich wirkt!
Jetzt bleibt noch zu überlegen, warum Kate Bush beim Singen der Zahlen Stellen ausließ. Sie kommt bis zur 137. Nachkommastelle, lässt aber die Stellen 79 bis 100 aus. Es gab den Scherz “das lässt auf eine Maxi-Version hoffen”. Vielleicht kommt das ja noch irgendwann – bei Kate ist man vor keiner Überraschung sicher.
Achim/aHAJ)

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Prelude

Prologue

Pull Out The Pin

Dieser außerordentlich stimmungsvolle und bedrückend düstere Song schildert eine Begegnung im Dschungel während des Vietnamkriegs. Er ist ein ganz typisches Beispiel für die Arbeitsweise von Kate Bush. Eine außermusikalische Inspiration (hier eine Sendung im Fernsehen) löste einen Assoziationssturm aus. „I saw this incredible documentary by this Australian cameraman who went on the front line in Vietnam, filming from the Vietnamese point of view, so it was very biased against the Americans. He said it really changed him, because until you live on their level like that, when it’s complete survival, you don’t know what it’s about. He’s never been the same since, because it’s so devastating, people dying all the time. The way he portrayed the Vietnamese was as this really crafted, beautiful race. The Americans were these big, fat, pink, smelly things who the Vietnamese could smell coming for miles because of the tobacco and cologne. It was devastating, because you got the impression that the Americans were so heavy and awkward, and the Vietnamese were so beautiful and all getting wiped out. They wore a little silver Buddha on a chain around their neck and when they went into action they’d pop it into their mouth, so if they died they’d have Buddha on their lips. I wanted to write a song that could somehow convey the whole thing, so we set it in the jungle and had helicopters, crickets and little Balinese frogs.“ [1] Diese Bilder werden in einer hochemotionalen Momentaufnahme zusammengefasst. Kate Bush hatte nicht die Absicht, einmal einen politischen Song über den Vietnamkrieg zu schreiben – es waren Bilder der Dokumentation, die sie dazu bewegt haben. „No, I didn’t think I’d ever want to write about it until I saw this documentary on television which moved me so much I thought I just had to.“ [2] „Pull out the pin“ ist wieder einer der Songs, der Kate Bush als Protagonistin in fremdartige Situationen stellt und der dabei noch die Geschlechterrollen aufhebt. Sie nimmt die Sicht eines vietnamesischen Kämpfers ein. Das Lied beginnt mit dem Eintritt in den Urwald: „Just as we hit the green, I’ve never been so happy to be alive“ [3]. Wir hören Dschungelgeräusche, ein fernes Klappern wie auf Bambus. Vage, fremdartige Tiergeräusche sind leise hineingemischt – sie stammen von Kassettenaufnahmen, die der Drummer Preston Hayman im balinesischen Urwald gemacht hat [1]. Der Verzicht auf für den Pop typische Drumbeats und die pentatonische Melodik erzeugen ein asiatisches Flair. Im Hintergrund klingt so etwas wie Musik (eine Elektrogitarre?), erst fern, dann näher. Es erinnert an Musik aus einem alten, verstimmten Kofferradio. Kate Bush selbst hat in einem Newsletter an ihre Fans eine Anleitung gegeben, wie man „Pull out the pin“ hören und sehen soll. Wie in einem Film nähert man sich aus der Totalen immer mehr den handelnden Personen und wird immer intensiver in die Situation hineingezogen. „We sat in front of the speakers trying to focus on the picture — a green forest, humid and pulsating with life. We are looking at the Americans from the Vietnamese point of view and, almost like a camera, we start in wide shot. Right in the distance you can see the trees moving, smoke and sounds drifting our way…sounds like a radio.“ [4]

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Der Fokus wechselt nun von der Schilderung des Urwalds auf eine Gruppe der Amerikaner (in den Lyrics steht jetzt ein „They“). „Closer in with the camera, and you can catch glimpses of their pink skin. We can smell them for miles with their sickly cologne, American tobacco and stale sweat.“ [4].  Näher und näher geht dann die Kamera heran, bis nur noch ein Amerikaner im Blickfeld ist (in den Lyrics steht jetzt „He“). „Take the camera in even closer, and we find a solitary soldier […]. This soldier is under a tree, dozing with a faint smile and a radio by his side. It’s a small transistor radio out of which cries an electric guitar.“ [4]. Die merkwürdig verzerrte Gitarrenmusik findet so eine Erklärung. Der Amerikaner ist niemand, der hier hingehört – „He’s big and pink and not like me“ [3]. Das Wort „pink“ wird mit einer ganz merkwürdigen Betonung gesungen. Da wird ein fremdartiges Wesen gesehen, Abscheu schwingt mit. Er ist fremdartig aus der Sicht des Protagonisten – das ist nicht dessen Welt. Die eigene Seite – das ist das Überleben. Die andere Seite – das ist fremd, nicht hier hingehörend („He’s big and pink and not like me“). Das ist eine Seite, für die das alles ohne Sinn ist („He sees no reason for the fighting“). Das Unvorhersehbare der Situation spiegelt sich auch im Sound wieder – ein Militärfahrzeug fährt vorbei. Das Geschehen kommt nun ganz nah an den ausgewählten Amerikaner heran (im Text steht „I look in American eyes.“).  „I pop the silver Buddha that I wear around my neck into my mouth, securing my lips around his little metal body. I move towards the sleeping man. A helicopter soars overhead, he wakes up, and as he looks me in the eyes I relate to him as I would to a helpless stranger. Has he a family and a lady waiting for him at home, somewhere beyond the Chinese drums and the double bass that stalks like a wild cat through bamboo?“ [4].  Das Bild des silbernen Buddhas muss Kate Bush sehr beschäftigt haben. Sie verbindet das hier mit dem Bild der silbernen Kugel. Im Märchen ist das ein Mittel, mit dem Monster, Vampire, Untote getötet werden können. Die Amerikaner sind Unholde aus einer anderen Welt, aus einer toten Welt. Kate Bush sagt dazu „Grotesque beauty attracts me. Negative images are often so interesting“ [5] und das trifft es genau. Es ist die Faszination einer emotionalen Grenzsituation. Hier geht es um etwas Existenzielles, den Kampf einer gegen einen („Just one thing in it, me or him. And I love life!“). Das „And I love life!“ wird geradezu verzweifelt herausgeschrieen, es ist der pure Überlebenswille. Der Titel des Songs bezieht sich auf das Scharfmachen einer Handgranate [6]. Im Chorus – gesungen von David Gilmour von Pink Floyd – tritt das in zwei Nuancen auf. Zuerst heißt es „Pulling on the pin“ – Ziehen am Stift, später dann als Aufforderung „Pull out the pin“ – zieh den Stift heraus! Hubschraubergeräusche legen sich über den Schluss, alles geht in eine Kakophonie von Geräuschen und Stimmen über, Assoziationen an einen Zweikampf ums Überleben werden geweckt. Das „Pull out the pin“ wird immer eindringlicher. Dies ist eine fremdartige und dunkle Atmosphäre, die sich zum Ende hin hinter den Hubschraubergeräuschen – die an den Vietnam-Film „Apocalypse now“ erinnern [7] – in Agonie und Tod verliert. Zum Abschluss verdämmert die Musik. Es ist ganz unklar, wie die Geschichte ausgeht und ob die Handgranate gezündet wird. Dieser Film beginnt ganz weit weg von den Personen, kommt immer näher, geht in sie hinein und vergeht mit ihnen. Eine Auflösung gibt es nicht. „The moving pictures freeze-frame and fade–someone stopped the multi-track, there’s more overdubs to do.“ [4] Für mich ist das ein Existenzkampf, eine Situation ohne Ausweg und mit ganz wenig Hoffnung. Das spiegelt sich in der Tonart – der Song ist in g-Moll geschrieben [3]. G-Moll, das bedeutet tragischen Schicksalsernst, Furcht, Bangen, Hoffnungslosigkeit, es drückt die „hoffnungslose Empfindung der Angst und Furcht vor dem Unvermeidlichen, nicht Abzuwendenden“ aus [8]. Es gibt nur kleine Lichtblicke. Das „with my silver buddha and my silver bullet“ steht nicht in Moll, sondern in Dur und kulminiert in einem B-Dur-Akkord. Auch hinter dem herausgeschrieenen „life“ in „I love life“ steht dieser B-Dur-Akkord. B-Dur ist die parallele Dur-Tonart zu g-Moll, die lichte Gegenseite, sie steht für etwas Glaubensvolles, Hoffnungsvolles [8]. Schatten und Licht, Abgrund und Hoffnung – alles spiegelt sich in der musikalischen  Gestaltung wieder. Kate Bush zeigt sich hier als „echte Poetin der Sinne“ [9]. Sie macht die dunkle Seite dessen, was Menschen antreibt und den blanken Horror des Krieges greifbar und erfahrbar [9]. Die Hitze, das Grün, der Urwald, die Feuchtigkeit, das Unterholz ringsum – all dies ist fast körperlich zu spüren. „Pull out the pin“ ist Musik, die wie ein Film aufbebaut ist und die wie ein Film zu lesen ist. Ich empfinde es nicht als Erzählung einer Situation, es funktioniert für mich wie ein Hörspiel. Die Geschichte ist „in“ den Personen und genau das macht das alles so emotional.   (© Achim/aHAJ)  
[1] Kris Needs: Dream Time in the Bush. ZigZag. 1982
[2] Karen Swayne: Bushy Tales. Kerrang!. 1982
[3] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987.  S.137-138
[4] http://www.katebushencyclopedia.com/pull-out-the-pin (gelesen 11.07.2016) (Kate Bush im „Kate Bush Newsletter, Oktober 1982)
[5] Robin Smith: Getting Down Under With Kate Bush. 1982 (http://gaffa.org/reaching/i82_smi.html, gelesen 11.07.2016)
[6] The Dreaming Interview. Von der CBAK 4011 CD (picture disk)
[7] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen.  S.135
[8] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S.255 und S.248
[9] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH, S.242
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Ran Tan Waltz

Reaching Out

Rocket’s Tail

Room For The Life

Rubberband Girl

Rob Jovanovic meint, dies sei der vielleicht lockerste und optimistischste Popsong, den Kate Bush je geschrieben hat [1]. Für ihn vermittelt der Song „ansteckend gute Laune und klingt richtig rockig“ [1]. Und wirklich – „Rubberband Girl“ ist schwungvoll und geht sofort ins Ohr, er klingt so fröhlich, wie man es von Kate Bush selten kennt. So etwas auf dem düsteren Album „The red shoes“, kann das wahr sein? Es ist in der Tat ein sehr tänzerischer Song, der geradeheraus daherkommt. Im Chorus gibt es verstärkende Effekte (Begleitstimmen, wie ein Chor), aber die Melodie ist identisch. Zum Schluss („Rub-a-dub-a-dub ….“) wird der Song immer wilder, dann kommt ein Bläserchor dazu mit für Kate Bush eher ungewöhnlichen Bläsereinsätzen [1]. Es folgt eine fast ekstatische Steigerung, wie ein immer stärkeres Schwingen am Gummiseil. Permanent wird ein Rhythmus fest durchgehalten. Graeme Thomson merkt an, der Song sei „in seiner lebhaften Art ein trügerisches Einstiegsstück, das auf einem gleichbleibenden Grundton dahindengelt und dessen trockener, beständiger Groove verrät, dass es auf die Schnelle im Studio geschrieben wurde“ [2]. Er hält ihn für einen mutigen Versuch, der aber letztlich nicht geglückt sei [2]. Leider führt er nicht aus, was ihn zu diesem Urteil führt. Unterschiedliche Einschätzungen, unterschiedliche Wertungen: es lohnt offenbar, hier etwas tiefer zu schauen.

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In “Rubberband Girl” steht das Gummiband als Symbol für die Flexibilität, für das Rettungsseil. Es ist für Kate Bush ein Symbol dafür, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen: „Well, it’s playing with the idea of how putting up resistance… um… doesn’t do any good, really. The whole thing is to sort of go with the flow.“ [3] Im Song geht es in verschiedenen Bildern um diese Themen. Schon zu Beginn wird die zentrale Botschaft ausgesprochen: „You see I try to resist“. Dies wird dann noch durch eine Aussage verstärkt und bekräftigt: „A rubberband bouncing back to life / A rubberband bend the beat / If I could learn to give like a rubberband / I’d be back on my feet“. Es endet mit dem Wunsch, das so auch umzusetzen und so widerstandsfähig wie ein Gummiband zu werden („Oh I wanna be a rubberband girl“). Hier ist vordergründig viel Fröhlichkeit in der Musik, ein Tanzlied scheint es zu sein, es klingen im Text keine Zweifel auf. Es gibt aber sehr viele Elemente im Hintergrund, Stimmen kommen aus allen Richtungen, das ist Chaos und Desorientierung. Ganz so einfach ist es also nicht, das Lied ist für mich ein bißchen Pfeifen im Walde. In der Zeit der Entstehung des Albums gab es schwerwiegende Ereignisse im persönlichen Umfeld, die Mutter von Kate starb überraschend, Freunde starben, sie trennte sich von ihrem Freund Del Palmer. Das Thema Widerstandsfähigkeit hat Kate Bush wahrscheinlich stark beschäftigt. Fröhliche Musik über nicht ganz so fröhlichen Texten schien ein Mittel zu sein, damit umzugehen (man höre sich z.B. „Eat the music“ an bzw. lese meine Analyse im Song-ABC dazu). Das Hängen an diesem Gummiband hat für mich aber noch weitere Aspekte – es hat etwas von einer Marionette, die an Fäden fremdgesteuert wird. Auch dies passt zur Situation – wer schon einmal eine schwere Krise durchlebt hat, kennt dieses Gefühl gut, keine Kontrolle mehr über sich selbst zu haben. Zum Schluß verwandelt sich das fröhliche  Tanzlied in eine aus den Fugen geratende Musik. Wie ist die Steigerung zu deuten? Gerät das Gummiband außer Kontrolle? Ist das Freude am Spiel? Ist das ein gutes oder ein schlechtes Ende? Wie oft bei Kate Bush hinterlässt der Schluß eines Liedes ein ambivalentes Gefühl und beantwortet Fragen nicht. (Ich finde das toll.)

Die musikalische Umsetzung – Details aus [4] – tragen zu dieser Ambivalenz bei. Die Grundstruktur ist tänzerisch vorantreibend, durchgängig wird der 4/4-Takt beibehalten. Notiert mit das mit 5b, ein Des-Dur. Die Melodie ist reines Des-Dur, es kommen z.B. alle Tonarttöne absteigend von Des bis zum Des eine Oktave tiefer vor (auf „I feel they‘ve got a lot more sense than me“, „ I gotta land with my feet firm on the ground“ und „I could learn to give like a rubberband“). Dies ist alles sehr einfach in der melodischen Struktur. Die Melodie z.B. hat keinen einzigen leiterfremden Ton. Die Melodie wird begleitet durch Veränderungen des As-Dur-Akkords (der Dominante in Des-Dur). Die Akkordfolge (immer über zwei Takte) ist dabei As7sus4, As7, As6sus4, As6. Dies ist eine Akkordfolge, die das harmonische Dur-Moll-Schema verrückt bzw. verlässt. Das permanente „Gehämmer“ auf dem Grundton As erzeugt einen getriebenen, fast manischen Eindruck. As7 ist ein Septakkord, der als sehr spannungsreich empfunden wird. Das As6 ist die Sixte ajoutée (frz. „hinzugefügte Sexte“) [9], ebenfalls dissonant klingend. Dazu kommen die SUS-Akkorde (das Folgende zitiert aus [5]). „SUS ist eine englische Abkürzung für suspended und bedeutet ´außer Kraft gesetzt´. Diese Akkorde heißen so, weil bei ihnen die Terztöne sozusagen ´außer Kraft gesetzt´ werden, bzw. weil es bei diesen Akkorden keine Terzen gibt. […] Beim SUS4 wird die Terz durch eine reine Quarte ersetzt […]. Bei SUS2 Akkorden fliegt die Terz für die Sekunde heraus. […]. Somit kann man folgende Regel aufstellen: sus4 = reine Quarte & große Sekunde, sus2 = große Sekunde & reine Quarte.“ SUS-Akkorde haben gemäß [5] „nichts mit Dur- oder Moll-Akkorden zu tun, sie sind eigenständige Akkorde, die noch nicht einmal aufgelöst werden müssen!“ Sie werden „häufig in der Pop-Musik verwendet, da sie sich sehr reibend anhören“ [5]. Bemerkenswert ist, das SUS-Akkorde von Kate Bush selten verwendet werden. Es kam ihr hier also wohl auf die hypnotisch-manische Wiederholung reibender, harter Akkorde an, die durch den beibehaltenen Grundton fast aufdringlich und verstörend wirken. Die benutzten Tonarten (nach Beckh [6]) unterstützen die Deutung, dass es in diesem Song um das Überstehen von Katastrophen geht. Es sind Tonarten der Hoffnung. Des-Dur steht für etwas Höheres, Helleres, Lichtes, es ist das Schauen der Sonne um Mitternacht, es ist eine in der Tiefe des Irdischen erlebte höchste geistige Höhe. As-Dur ist nicht die Grundtonart, aber durch die hypnotische Wiederholung dieses Akkordes hat er ebenso eine zentrale Bedeutung. Es ist gemäß Beckh das Licht in der Finsternis, die mystische Tonart. „Wir sehen uns auf einmal in mystische Tiefen des eigenen Innern, des Innersten der Welt hineingeführt, ein Licht beginnt aufzuleuchten, wo wir bisher nur Dunkel vermuteten“ [6].

Bildergebnis für kate bush rubberband girl

Das Vorantreibende, Tanzbare des Songs hat wohl dazu geführt, dass er Platz 12 in den britischen Charts erreichte [1]. Die Hitqualitäten kamen erst während der Aufnahme zum das Album begleitenden Film ins Bewusstsein. „Originally, the first single was intended to be Eat The Music. but during the production of the film to accompany the album, Rubberband Girl seemed to be catching everyone’s imagination, and has proved to be a substantial chart success“ [8]. Graeme Thomson vermutet, dass er auf die Schnelle im Studio geschrieben wurde [2], was wohl teilweise der Wahrheit entspricht „Rubberband Girl is one of the few that worked first time – it just has a basic rock feel with a riffing guitar, the backing vocals went down first and then we tried various lyrics and lead vocal ideas.“ [8] Zu „Rubberband Girl“ existieren zwei Videos, das erste ist ein Ausschnitt aus dem Film, das zweite erfüllt mehr die Funktionen eines Promo-Videos. Kate Bush erläutert das damit, dass der Wunsch nach dem zweiten Video aus Amerika kam. „Well, I was actually asked to do so by America. […] And – it was quite an interesting experiment just to make more a kind of straight forward promo, which only took a day to shoot. So – it was, it was quite fun really“ [7].

Zum Schluss möchte ich noch einen Blick auf die völlig andersartige Version des Songs auf „Director‘s Cut“ werfen. Diese Version wurde in Fankreisen ziemlich kontrovers diskutiert, ich werde mich auf meine Sicht beschränken. Diese Fassung klingt vollkommen anders als die Ursprungsfassung, sie klingt wie live, ohne die druckvollen Studiobässe. Für mich klingt es so, als ob die Sängerin nach einen ganz langen Tag zu viel getrunken hat und vor sich hin singt. Es ist vielleicht die fünfte Zugabe nach einem langen Auftritt der Band in einen Pub, in dem alle – Publikum, Band, Sängerin – schon betrunken sind. Zum Schluss kommt eine immer stärkere Begleitung durch eine Harmonika dazu – als ob jemand aus dem Publikum spontan mitgemacht hat. Nimmt Kate Bush hier den Kontrast Studio-Version / Liveauftritt auf die Schippe? Veralbert sie das? Bei vielen Künstlern ist dieser Unterschied genauso schräg (weswegen ich mir nur von besonderen Künstlern Liveauftritte antue). Oder soll das ausdrücken, dass das Gummiband nicht mehr funktioniert, sondern nur noch der Alkohol? Graeme Thomson sieht das nüchterner, für ihn klingt diese von Grund auf neu eingespielte Fassung „im besten Sinne ungezügelt und befreit, Kate Bush a la Rolling Stones“, verspielt und spontan [2]. Kate Bush hatte überlegt, ob der Titel überhaupt auf das Album soll. „Es ist einfach nur ein alberner Popsong“ [2]. Also vermute ich, sie wollte sich einfach mal ein bisschen Spaß mit uns machen (Prost!). © Achim/aHAJ

[1] Rob Jovanovic: Kate Bush. Die Biographie. Höfen. Koch International GmbH/Hannibal. 2006. S.181
[2] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.320f und S.395
[3] Marianne Jenssen: „Rubber Souls“. Vox Nov. 1993
[4] Kate Bush: The red shoes (Songbook). Woodford Green. International Music publications Limited. 1994. S.7ff
[5] https://www.theorie-musik.de/akkorde/sus-akkorde/ (gelesen 10.10.2018)
[6] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.231ff (Cis-Dur) und S.198f (As-Dur)
[7] „MTV Most Wanted“ mit Ray Cokes. 22. Oktober 1993
[8] Interview in Future Music mit Del Palmer: „Well red“. November 1993
[9] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Sixte_ajout%C3%A9e. (gelesen 15.11.2018)

Kommentare

Running up That Hill (A Deal With God)

Dieser Song ist einer der größten Single-Hits von Kate Bush und bis heute hat er nichts von seiner Faszination und seiner Wucht verloren. „Zu monumental für jede denkbare Kategorisierung“ – diesen Satz schrieb Ulf Kubanke [1] in einer Review zum Album „Hounds of Love“ und dies trifft ganz besonders auf diesen „Überhit“ [1] „Running up that Hill“ zu (unter Insidern unter dem Kürzel RUTH bekannt).

Er entstand im Sommer 1983 als erster Song des Albums [2] – ein hymnisch vorantreibender Titel voller Energie mit einem Grundteppich aus leisen Trommeln und einem orgelpunktartig eingesetzten Synthesizerakkord. Der Song handelt von der Unmöglichkeit, dass sich zwei Liebende wirklich verstehen können und wie verlockend es wäre, für eine kurze Zeit die Körper tauschen zu können und in die Seele des Gegenüber einzutauchen. Er ist energisch und perfekt gesungen – offenbar handelt es sich um eine sehr energiegeladene Beziehung, in der die Funken fliegen. Es ist bei jedem Wiederhören zu spüren: „Running up that hill“ ist besonders, ungewöhnlich. Hinter dem Kleid einer Hitsingle versteckt sich etwas Tiefergehendes. Ulf Urbanke fasst das sehr gut zusammen [1]: „Der Überhit „Running Up That Hill“ wartet mit einer der prägnantesten Synthie-Hooks aller Zeiten auf. Für diesen Deal mit Gott packt sie etwas Forderndes, nahezu Eiferndes in den Gesang. Das verleiht dem Song eine Intensität, die fast allen Pophits ganz und gar fehlt.“ Der Song behandelt einige der Grundthemen von Kate Bush – die Komplexität von Zweierbeziehungen, die Unterschiede zwischen Mann und Frau, die Angst vor dem Verlust, das gegenseitige Nichtverstehen.
„I am very excited about how it’s been received by people! It’s so rewarding after working for a long time to see that your work is being received with open arms. This song is very much about two people who are in love, and how the power of love is almost too big for them. It leaves them very insecure and in fear of losing each other. It’s also perhaps talking about some fundamental differences between men and women.“ [3] Im Song sinniert die Protagonistin über diese schwierige Situation und erträumt sich eine radikale und ungewöhnliche Lösung – ein Handel mit Gott, um die Plätze zu tauschen und die Perspektive des Partners zu verstehen.
„I was trying to say that, really, a man and a woman, can’t understand each other because we are a man and a woman. And if we could actually swap each others roles, if we could actually be in each others place for a while, I think we’d both be very surprised! [Laughs] And I think it would be lead to a greater understanding. And really the only way I could think it could be done was either… you know, I thought a deal with the devil, you know. And I thought, „well, no, why not a deal with God!“ You know, because in a way it’s so much more powerful the whole idea of asking God to make a deal with you.“ [4] „Deal with God“ sollte der Titel auch heißen – aber hier sah sich Kate Bush mit einem ganz anderen Problem konfrontiert. „Gott“ im Titel einer Single – religiös geprägte Länder würden das angeblich nicht im Radio spielen.
„You see, for me it is still called „Deal With God“, that was it’s title. But we were told that if we kept this title that it wouldn’t be played in any of the religious countries, Italy wouldn’t play it, France wouldn’t play it, and Australia wouldn’t play it! Ireland wouldn’t play it, and that generally we might get it blacked purely because it had „God“ in the title. Now, I couldn’t believe this, this seemed completely ridiculous to me and the title was such a part of the song’s entity. I just couldn’t understand it. But none the less, although I was very unhappy about it, I felt unless I compromised that I was going to be cutting my own throat, you know, I’d just spent two, three years making an album and we weren’t gonna get this record played on the radio, if I was stubborn. So I felt I had to be grown up about this, so we changed it to „Running Up That Hill“. But it’s always something I’ve regretted doing, I must say. And normally I always regret any compromises that I make.“ [4]

Bei diesem Problem musste also selbst eine Frau mit einem so eisernen Willen wie Kate Bush einem Kompromiss zustimmen. Man kann in jedem ihrer Worte spüren, wie wenig ihr das gefällt. So kam der Song also zu seinem Titel „Running up that hill“ und „A deal with god“ taucht nur noch als Untertitel auf.  Für mich passt der neue Titel aber auch sehr gut, weil er die Grundstimmung des Songs wiedergibt: „It’s meant to be the positivism of going somewhere. Climbing up a mountain, going up. It might be hard but you are getting there.“ [5] Bei Textzeilen wie „You never understood me, you never really tried“ kam natürlich in den Interviews die Frage nach einem autobiographischen Hintergrund auf. Wie immer bei solchen Fragen verneint das Kate Bush.
„I think everyone at some times feels misunderstood. But I can’t think of any song that I would say was truly autobiographical. There’s something of me in every song, in that I’m expressing something I’m hoping is interesting. But I don’t think they’re truly autobiographical comments in any way.“ [6] Der Beginn beschwört die Stimmung einer heidnischen Zeremonie hervor. Ein sirenenhafter Synthesizer-Klangteppich blendet auf, bildet dann einen permanenten Hintergrund, der beständig in der Art eines Orgelpunkts durchgehalten wird und nur ab und zu akzentuiert wird. Dieses Aufblenden zu Beginn ist, als ob der Zuhörer zugeschaltet oder einbezogen wird. Dazu ertönen permanente, drängelnde Trommeln und schließlich das so charakteristische Eingangssignal. Dies ist ein magischer Ritus. Diese Eingangstakte bildeten auch die musikalische Keimzelle des Songs.
„I had an idea of what I wanted to say in the song and I actually asked Del to write me a drum pattern, and he wrote this great pattern in the drum machine. So I just put the Fairlight on top of it and that was the basis of the song, with the drum, which played quite an important part. “ [4] Die Singstimme ist meist sehr energisch und durchsetzungsfähig, ist aber auch zu fast zärtlichen Tönungen fähig („It’s you and me“). Ein stimmloser Chor singt dazu und bildet einen weiteren Teil des Klangteppichs im Hintergrund. Das ganze Lied sprüht vor Energie, es reißt einen mit, ist ein energiegeladenes, entschlossenes Vorwärtsdrängen. Bei „Let’s exchange the experience, oh…“. brechen plötzlich Trommelschläge herein wie eine Eruption. Dieser Effekt wird dann mehrmals wiederholt, dies steigert das energische Vorandrängen noch. Zum Schluss übernehmen E-Gitarren-ähnliche Töne die Aufgabe der drängenden Trommeln. Die Chorus-Stimmen werden wilder und ekstatischer, sie werden auch präsenter und individualisiert. Es ist nicht mehr nur ein Klangteppich, Einzelstimmen heben sich ab. Der Klangteppich klingt zum Schluss solo einfach aus und der Schluss bildet so ein Spiegelbild des Beginns. Die Zeremonie ist zu Ende. Auch die tonale Gestaltung ist wieder sehr interessant (die folgenden Details aus [7]). Das ganze Lied über wird ein strikter 4/4-Takt durchgehalten, es gibt kein Ausweichen vor dem energischen Vorwärtsdrängen. Die Tonart ist ein  c-Moll; As-Dur-Akkorde, B-Dur-Akkorde und g-Moll-Akkorde kommen zum c-Moll-Akkord dazu. Diese vier Akkorde prägen das ganze Lied, angeordnet in den Akkordfolgen As-Dur/B-Dur/c-Moll und As-Dur/B-Dur/c-Moll/g-Moll. Auf „You. It’s you and me wont’t be unhappy“ kommt es zu einer Ausweitung, es kommen der Es-Dur-Akkord und der f-Moll-Akkord hinzu und ergeben eine neue Färbung. Hier ist die Akkordfolge As-Dur/Es-Dur/f-Moll. Diese drei Akkordfolgen aus verschränkten Dur/Moll-Parallelen (B-Dur/g-Moll, Es-Dur/c-Moll, und As-Dur/f-Moll sind jeweils Dur/Moll-Parallelen) bilden das Gerüst des Songs. Sie enden immer auf einem eher pessimistischen Moll-Akkord. Die strikte Verwendung dieser drei Akkordfolgen verstärkt das Beschwörende, intensiviert die rituelle Komponente des Songs.

Hält man sich an die Tonartencharakteristiken von Hermann Beckh [8], so sieht man, dass hier ganz weit auseinanderliegende Gefühlwelten miteinander verbunden werden. Die Protagonistin ist in ihren Gefühlen hin und her gezogen. Es-Dur und c-Moll haben einen starken, positiven, kämpferischen Charakter. C-Moll steht von allen Tonarten am festesten auf der Erde, es steht für eigene Kraft und Stärke, für Verwurzelung auf dem Boden, aber auch für die Tragik des Irdischen. Es ist die Haupttonart des Songs und drückt klar dessen kämpferischen Charakter und die Stärke der Protagonistin aus. Wie später in „The Fog“ und „Lily“ wird diese Tonart auch hier im Zusammenhang mit einer Anrufung der positiven Mächte benutzt. Es-Dur ist die Tonart der Feier, die geistige Sonne scheint hier am hellsten. „Das Schauen der Sonne um Mitternacht“ nennt das Beckh. F-Moll ist tonartlich das Düsterste, was es in der Musik überhaupt gibt. Es steht für die Todesahnung, den Todesschatten. Es symbolisiert die Nacht, in der es keine Erlösung mehr gibt, das Unerlöste, nicht mehr zu Erlösende. Die Dur-Parallele As-Dur ist dagegen das Licht in der Finsternis, es ist eine mystische Tonart. Ein Licht beginnt aufzuleuchten, wo wir bisher nur Dunkel vermuteten.
B-Bur ist halbdunkel, helldunkel, es ist eine Liebestonart, steht aber auch für feste Glaubenszuversicht. Bezeichnenderweise erklingt der B-Dur-Akkord immer zum Wort „God“ [7]. G-Moll ist im Gegensatz dazu klagend, mehr tragisch; es fehlt die Ahnung und Hoffnung auf Licht, die B-Dur erahnen lässt.

In den Akkordfolgen wird die Zerrissenheit der Situation deutlich. Die Folge As-Dur/B-Dur/c-Moll lässt zu Beginn ein Licht in der Finsternis aufleuchten (die Beziehung ist komplex und verworren) und drückt dann die feste Zuversicht in die Liebe aus (es ist verworren, aber sie lieben sich dennoch). Es folgt das Bauen auf die eigene Stärke und das Vertrauen auf die eigene Stärke (die Protagonistin will und wird die Probleme lösen). Kommt dann noch der g-Moll-Akkord als Abschluss dazu, dann verliert sich die Protagonistin dennoch in Zweifeln.
Die Akkordfolge As-Dur/Es-Dur/f-Moll zu „You. It’s you and me wont’t be unhappy“ ist zerrissener. Das aufleuchtende Licht in der Finsternis führt zur Siegeszuversicht, zum Erahnen der Sonne in der dunklen Nacht. Aber es folgt der tiefe Absturz, es ist trotzdem Nacht, die Nacht, in der es keine Erlösung gibt. Die Tonarten dieser Akkordfolge deuten an, dass die Beschwörung der Protagonistin vielleicht doch keinen Erfolg haben wird. Gott antwortet nicht in dieser Musik. Zum Glück endet der Song auf einem lang angehaltenen c-Moll-Akkord. Das Vertrauen in die eigene Stärke siegt (aber vielleicht ist die Beziehung nicht zu retten). Ich kann nicht über den Song reden, ohne zum Schluss auf das Video einzugehen. Es gehört für mich zu den schönsten Musikvideos überhaupt. Passagen aus klassischem Tanz werden mit surrealen Sequenzen gemischt, in denen Kate Bush und ihr Tanzpartner Michael Hervieu den Weg zueinander suchen durch eine Menge von maskierten Fremden. Zum Höhepunkt befinden sich sie weit von einander entfernt in einer Menge von Menschen, die jeweils das Gesicht der beiden Partner als Maske tragen. MTV hatte 1985 offenbar Schwierigkeiten mit einem so ambitionierten Video. „MTV chose not to show this video (at the time of its original release) and instead used a live performance of the song recorded at a promotional appearance on the BBC TV show Wogan. According to Paddy Bush, ‚MTV weren’t particularly interested in broadcasting videos that didn’t have synchronized lip movements in them. They liked the idea of people singing songs.’“ [9]
Dieses Ersatzvideo zählt für Kate Bush nicht. Es ist eine „TV performance that we did in England to promote the single. And I don’t do very many TV performances. It concerns me that to try and to do everything you can and put as much effort into it, and sometimes its very difficult to make things look good in TV situations. But that was a live TV and we presented it that way for the British audience. It wasn’t my intention that that clip would be shown anywhere else at all, apart from that one live performance in England. And it was something that the record company wanted to use here, and that’s why you’re seeing that. From my point of view, the expression visually that goes with that song is the film that we made that is the dance video. And the other one is really for me just a one-off TV.“ [6] Das ursprüngliche Musikvideo ist als klarer Gegenentwurf zu den damals üblichen Videos gedacht, die nach Kate Bushs Einschätzung die Möglichkeiten des Tanzes nicht ausschöpfen. „During the gap between the last and this album, I’d seen quite a few videos on television, that other people had been doing. And I felt that dance, something that we’d be working in, particulary in the earlier videos in quite a foreway, was being used quite trivially, it was being exploited: haphazard images, busy, lots of dances, without really the serious expression, and wonderful expression, that dance can give. So we felt how interesting it would be to make a very simple routine between two people, almost classic, and very simply filmed. So that’s what we tried, really, to do a serious piece of dance. [10]

Der Dreh des Videos erforderte intensives Training und eine sorgfältige Vorbereitung. „The video took eight weeks: six weeks‘ training and choreography working with Dyane Gray, and three days shoot, plus editing and various meetings.“ [11] Die surrealen Details kamen dann im Laufe der Vorbereitung hinzu. Die Frage nach dem Ursprung der Masken erläuterte Kate Bush in einem Interview: „Well that was very much a coincidence, where the director was talking about these masks and I had a film on video that we’d taped that had a section where people were wearing these photographic masks. And we just felt that it was a really interesting idea, this crowd that would suddenly sorta rush in through the dance sequence. And the idea of the crowd being the force of either the man or the woman and so the faces change from the man to the woman. And then the idea of drowning in yourself. Just sorta those kinda plays on things. [6] Herausgekommen ist ein Video, das auch heute noch beeindruckt. Ich bewundere die Tanzszenen, da ist für mich pure Schönheit, traumverlorene Emotion, zwei Personen als Einheit. Hier ist die Zerrissenheit aufgehoben. „Running up that hill“ ist ein zeitloser Klassiker, ewig jung, nicht alternd, ein Juwel. Das sehen nicht nur die eingeschworenen Fans von Kate Bush so – er dürfte auch heute noch der am meisten im Radio gespielte und am meisten gecoverte Klassiker von Kate Bush sein. Ich muss los .. muss ihn wieder hören … brauche Musik, deren Energie mich zerreißt … tschüss!     (© Achim/aHAJ)  
[1] Ulf Kubanke: Zu monumental für jede Kategorisierung. http://www.laut.de/Kate-Bush/Alben/Hounds-Of-Love-17081  (gelesen 08.09.2017)
[2] Graeme Thomson: Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.258
[3] Kate Bush: Hounds Of Love songs. KBC article Issue 18.
[4] Richard Skinner: Classic Albums interview: Hounds Of Love. Radio 1. Interview gesendet 26.01.1992.
[5] Phil McNeil: Kate Bush Isn’t Your Everyday Songwrite. Star Parts(?). Datum unbekannt.
[6] J.J. Jackson: Uneditet. MTV. November 1985
[7]  “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.142ff
[8] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.124-126 (Es-Dur/c-Moll). S.196-198 (As-Dur/f-Moll), S.245-248 (B-Dur/g-Moll)
[9] https://en.wikipedia.org/wiki/Running_Up_That_Hill  (gelesen 08.09.2017)
[10] Good Rockin Tonight. Nan Devitt(?). November. 1985
[11] Kate Bush: An Interview With Auntie Hetty. KBC article Issue 20. Kommentare

Sat In Your Lap

Sat In Your Lap ist einer der bedeutendsten Songs von Kate Bush. Er stößt die Tür zu einer neuen Welt auf. Entstanden ist der Song im Spätsommer des Jahres 1980. Zeitlich sind wir hier in der „Lücke“ zwischen den Alben Never for ever und The Dreaming. Sat In Your Lap ist das erste Zeichen des Stilwandels, der sich mit dem neuen Album dann Bahn brechen wird. Es ist notwendig, sich mit dem zu befassen, was in dieser Zeit passiert ist, um diese Entwicklung nachzuvollziehen.
Zur Entstehungsgeschichte des Albums The Dreaming findet sich eine gute Zusammenfassung in der Biographie von Graeme Thomson [1]. Kate Bush fühlte sich offenbar zunehmend eingeengt durch die Art, in der die ersten drei Alben entstanden waren. Unzufriedenheit ist auch zu spüren über die Art, wie sie früher gesungen hat, Selbstzweifel waren da. Ein grundsätzlicher Wechsel musste her, eine Weiterentwicklung, ein Abbiegen vor einer möglichen Sackgasse: „I couldn’t go on forever as the little girl with the ‚hee-hee‘ squeaky voice“ [2]. Eingeengt fühlte sie sich offenbar auch immer mehr dadurch, dass sie nicht die volle Kontrolle über ihre Musik hatte, auch dies änderte sich mit dem neuen Album [3]: „[…] and I think that perhaps the biggest influence on the last album [hier ist The Dreaming gemeint] was the fact that I was producing it so I could actually do what I wanted for the first time.“ Kate Bush befand sich also an einem aus ihrer Sicht kritischen Punkt ihrer Karriere. Alles musste sich ändern.

Einen wichtigen Anstoß gab die Zusammenarbeit mit Peter Gabriel. Kate Bush war während der Aufnahmesessions für Gabriels drittes Soloalbum dabei, sie arbeitete als Backgroundsängerin bei No Self Control und Games Without Frontiers mit. Bei diesen Sessions wurde auch der charakteristische Drum-Sound für In The Air Tonight von Phil Collins entwickelt. Kate Bush war sofort von den dabei eingesetzten technischen Innovationen und den Ergebnissen fasziniert: „This whole new world struck me with awe“ [8]. Es muss eine erregende Erfahrung gewesen sein [4]: „Seeing Peter working in the Town House Studio, especially with the engineers he had, it was the nearest thing I’d heard to real guts for a long long time. I mean, I’m not into rhythm boxes – they’re very useful to write with but I don’t think they’re good sounds for a finished record – and that was what was so exciting because the drums had so much power.“
Die Integration der neuen Sounds war für Kate Bush wie eine Initialzündung [5]: „I felt as if my writing needed some kind of shock, and I think I’ve found one for myself. The single [Sat In Your Lap] is the start, and I’m trying to be brave about the rest of it.“ Der Umgang mit diesen Rhythmusmaschinen änderte grundsätzlich ihre Herangehensweise an die Musik in der Kompositionsphase: „I’m sure lots of things that I’m trying to do won’t work, but I found that the main problem was the rhythm section. The piano, which is what I was used to writing with, is so far removed from the drums. So I tried writing with the rhythm rather than the tune.“ [5]
Diese elektrisierenden Erfahrungen führten dann zur allerdings nur kurzen Zusammenarbeit mit dem Toningenieur Hugh Padgham, der diesen Sound mit entwickelt hatte. Das erste Ergebnis war die Single „Sat in Your Lap“, die dann später auch auf dem Album erschien.
Ideen für eine neue Herangehensweise waren da, aber noch fehlte der Funke, der alles entzünden sollte. Nach dem ganzen Trubel um das Album Never For Ever befand sich Kate Bush in einem Zustand großer mentaler Erschöpfung. Es gab nur kleine Ideen, aber nichts Handfestes für ein nächstes Album. Sie verbrachte sechs Monate damit, sich zu erholen, lange zu schlafen, sich mit der Familie zu treffen [8]. Die Beschäftigung mit den neuen elektronischen Möglichkeiten brauchte bloß noch einen Auslöser, um den kreativen Prozess zu starten, der dann schließlich zum Album „The Dreaming“ führen sollte.

Dieser Auslöser kam von einer ganz unerwarteten Seite. Kate Bush besuchte ein Konzert von Stevie Wonder und dieses Konzert setzte offenbar auf einen Schlag alles frei, was sich unterbewusst gebildet hatte: „When I went to see the Stevie Wonder gig and it was incredible, it was really good. And the next night I went into our home studio and wrote the song in a couple of hours and that was it, one of the quickest songs I’ve ever written“ [9]. Dieses Konzert lässt sich genau identifizieren, da es Zeugenaussagen dazu gibt, dass Kate Bush mit Freunden als Gast dabei war [10]. Es war das Konzert am 6. September 1980 in der Wembley Arena. Der Zeitpunkt ist bemerkenswert, denn zwei Tage später wurde das Album Never For Ever veröffentlicht [13] und damit begann dann wieder die Tretmühle der Promotion. Vielleicht trug dieser Releasetermin auch mit dazu bei, dass sich Kate Bush in einer Art euphorischen Aufbruchsstimmung befand.
Sat In Your Lap ist von einem vorantreibenden Sog erfüllt, wilde Trommeln, hektisches Klavier und später hektische Bläser, so etwas wie Peitschentöne, Töne wie aus einem Stammesritual – Rastlosigkeit. Es ist ein Song ohne Innehalten. Die Gesangsstimme ist tiefer als früher, zurückgenommen, ebenfalls von Ruhelosigkeit getrieben. Manchmal gibt es fast opernhafte Töne. In einer ganz anderen Tönung Einwürfe, hoch gesungen, wie Kommentare („Some say that knowledge is something that you never have“). Anklänge an Stammesrhythmen sind hier besonders deutlich, hier zeigt sich der Einfluss der Zusammenarbeit mit Peter Gabriel und des dort entwickelten Schlagzeugsounds.
Kate Bush war sich bewusst, dass sie mit diesem Song ganz neue Wege begonnen hatte. „I was really frightened about the single for a while. I mixed the song and played it to people, and there was complete silence afterwards, or else people would say they liked it to me and perhaps go away and say what they really thought“ [5]. Aber trotz der Neuheit und den neuen Tönen – es wurde eine recht erfolgreiche Single und überbrückte so gut die Zeit zwischen den Alben. Der Song wurde am 21. Juni 1981 veröffentlicht und erreichte die Nummer 11 in den Single Charts in Großbritannien [12].
In diesem Song geht es [1] um die Erkenntnis, es geht um das Streben nach spirituellem Fortschritt. „Ist Erkenntnis etwas Angeborenes, Instinktives, Sexuelles […], oder kann man sie nur durch lebenslanges Suchen und Streben […] erlangen und selbst dabei möglicherweise versagen?“ [1]. Hier wird das Kernthema des ganzen folgenden Albums angesprochen, darum geht es, das hat Kate Bush mit diesem Song und dem Album versucht zu beantworten. Erzählt wird auch von schöpferischer Frustration, was wohl dazugehört.
In Interviews hat Kate Bush recht offen über die Bedeutung dieses Songs gesprochen. „I think it’s also about the way you try to work for something and you end up finding you’ve been working away from it rather than towards it. It’s really about the whole frustration of having to wait for things – the fact that you can’t do what you want to do now, you have to work toward it and maybe, only maybe, in five years you’ll get what you’re after. [4]
Auch die Frustration über ihre Situation zu der Zeit ist zu spüren. „For me there are so many things I do which I don’t want to – the mechanics of the industry – but I hope that through them I can get what I really want. You have to realise that, say, you can’t just be an artist and not promote“ [4].
Die musikalische Struktur des Songs [6] ist sehr vielgestaltig. Besonders auffällig ist der Wechsel der Taktarten. Die Verse („I see the people working …“) stehen in einem tänzerischen 3/4-Takt. Der Refrain „“Some say that knowledge ……“) ist dann voranschreitender 4/4-Takt, mit kurzen Einschüben von 2/4-Takt. Der Chorus („I must admit …“ ) ist wieder 3/4-Takt. Die abschließende Coda („Some say …“) beginnt wieder mit 4/4- und 2/4- Takt und geht ab „In my dome …“ and „I held a cup of wisdom“ wieder in den 3/4-Takt über. Diese Wechsel bilden für mich die Zerrissenheit auch in der musikalischen Struktur ab.
Notiert ist das mit sechs b-Vorzeichen, das scheint ein Ges-Dur zu sein. Das ist eine Tonart, die maximal weit vom vorzeichenlosen C-Dur der Klarheit entfernt ist. Die Botschaft des Songs ist ja auch gerade Unklarheit. Der Ges-Dur-Akkord dominiert den Anfang des Verses und in der Coda den Schluss. Der Des-Dur-Akkord (Subdominante von Ges-Dur) bestimmt Refrain und Chorus (also die Mitte des Songs). Dabei ist ein „F“ dabei als Zusatzton, das ist weit weg von Ges-Dur. Auch die Tonartenstruktur ist also zerrissen und bildet zwei Perspektiven ab.
Zur symbolischen Analyse der Tonarten beziehe ich mich auf Beckh [7]. Ges-Dur ist eine überaus geIstige Tonart: „Ein Übergang von der Sinneswelt in die geistige Welt, ein Übergang, der über die Schwelle führt, die Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Tagesansicht und Nachtansicht der Welt, Sinneswelt und geistige Welt voneinander trennt.“ Ges-Dur steht für „Mysterienerlebnisse“. Es ist eine Tonart der Suche nach Erkenntnis und genau darum geht es in diesem Song ja auch.

Des-Dur als Gegenpol ist geheimnisvoller. „Ein eigenartiger Abgrund zwischen Höhe und Tiefe scheint sich in dieser Tonart aufzutun.“ Des-Dur ist nicht mehr eine „Tonart des Abgrunds, sondern einer in der Tiefe des Irdischen erlebten höchsten geistigen Höhe. In alten Mysterien sprach man in diesem Sinne vom „Schauen der Sonne um Mitternacht“. Hier haben wir also eine Tonart, in der es um das Finden einer mystischen, kaum begreifbaren Erkenntnis geht. Suche nach Erkenntnis, das mystische Finden von Erkenntnis, es sind die perfekten Tonarten für das Thema des Songs.
Ursprünglich war nicht geplant, Sat In Your Lap in das Album The Dreaming aufzunehmen. Schließlich lag mehr als ein Jahr dazwischen. Aber zum Glück ließ sich Kate Bush überzeugen. „We weren’t going to put it on initially, because we thought it had been a single such a long time ago, but a lot of people used to ask me if we were putting Sat In Your Lap on the album and I’d say no, and they would say ‚Oh why not?‘ and they’d be quite disappointed. So, as the album’s completion date got nearer and nearer, I eventually relented. I re-mixed the track and we put it on. I’m so glad I did now, because it says so much about side one, with its up-tempo beat and heavy drum rhythms–it’s perfect for the opening track.“ [11]
Sat In Your Lap ist ein toller Song, vorantreibend, hypnotisch, mit sehr persönlichem Inhalt. Musikalisch stößt er das Tor zu einer neuen Welt auf. Er ist der Keim für The Dreaming und auch für Hounds of Love. Was für einen Sprung hier Kate Bush gemacht hat, das kann man wunderbar hören, wenn man zum Beispiel das auf andere Art wunderbare Babooshka unmittelbar davor hört. Ich liebe Sat In Your Lap (und auch das wirklich skurrile Video dazu). © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 223ff
[2] Robin Smith: Getting Down Under With Kate Bush. Unbekannte Quelle. 1982. (http://gaffa.org/reaching/i82_smi.html – gelesen 11.08.2023)
[3] N.N.: The New Music. 3./4. August 1985.
[4] Paul Simper: Dreamtime is over. Melody Maker, 16. Oktober 1982.
[5] John Shearlaw: The Shock of the New. Record Mirror. September 1981.
[6] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987.  S.145ff
[7] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.102ff (Ges-Dur) und S.232ff (Des-Dur)
[8] „What I Did On My Holidays“. Interview mit Ian Birch, Unbekannte Quelle. Juni 1981 (http://gaffa.org/reaching/i81_wid.html – gelesen 11.08.2023)
[9] Dreaming Debut. Radio 2, 13.09.1982
[10] https://myvintagerock.com/2015/02/02/stevie-wonder-wembley-arena-6th-september-1980/ (gelesen 11.08.2023)
[11] „The Dreaming“, Poppix, Sommer 1982
[12] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Sat_in_Your_Lap (gelesen 20.03.2024) [1

Show A Little Devotion

Snowflake

Es ist Nacht im Winter, man steht auf der Straße, die Schneeflocken fallen rings um einen herab, still und sanft, nur angestrahlt vom Licht der Straßenlaternen. Es erscheint so, als ob sie zu einem kommen. Wahrscheinlich hat jeder dann schon einmal die Arme ausgebreitet und den Kopf gehoben, in die fallenden Flocken geschaut. Für mich ist es eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen. Ich spürte die Macht der Stille und der Natur.
Was wäre, wenn man mit einer dieser Flocken reden könnte? Was wäre, wenn eine dieser Flocken wirklich auf dem Weg zu einem wäre? Genau darum geht es in „Snowflake“ und vielleicht hatte Kate Bush ähnliche Gefühle und Fragen in einem Schneetreiben wie ich.
„Snowflake“ ist ein ganz ruhig gehaltenes Lied, es ist fast eine Meditation, ein Zwiegespräch, ganz intim und persönlich. Es „fallen weiche Pianoschläge wie Eiskristalle von Himmel, im Hintergrund suggeriert ein leiser Klangteppich die der Jahreszeit angemessene Kälte“ [1]. „Neben Bushs unaufgeregtem Sprechgesang ist ihr 13-jähriger Sohn zu hören, der mit gespenstisch-schönem Knabengesang den Weg der Schneeflocke zur Erde besingt“ [1]. Der Song ist in Abschnitte geteilt, die durch unterschiedliche musikalische Motive und Melodien gekennzeichnet sind. Diese Motive sind sehr kurz, es sind eher Farbakzente. Es gibt aber eine übergeordnete Einheit durch einheitliches Tempo und Grundstimmung, in die sich diese Motive einbetten.
In der Einleitung ertönt ein Klaviermotiv, das der Melodie aus „Night scented stock“ vom Album „Never for ever“ sehr ähnlich ist. Das hat mich ziemlich verblüfft, als es mir aufgefallen ist. Diese beiden Stücke haben auf den ersten (und auch zweiten) Blick nichts miteinander zu tun. Meine Vermutung ist, dass die Beschwörung einer geheimnisvollen Nachtstimmung das verbindende Element ist.
Nach der Einleitung beginnt es mit der Schneeflocke, die etwas über ihren Ursprung erzählt („I was born …“). Dazu ertönt ein kleines Motiv als Begleitung, das wie eine Fanfare anmutet, ein „schaut her, ich bin da“. Die Schneeflocke schildert dann in einer Art Sprechgesang, was sie auf ihrem Flug sieht. Zu diesen Schilderungen ertönt im Klavier ein hin und her schwingendes Motiv, das mit einer aufsteigenden Tonkette beginnt. Es klingt tänzerisch, schwebend. Dazu erklingen im Hintergrund ganz leise andere Instrumente, die das Klavier und die Stimme wie mit einem Schimmer umgeben. Dieser Schimmer ist dunkel, eher geheimnisvoll, ohne klare Tonalität oder Melodie. Ist es das Geheimnis der Winternacht? Sind es die Klänge einer fernen Welt, die durch den Schnee gedämpft wird?
Unterbrochen wird der Gesang der Schneeflocke durch wiederholte Anrufungen durch die Protagonistin („The world is so loud ….“). Sie sind gekennzeichnet durch ein weiteres Klaviermotiv. Es ist verwandt mit dem Begleitmotiv des Sprechgesang, da es mit einer ähnlichen aufsteigenden Tonkette beginnt (Sängerin und Schneeflocke sind seelenverwandt). Es klingt wie eine Antwort auf das Sprechgesang-Begleitmotiv, es ist ruhig, besänftigend. Die Stimme dazu ist wie ein Ruf in die Dunkelheit, verlässlich und sanft, ein stimmlicher Leuchtturm für die fallende Schneeflocke. Ab und zu mischen sich leise Gitarrentöne hinein und geben eine andere Färbung.
Ich frage mich, ob die Protagonistin die Schneeflocke wirklich hören kann. Ist ihr bewusst, dass die Schneeflocke mit ihr redet und auf dem Weg zu ihr ist? Neunmal wird der Ruf wiederholt, es ist (fast) immer der gleiche Text, er geht nicht auf die Schneeflocke ein. Zudem beginnt er mit „The world is so loud“ – übertönt die Welt die leisen Töne der Schneeflocke? Ich glaube, die Protagonistin ahnt die Anwesenheit, wünscht sie sich herbei – aber mehr nicht.
Die Schilderungen der Schneeflocke über ihren Weg vom Himmel herab werden durch Passagen unterbrochen, in denen sie ihr „Wesen“ erklärt, in aufsteigenden Tonsprüngen, immer höher und höher („I am ice …“). Dazu ertönt ein neues Motiv im Klavier, eine schwingende Tonfolge, schwer zu beschreiben, wie knisternder Schnee, wie fallendes Wasser. Die Melodie der Gesangsstimme wirkt dagegen wie ein Statement, eine Wesensäußerung. Die Flocke ist Eis und Staub, sie ist aber auch Licht und Himmel. Realität und Überirdisches kommen zusammen. Die Stimme springt jeweils zu diesen Worten in höchste Höhen, kennzeichnet die Schneeflocke als ein unwirkliches, vom Himmel kommendes Wesen.
In einigen Passagen verlässt die Schneeflocke den schildernden Sprechgesang und gibt mit einer weit schwingenden Melodie Einblick in ihr Inneres („My broken hearts ….“). Ihr Fühlen wird sichtbar. Dazu ertönt kurz zu Beginn ein weiteres Klaviermotiv, das ein bisschen aufgeregt klingt. Der Text ist hier mystisch, geheimnisvoll – so wie es vielleicht auch die Natur selbst ist.
Der „Ruf“ der Protagonistin ertönt neunmal und wird unterbrochen von den Schilderungen der Annäherung der Schneeflocke, die immer kürzer werden. In der ersten Schilderung der Schneeflocke heisst es „I want you to catch me“, in der letzten dann „Be ready to catch me“. Die in der Wolke geborene Schneeflocke hat sich den Menschen ausgesucht, der sie auffangen soll. Die Natur hat ein Ziel, die Schneeflocke als Verkörperung der Natur beginnt die Kommunikation. „Im Film würde man sagen, jetzt folgt Shot auf Gegenshot, Ich-Kamera der Schneeflocke vs. Ich-Kamera des Erdenbewohners […]“ [2]. Die beiden Protagonisten kommen sich immer näher, „was im Text dadurch signalisiert wird, dass der Refrain in immer kürzeren Abständen wiederkehrt – ein Ausdruck für steigende Erwartung, „keep falling“, komm schon, komm her, diese Welt ist zu laut, rette mich“ [2].
Ganz zum Schluss sind dann nur noch die dunklen, unbestimmten Töne der Nacht aus dem Hintergrund da. Kein Klavier mehr, der Song kommt zur Ruhe, die Schneeflocke ist gelandet. All das ist eine ruhige Meditation, über neun Minuten lang. Der Song ist komplexer, als er dem Zuhörer erscheint. Verschiedene einfache Motive kennzeichnen die Situationen des Songs. Darüber liegen Sprechgesang und sich einfügende, knappe Melodien. Alles für sich einfach, aber in der Kombination dann doch komplex, eingebettet in einen geheimnisvollen, träumerischen Schimmer.
„Snowflake“ thematisiert die Kommunikation zwischen Mensch und magischer Natur. Diese magische Natur tritt mit dem Menschen über mythische Wesen in Verbindung, das ist eines der Hauptthemen des Albums „50 words for snow“. Kate Bush war von dieser in einem Interview aufgebrachten Idee sehr angetan. „I like that, that’s lovely, yeah […] Someone else observed that a lot of the creatures are mythical, for want of another word, fantastical creatures – even a snowflake, if you think of it as a living thing.“ [3].
Dieser mystische Kontext in „Snowflake“ hat auch einen religiös-mystischen Subtext, das legt eine Textzeile nahe, die die Schneeflocke singt: „It’s midnight at Christmas“. Was hier von Himmel fällt an einem Weihnachtsabend, das ist vielleicht ein Engel, vielleicht ein Gottesgeschenk. Die Schneeflocke (gesungen vom Sohn von Kate Bush) kommt herab zur Protagonistin (Kate Bush) so wie in der Weihnachtsgeschichte der Sohn Gottes zu Maria.
Ich möchte das nicht überstrapazieren, aber mir fiel eine Ähnlichkeit des „I am ice and dust and light. I am sky and here“ mit dem „Vater unser“ auf: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Die Schneeflocke kommt aus dem Himmel, das „Vater unser“ beginnt mit „Vater unser der du bist im Himmel“. Für mich antwortet die aus dem Himmel kommende Schneeflocke auf dieses Gebet und offenbart ihre Göttlichkeit. Damit schließt sich der Bogen. Eine Winternacht im Treiben der Schneeflocken ist erfüllt von der Begegnung mit der mystischen, göttlichen Natur. Wenn man die laute Welt ausblendet, dann kann man hören, wie die Natur zu einem spricht. Sie spricht zu uns selbst in der kleinsten Schneeflocke. Wir sind ein Teil davon, wir sind eins. © Achim/aHAJ

[1] Martin Leute: „Exzentrisch, irritierend, schön: Kate Bush singt über den Schnee“. https://www.laut.de/Kate-Bush/Alben/50-Words-For-Snow-71922  (gelesen 18.07.2018)
[2] Tina Manske: Was sagt eigentlich die Uhr. http://morningfog.de/?p=109. (gelesen 14.07.2018)
[3] Andy Gill: „Kate Bush: The ice queen of pop returns“. The Independent. 18.11.2011

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Snowed In At Wheeler Street

Somewhere In Between

Strange Phenomena

Sunset

sunset

Sonnenleuchtend, abendwarm, lichtglitzernd – diese Begriffe kommen mir in den Sinn. Als ich gefragt wurde, ob ich zum zehnjährigen Jubiläum des Albums “Aerial” einen Song für das ABC besprechen könnte, da fiel meine Wahl sofort auf “Sunset”. Dieser Song fasst für mich die Stimmung dieses Albums – insbesondere der zweiten Konzept-CD “A Sky of Honey” – in einem Lied zusammen. Oder ist es eher anders herum? Weitet das Album die Welt dieses Liedes aus? “Sunset” ist eine der Keimzellen des Albums: “King of the mountain”, “Sunset” und “An architect’s dream” entstanden schon sehr früh (1).
Was uns Vogelstimmen erzählen – das spielt die zentrale Rolle der sinfonischen Suite “A Sky of Honey”. Verwoben damit ist die Thematik der Darstellung von Licht und Farben. Menschen stellen Licht durch Malerei dar. Das Licht verändert sich im Ablauf eines Tages. Die Vögel singen von den Stimmungen dieses unterschiedlichen Lichts. “It’s almost as if they’re vocalising light”, (2) erläutert Kate Bush dazu und singt von den Stimmungen dieses Lichts aus Menschensicht. Nahtlos verbunden ist “Sunset” mit den beiden Songs an seiner Seite – ein sonnigwarmer Abschnitt im großen musikalischen Strom der Sky-Seite.
“If ‘King of the Mountain’ is winter, ‘Sunset’” is summer” (3). Dies ist die kürzest mögliche Charakterisierung dieses Songs. “Sunset” ist eine Beschreibung des Sonnenuntergangs in einem Meer und einem Himmel wie aus Honig. Die Musik ist jazzartig und entspannt. Mit einem ganz ungezwungenen Rhythmus beginnt es. Ich fühle mich wie am Beginn eines langen, schönen Abends nach einem harten Tag. Ein Bass zupft traumverlorene Töne, dazu das Klavier als bestimmendes Element. Die Musik ist wie ein Teppich aus hingetupften Tönen, über den sich die Stimme erhebt. Die Farben der Impressionisten erstrahlen aus der Musik. Von Van Gogh gibt es ein Bild “Weiden bei Sonnenuntergang” – so ist diese Musik, aus sich heraus glühend. Golden – dieses Lied ist ein goldenes Weizenfeld am Abend. Ein Glas Rotwein dazu und ich bin ganz woanders – das Bild einer dunklen, stilvollen Pianobar steigt in mir auf. Rot – dieses Lied ist dunkelroter Samt.
Das “It’s almost as if they’re vocalising light” ist zentraler textlicher Hintergrund (“This is a song of colour / Where sands sing in crimson, red and rust”). “Sunset” ist ein Lied des Abschieds. Das Licht muss sterben, wird aber in den Sternen weiterleben (“Every sleepy light / Must say goodbye / To the day before it dies / In a sea of honey / A sky of honey”). In einem Flamenco-Chorus, einem letzten Tanz vor der Dunkelheit, endet das Lied und eine Amsel beginnt einsam mit “Aerial Tal”. Beim Hören werde ich immer in eine Art Schwebezustand versetzt. Negative Emotionen, Stress, Lärm – all das ist auf einmal weit weg und für einige Minuten nicht mehr von Bedeutung.
Der Song ist ein wunderschön gesungenes Lied, unkonventionell und entspannt. Den folgenden beiden Charakterisierungen kann ich nur zustimmen und Besseres ist dazu auch nicht zu sagen: “Sometimes, as on the outstanding ‘Sunset’, she begins alone and softly, but soon the tempo quickens and the song becomes an experiment in forms: jazz, progressive rock, flamenco” (4) und “Sunset is one of the most beautifully written and produced songs I have ever heard in my life… jazzy… smooth jazzy… colourful and amazingly vivid across the Sky of Honey landscape.” (5)
Auffällig auf der Sky-Seite von “Aerial” ist die alleinige Verwendung von Kreuz-Tonarten. Nie bisher hat es bei Kate Bush eine solche Konzentration in der Verwendung stimmungsverwandter Tonarten gegeben. Alle Tonarten der Sky-Seite mit ihren mindestens vier Kreuzen gehören zu den warmen, hochromantischen und mystischen Tonarten, die nach Beckh (6) den Nachmittag, die Sonne, die Wärme und die Dämmerung symbolisieren. Im Folgenden verwende ich fast wörtlich die Charakteristiken der Tonarten, wie sie Beckh für die klassische Musik zusammengestellt hat. Dies klingt so fast unheimlich passend, als ob Beckh beim Schreiben seiner Worte genau an dieses Lied gedacht hätte.
“Sunset” steht in cis-Moll (7), der Sehnsuchtstonart der klassischen Musik. Es ist eine warme Tonart der Melancholie, die mit ihrer leuchtenden Schönheit in unserem Herzen die verborgenen Quellen der Sehnsucht öffnet. Einige auch rhythmisch deutlich abgesetzte Passagen des Songs (“And changes into the most beautiful iridescent blue” und “Keep us close to your heart so if the skies stay dark we may live on in comets and stars”) sind von cis-Moll nach H-Dur/Cis-Dur gerückt. H-Dur ist die Sonnenuntergangstonart. Sie ist nicht mehr ganz im Irdischen, sie enthält einen verklärten Nachglanz dieses Irdischen und damit zugleich die Vorahnung des Hinübergehens. Sie ist die ätherische, überirdische Tonart der Verklärung. Wagners Liebestoddrama “Tristan und Isolde” wird z.B. von H-Dur bestimmt. Das transzendente Cis-Dur hat auf der einen Seite ein sinnliches Element, kann ganz sinnliche Süße sein. Auf der anderen Seite steht es für das Allerhöchste, Weihevollste. Ein eigenartiger Abgrund zwischen Höhe und Tiefe scheint sich in dieser Tonart aufzutun. Es ist dies eine in den Tiefen des Irdischen erlebte höchste geistige Höhe, das “Schauen der Sonne um Mitternacht”. Auch das sonnendurchglühte E-Dur ist in “Sunset” gegenwärtig. Dies ist nach Beckh die wärmste aller Tonarten, sie steht für Herzenswärme, Liebeswärme, es ist die Tonart der Sonne.
Die Wahl der Tonarten unterstützt aufs Schönste den Inhalt des Textes und den Hintergrund aus Licht und Vogelgesang. Für mich ist es damit offensichtlich, dass Kate Bush Tonarten sehr inhaltsbezogen einsetzt. Bewusst oder unbewusst, das ist nicht zu klären. Aber genial gut, dass ist auch hier wieder festzustellen. Wärme, Sonne und Sehnsucht verschmelzen auf diese Weise in diesem Song zu einer ganz neuen Einheit.
“Sunset” ist eine fast religiös anmutende Naturbeschreibung. Vielleicht muss das auch in einer entsprechend mythisch-mysteriösen Form zusammengefasst werden: “Gegen Ende des sich im Sambarhythmus aufschwingenden “Sunset” schreibt Bush Worte in den langsam in Nachtschwärze versinkenden Himmel. Ein Bild, das ihre eigene Geschichte rückwärts erzählt. […] Für Kate Bush gibt es keine Zeit außer ihrer eigenen.” (8) (© Achim/aHAJ)

(1) Interview durch Philippe Badhorn. Rolling Stone (France). Februar 2006.
(2) Interview durch Tom Doyle. Mojo. Dezember 2005. S.76 ff.
(3) Kim Curtis: “Kate Bush Remains Reliable on New CD”. Associated Press Wire Service. 07.11.2005
(4) Jason Cowley: “Kate Bush, Aerial”. The Observer. 16.10.2005.
(5) Colin Lynch: “International online music”. dgmpublishing.com. 08.11.2005.
(6) Hermann Beckh: “Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner”. Verlag Urachhaus. Stuttgart. 1999
(7) Kate Bush: Aerial. International Music Publication. London. 2006.
(8) Oliver Tepel: „Mit Vogelstimmen reden“. Frankfurter Rundschau (Webseite), 11.11.2005

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Suspended in Gaffa

Das Album „The Dreaming“ ist voll von bemerkenswerten Songs, die die Grenzen des konventionellen Pops ausweiten. „Suspended in Gaffa“ ist da keine Ausnahme. Schon der Rhythmus ist selten in der Popmusik. Der Song ist ein beschwingter, schneller Tanz im Dreivierteltakt, der in den Strophen vom Klavier vorangetrieben wird. Der Strophentext wird von Kate Bush fast sich überschlagend schnell gesungen, das macht einen zungenbrecherischen Eindruck. Selten wird in einem Song von Kate Bush in so kurzer Zeit so viel Text untergebracht. Die Gesangsstimme ist dabei eher tief, ein typischer Chor aus Kate-Stimmen in der hohen Lage bildet dazu den Gegenpol. Vor den Chorus-Abschnitten klingen verzerrte Sätze hinein, halb gesprochen, halb gesungen (z.B. „Mother, where are the angels? I’m scared of the changes“ [10]). Im Gegensatz zu den Tanzstrophen sind die Chorus-Abschnitte stark rhythmisch betont, vorwärtsdrängend. Hier überlagert ein Marsch den schnellen Tanz und peitscht das Geschehen voran. Die Stimme von Kate Bush klingt auch in der tiefen Lage voll, rund und beherrscht.
Worum geht es in „Suspended in Gaffa“? Im Leben bemüht man sich darum, Dinge zu erreichen und meist gelingt es nicht. Bei aller Mühsal erkennt man manchmal für einen ganz kurzen Moment das, was möglich wäre. Dann ist dieser Blitz wieder vorbei und es bleibt nur die Erinnerung. Man verzweifelt an sich und möchte den Lohn am liebsten ohne Mühe haben. Ausreden und Entschuldigungen werden gesucht. Aber das ist ein Verschließen der Augen, das funktioniert nicht, man muss sich weiter anstrengen. Nur dann kann das Ergebnis erreicht werden, mit dem man zufrieden ist.

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Kate Bush war zu diesem Song sehr offen und formuliert dies so: „It’s about seeing something that you want – on any level – and not being able to get that thing unless you work hard and in the right way towards it. When I do that I become aware of so many obstacles, and then I want the thing without the work. And then when you achieve it you enter … a different level – everything will slightly change. It’s like going into a time warp which otherwise wouldn’t have existed.“ [1] Das ist der Inhalt und für Kate Bush sollte man nicht mehr hineindeuten und nicht überinterpretieren. „But when you explain it […] it doesn’t sound like anything. The idea is much more valuable within the song than it is in my telling you about it. When you analyse it, it seems silly.“ [1]
Dieses Streben nach Vollkommenheit scheint tief aus der Seele von Kate Bush zu kommen. Offenbar musste sie dieses Gefühl aus sich herauslassen. Es ist einer der ganz wenigen Songs (der einzige Song?), für den Kate Bush einen autobiografischen Hintergrund einräumt: „Suspended in Gaffa is reasonably autobiographical, which most of my songs aren’t.“ [1] All dies wird in einer bilderreichen Sprache gesungen, voll mit Metaphern, auch Kindheitserinnerungen blitzen auf, der Hof, die Scheune, der Garten („Out in the garden there‘s half of a heaven“) [4].
Das Wort „Gaffa“ bedarf einer Erklärung. „Gaffa Tape“ ist ein viel verwendetes Klebeband. Wenn man sich darin mit den Füßen verheddert, dann ist man auch real in einer Situation, in der man nicht vorankommt. Es ist selten, dass Kate Bush ihre Bilder so offen erklärt. „‚Gaffa‘ is Gaffa Tape. It is thick industrial tape, mainly used for taping down and tidying up the millions of leads, and particularly useful in concert situations. Suspended in Gaffa is trying to simulate being trapped in a kind of web: everything is in slow motion, and the person feels like they’re tied up. They can’t move.“ [7]
Die Situation, dass man manchmal einen Blick auf das Vollkommene erhascht, es aber dann nie wieder sieht, findet sich in einer geheimnisvollen Textzeile wieder, die sich nur in Transkriptionen des Songs findet: „I caught a glimpse of god, all shining and bright…“ [10]. Auch dies erklärt Kate Bush freimütig (offenbar war es ihr wichtig, dass dieser Song so verstanden wird, wie sie ihn gemeint hatte): „I remember when I was at school, I was always told about purgatory as being the place that you went to and you saw a glimpse of God and then he went away and you never ever saw him again and you were in the most tremendous pain for the rest of eternity because you couldn’t ever see him again. And it’s a really heavy image, you know, especially for a child. And I think in many ways it’s a very similar thing, trying to get that back that thing that you really want to see again.“ [2]

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Für mich ist in diesem Song das Herz von Kate Bush übergelaufen, eine Emotion musste heraus. Die Inspiration kam sehr schnell, alles war auf einmal da, es gab kein langes Nachdenken und Überarbeiten. „When I wrote this track the words came at the same time, and this is one of the few songs where the lyrics were complete at such an early stage.“ [3] Den zungenbrecherisch schnell gesungenen Text hatte ich schon erwähnt, auch für Kate Bush war er eine Herausforderung. „Whenever I’ve sung this song I’ve hoped that my breath would hold out for the first few phrases, as there is no gap to breathe in.“ [3]
Der Song ist in einem reinen 3/4-Takt gehalten. Die Tonarten sind eine Mischung aus a-Moll und C-Dur, dabei stehen die Strophen eher in a-Moll, die Chorus-Passagen eher C-Dur [5]. Diese Tonarten unterstützen die Aussage des Textes, wenn man sich an den von Beckh gegebenen Bedeutungen orientiert. A-Moll ist eine schwermütige, poetische Tonart, es ist die Sehnsuchtstonart [6]. C-Dur steht für klares Licht, für nüchterne Klarheit [6]. Dass passt gut dazu, dass in den Strophen der Zweifel überwiegt, während im Chorus doch mehr entschlossene Klarheit über die Situation besteht.
„Suspended in Gaffa“ wurde als dritte Single aus dem Album ausgekoppelt, aber nur auf dem europäischen Kontinent und in Australien veröffentlicht (in Großbritannien fiel die Wahl auf „There goes a tenner“) [9]. Ein großer Chartserfolg war es nicht. Das Video zum Song wurde schnell aufgenommen. „The video of Suspended in Gaffa was to be done as simply and quickly as possible; as always with very little time to complete it in, the simpler the better. I saw it as being the return to simplicity, a light-hearted dance routine, no extras, no complicated special effects.“ [8] Es ist trotz dieser Einfachheit reizvoll und enthält sogar einen Auftritt von Kate Bushs Mutter [8].
„Suspended in Gaffa“ ist eine persönliches Stück, ein Blick in das Innere von Kate Bush. Ein fröhlicher Tanz gewährt einen Einblick. Der Song funktioniert sehr gut ohne Kenntnis dieses Hintergrunds, aber mit dieser Kenntnis gewinnt er noch erheblich dazu. Auch ein Tanzlied kann eben sehr tiefsinnig sein. © Achim/aHAJ

[1] Richard Cook: „My music sophisticated? I’d rather you said that than turdlike!“. New Musical Express Oktober 1982
[2] BBC Radio 1 Interview durch vermutlich David Jensen, Zeitpunkt unklar
3] Kate Bush: „About the dreaming“. KBC Ausgabe 12.
[4] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.21
[5] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.152ff
[6] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.71f (C-Dur) und S.78f (a-Moll)
[7] Kate Bush. KBC Ausgabe 16. Interview
[8] Kate Bush. KBC Ausgabe 13. Sommer 1983.
[9] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Suspended_in_Gaffa (gelesen 26.11.2019)
[10] https://genius.com/Kate-bush-suspended-in-gaffa-lyrics (gelesen 26.11.2019)

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Symphony in Blue

Tawny Moon

The Big Sky

„The big sky“ wurde als vierte Single aus dem Album ‚Hounds of Love‘ ausgekoppelt und erreichte Platz 37 in Großbritannien [1]. Verdient hätte er eine höhere Platzierung, denn er zeichnet sich durch unwiderstehlichen Schwung und Drive aus. Graeme Thomson nennt ihn „das ungezogene Kind des Albums“ [2], eine wunderbar treffende Bezeichnung. Auch für Kate Bush stach der Song aus dem Album heraus: „The Big Sky is an example of a real freak on the album, in that it consistently changed until we got there in the end.“ [7] „The big Sky“ ist ungestüm. Von Beginn an wird der Zuhörer mitten ins Geschehen geworfen und von dieser vorwärtstreibenden Rhythmusmaschine mitgerissen. Es ist einer dieser Songs von Kate Bush, die sich in ein fast orgiastisches Klangchaos hineinsteigern und die kein Ende finden können. Folgerichtig wird zum Schluss ausgeblendet. Für Graeme Thomson ist es ein fast perfekter Popsong, er „verbindet betörende kindliche Unschuld – sozusagen das klingende Äquivalent eines großen Buntstiftgemäldes – mit einer unterschwelligen Angst vor drohender Gefahr in Gestalt einer Sintflut (‚Build me an ark“).“ [2] In der Maxi-Version wird diese „hippie-artige Stimmung“ [2] von Kate Bush noch auf die Spitze getrieben. In die Mitte des Songs ist eine Art „Wolkenvergleichswettbewerb („That cloud looks like …“) mit Freunden und Familie und albernen Stimmen a la Monty Python“ [2] eingeschoben.

Das Kindlich-Unschuldige hat seinen Ursprung in der Jugend von Kate Bush, als sie stundenlang in den Himmel geschaut hatte, um die sich ändernden Formationen der Wolken zu beobachten (wie es fast alle Kinder gern tun). „I used to do it a lot when I was a kid, we’d go out somewhere and sit up and look at the sky. And if you watch the clouds long enough, they take on different shapes, you can see dinosaurs in them, or castles.“ [3] Als Erwachsene verliert man diesen unbefangenen Blick: „I think we forget these pleasures as adults. We don’t get as much time to enjoy those kinds of things, or think about them; we feel silly about what we used to do naturally. [8] Diese zwei Standpunkte bilden die Basis, auf der sich die Geschichte entwickelt. 
Während der Komposition wohnte Kate Bush auf dem Land. Aus ihrem Arbeitszimmer hatte sie freien Blick in die Landschaft. „And at the time I was writing this album, we were living in the country and my keyboards and stuff were in this room overlooking a valley and I’d sit and watch the clouds rolling up the hill towards me. And there is a lot of weather on this album. The countryside was a big inspiration at this time, and it’s always changing, it’s a very different perspective from living in the city, sometimes you hardly see the sky above the buildings at all.“ [3] Die Kompostion des Songs gestaltete sich überraschend schwierig. Die Endfassung war „Lichtjahre von der ursprünglichen Demoversion entfernt“ [2]. Kate Bush beschreibt das so: „‚Big Sky’ was very difficult to write. I knew what I wanted to finish up with, but I didn’t seem to be able to get there! We had three different versions and eventually it just kind of turned into what it did, thank goodness.“ [3]
Offenbar bestand die Hauptschwierigkeit darin, die beste Form für den Inhalt zu finden. „It was just a matter of trying to pin it down. Because it’s not often that I’ve written a song like that: when you come up with something that can literally take you to so many different tangents, so many different forms of the same song, that you just end up not knowing where you are with it. And, um… I just had to pin it down eventually, and that was a very strange beast.“ [7] Als das dann geschafft war, musste noch die richtige Stimmung für den Gesang gefunden werden. Die Perfektionistin Kate Bush griff dabei zu allen Mitteln: „Well, the hardest thing is sort of being psyched up in the right way to do the vocal with the right emotional feeling. And the hardest thing for me is to be able to feel relaxed enough to be uninhibited. So sometimes I do get just a little drunk, and at other times I like to do them with Del, because I feel much more relaxed than if there’s an outside engineer there. I mean, I do become quite sensitive when I start singing. […] I might be getting drunk on that one — the ad libs on the end, that was where I had to get drunk.“ [6]

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Ich mag diese Aussage, weil sie die angebliche Perfektionistin in einem ganz anderen Licht zeigt. Manchmal benötigt ein Song eben ganz viel Spontanität, um zu wirken. Auch was sie in der Schlusspassage gesungen hat und wie sie es gesungen hat – es war spontan (ad libitum). Es ist eine Seite, die man von Kate Bush als außenstehende Person nicht kennt, die aber ihre musikalischen Mitstreiter oft in Erstaunen versetzt. Del Palmer gibt da freimütig Auskunft. „Yeah, but what so many people don’t realize is that Kate is an amazing ad libber. The Big Sky is a really good example, that whole end section is just ad lib all the way through. I remember on the third album, the song The Wedding List, I can remember going in there and the engineer saying to me, ‚Man! You should hear what she’s doing here!‘ I mean, they took about six or seven tracks of Kate ad libbing and you could have used any one of them, they were all just amazing. And people don’t generally think of Kate as someone who does a lot of ad libbing, they think of her as being totally produced with everything completely worked out and contrived. But that’s by no means the case.“ [6]
Musikalisch ist der Song recht einfach gehalten [4]. Es ist ein reiner, tanzbarer 4/4-Takt, die Tonart ist ein F-Dur, der d-Moll-Akkord (die Mollparallele von F-Dur) spielt eine wichtige Rolle. F-Dur ist nach Beckh [5] die Naturtonart, sie ist anmutig, poetisch. Es ist zugleich die fromme, religiöse Tonart. Sie erhebt sich über die Schwere des Irdischen. Gleichzeitig ist sie aber auch voll Humor, es ist die humoristische Tonart. Natur, Poesie, Humor, das passt zum vordergründigen Eindruck des Songs. Gibt es auch Frommes, Religiöses? D-Moll ist nach Beckh [5] die Grabestonart, es ist eine Tonart des Todes. Wie passt dies zusammen? Wie so oft bei Kate Bush verbirgt sich unter einer leichten, unschuldigen Oberfläche ein Abgrund. Der Text handelt von einer (kindlichen?) Person, die in die Wolken schaut und die Veränderungen der Wolken bestaunt. Offenbar ist das alles ganz unschuldig. Das F-Dur deutet darauf hin. Aber kündet der Song nicht von einer Katastrophe, einer Art Sintflut? Im Text finden sich Zeilen wie „This cloud, this cloud / Says „Noah / Come on, build me an Ark / And if you’re coming, jump… / ‚Cause we’re leaving with the big sky“.

Damit hätten wir auch die Tonartbedeutungen „religiöses F-Dur“ und „d-Moll als Todestonart“ erfasst. Ich sehe das so, dass die Protagonistin eine Katastrophe kommen sieht und auf das rettende Schiff/Luftschiff wartet. Und in der Tat – Kate Bush unterstützt in einer beiläufigen Bemerkung diese Deutung: „The song is also suggesting the coming of the next flood — how perhaps the „fools on the hills“ will be the wise ones.“ [8] Nur die Unschuldigen haben einen Blick für das Unheil. Die „Normalen“ sehen nichts, sie schauen in die falsche Richtung. Die ersten Zeilen des Songs sagen das ganz deutlich: „They look down / At the ground / Missing / But I never go in now / I’m looking at the big sky“. Und wie so oft, die Unschuldigen (Narren) finden kein Gehör: „You never understood me / You never really tried“. Die ersten Zeilen des Songs klären die Sache, nüchtern wie eine Tatsachenbeschreibung. Kommt die Rettung aus den Wolken? Kommen Aliens mit der Arche Noah, um zu retten? Im Video zum Song tritt Kate Bush in einem silbernen Anzug auf, der an eine Astronautin erinnert. Das Publikum schwenkt Fahnen wie zu einer Begrüßung. Ganz am Schluss sind in diesem Begrüßungskommitee zwei Giraffen zu sehen – wollen die mit auf die Arche? Dieses Video (Kate Bush führte selbst Regie [2]) erinnert zum Schluss an den Filmmitschnitt eines Begrüßungskonzerts. Zu Beginn sieht man Kate Bush, wie sie auf den Dächern in den Himmel schaut, mit Ferngläsern Ausschau hält. Offenbar ist am Schluss die Rettung in der Ferne zu sehen.
Wie fast immer war Kate Bush mit dem Video nicht ganz zufrieden: „It is very like making early albums: I feel a bit disappointed with the results, not having enough rehearsal, a big enough budget, etc., etc., but the shoots were so much fun.“ [9] Ich mag das Video sehr, es hat Schwung und Witz, es ist lebendig, es weckt den Wunsch nach Liveauftritten. Zur Darstellung der Massenszenen nahmen Mitglieder des Kate Bush Fanclubs teil, so war es fast wie ein richtiges Konzert und alle hatten offenbar viel Spaß. „It’s such a good feeling to work with a big group of people. I seem to like working with such crowds. […] Besides a large number of performers to fill a stage and give the effect of a live concert, we needed an avenue of people, from the Wright brothers to two astronauts, to simulate aviation history. The Wright brothers looked remarkably like Dave Cross and Peter FitzGerald-Morris, and one of the astronauts looked so like Jay… We also needed a large, enthusiastic crowd, so we asked Dave Cross to organise some members of the Club, and two hundred beautifully behaved people arrived on the day of the shoot. It was very moving, they filled us all up with energy — It made it feel like a real concert.“ [9]
Wie so oft verstecken sich bei Kate Bush unter der Oberfläche tiefe Gedanken. Hier ist für mich dies besonders drastisch, man muss schon genau hinschauen. Ein dahinrasender Popsong erzählt lapidar davon, dass wir die Katastrophe nicht kommen sehen oder nicht sehen wollen. Das ist in der heutigen Zeit aktueller denn je. © Achim/aHAJ

[1] https://en.m.wikipedia.org/wiki/The_Big_Sky_(song) (gelesen 19.07.2020)
[2] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.268f und S.345
[3] „Classic Albums interview: Hounds Of Love“ mit Richard Skinner. Radio 1. 26.01.1992
[4] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.64
[5] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.149ff
[6] Interview von Peter Swales mit Kate Bush und Del Palmer. Musician (unedited). Herbst 1985.
[7] Interview mit Tony Myatt. November 1985 [8] Kate Bush: „Hounds Of Love songs“. KBC Ausgabe 18.
[9] Kate Bush: „An Interview With Auntie Hetty“. KBC Ausgabe 20.

The Confrontation

The Dreaming

The Empty Bullring

Der Song „The empty Bullring“ wurde am 14. April 1980 als B-Seite der Single „Breathing“ veröffentlicht, der ersten Singleauskopplung des Albums „Never for ever“ [1]. Es war das erste Mal, dass Kate Bush als B-Seite einen Song veröffentlichte, der nicht auf einem Album vertreten war. Für einen Nicht-Album-Song ist er gut gelungen, er ist auf keinen Fall ein Füllsel. Kate Bush und nur ein Klavier, ich mag diese Kombination. „The empty Bullring“ erinnert an Songs auf den beiden früheren Alben. Ich musste beim Hören an „Oh to be in Love“ denken, ohne Begleitung durch eine Band. Die Klavierbegleitung ist bei „The empty Bullring“ allerdings verspielter, verzierter.

Der Song wurde wahrscheinlich schon einige Zeit vor 1980 und damit vor der Arbeit am Album „Never for ever“ komponiert. Darauf deutet eine Aussage von Kate Bush selbst hin: „[The empty Bullring] is a song that I first had ideas for quite a few years ago.“ [2] Im Song geht es wie so oft bei Kate Bush um schwierige, etwas „verdrehte“ Beziehungen. Die Protagonistin ist in eine Person verliebt, die von einer sinnlosen (sinnlos gewordenen) Tätigkeit besessen ist. Kate Bush beschreibt diesen Kern des Songs so: „It is really about someone who is in love with someone who is obsessed with something that is pretty futile. They can’t get the person to accept the fact that it is a futile obsession.“ [2]
Diese Idee wird in einer Geschichte um einen Matador umgesetzt [2]. Der Matador wurde so schwer bei einem Kampf verletzt, dass er seitdem seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Aber in der Nacht klettert er aus dem Fenster, verlässt die Protagonistin, geht in die dann leere Stierkampfarena. Er kämpft gegen einen Stier, der nicht da ist. Er lässt seine Partnerin zurück und taucht immer wieder in eine längst vergangene Zeit ein. Er kann sich nicht lösen, er ist besessen. Er hat das verloren, wofür er gelebt hat: „The throw of the Rose / It’s all you lived for / But you’ve lost it all“ [3]. Für die Beziehung habe ich nicht viel Hoffnung.
Geschildert wird dies aus Sicht der Frau, die sich zurückgelassen fühlt: „leaving me here / Like Tamlain in her Tower“ [3]. Mit Tamlain verweist Kate Bush dabei auf ein Mädchen in einer traditionellen Märchengeschichte, das in einem Elfenbeinturm eingesperrt ist: „Tamlain is a girl in a traditional fairy story, who is locked up in an ivory tower.“ [2]. Die Geschichte bekommt dadurch einen märchenhaften Hauch, der einsame Matador in der Nacht, der Kampf gegen die Gespenster der Vergangenheit, die eingeschlossene, zurückgelassene Prinzessin.
Die Tonart ist offenbar ein C-Dur, kristallklar und nüchtern [3]. Die Protagonistin schildert die Besessenheit als Beobachterin. Illusionen macht sie sich nicht. In der Melodie kommen große Tonsprünge vor, die weit über eine Oktave hinausgehen. Die Gesangslinie ist oft stark verziert. Die Merkwürdigkeit der Geschichte – aber auch die Zuneigung der Protagonistin – zeigt sich im Gesang und der Begleitung, die nüchterne Schilderung in der Tonart. In solche Kleinigkeiten zeigt sich die Präzision, mit der Kate Bush komponiert und Emotionen vermittelt.
Ich mag an dem Song besonders, dass Kate Bushs junge Stimme so gut zur Geltung kommt. Die Aufnahme ist unmittelbar und direkt, man kann die Sängerin fast atmen hören. Es klingt so fast wie live. „The empty Bullting“ ist kurz, aber schön. Auch auf den früheren Alben hätte er sich gut gemacht. Ich frage mich, wie viele von diesen kleinen Köstlichkeiten Kate Bush noch in ihrem Archiv hat, die sie einfach nicht mehr auf einem Album unterbringen konnte. © Achim/aHAJ

[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Breathing_(Kate_Bush_song) (gelesen 23.05.2020)
[2] Kate Bush. KBC Ausgabe 14. „Dear Friends“ und Interview
[3] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.32 und 83

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The Fog

Wenn Kate Bush in einem Lied Beziehungen direkt thematisiert, dann geht es nicht einfach zu. Romantische Liebe, Herzschmerz und Tralala sind nicht ihre Sache. Beziehungen sind bei ihr komplex und wer sich hineinbegibt, der betritt ein geheimnisvolles Terrain. Zwei Personen lassen sich aufeinander ein, müssen neu lernen und insbesondere zu Beginn ist die Furcht groß, sich zu verlieren, die andere Person zu verlieren. Wie schafft man es, diese Furcht nicht zuzulassen und den nötigen Freiraum zu geben? Diese Thematik wird durch „The Fog“ beleuchtet. Diese Furcht vor der Ungewissheit und der unbekannten Zukunft ist für Kate Bush eine ganz natürliche Reaktion, die man in den Griff bekommen kann. „Again, I think it’s such a human condition, where we actually, a lot of the time, have such fear of things actually there’s no need to be frightened of at all. It’s all in our heads, this big kind of trap — you know, that actually it’s not always as terrifying as we think. Again, you know, it’s meant to be saying ‚OK, so it can be rough but there must be a way out — it’s all right!’“ [1] Die Protagonistin des Songs befindet sich gerade in dieser archetypischen Situation. Kate Bush illustriert die Gefühle zwischen Furcht und Euphorie mit Bildern, die wegen ihrer Eindrücklichkeit im Gedächtnis bleiben. Wie so oft haben die Bilder mit Wasser zu tun. Wasser ist ja DAS zentrale Bilderthema bei Kate Bush, wie viele ihrer Songs beweisen. Die Situation in einer Beziehung wird in „The Fog“ damit verglichen Schwimmen zu lernen. Schwimmen lernen – diese Erfahrung hatte man schon einmal in der Kindheit, als einem das der Vater beigebracht hat. Es brauchte Mut und Vertrauen. Kate Bush spricht in einem Interview auch von der Furcht vor dem Ertrinken – das ist ein Wiederaufscheinen der Welt von „The ninth wave“.  Die Erinnerung an all das leuchtet auf und bringt wie ein Blitz in düsterem Himmel Licht in eine aktuelle Situation. Kate Bush hat diese Thematik in Interviews offen erläutert. „It’s meant to be the idea of a big expanse of water, and being in a relationship now and flashing back to being a child being taught how to swim, and using these two situations as the idea of learning to let go. When I was a child, my father used to take me out into the water, and he’d hold me by my hands and then let go and say ‚OK, now come on, you swim to me‘ As he’d say this, he’d be walking backwards so the gap would be getting bigger and bigger, and then I’d go. I thought that was such an interesting situation where you’re scared because you think you’re going to drown, but you know you won’t because your father won’t let you drown, and the same for him, he’s kind of letting go, he’s letting the child be alone in this situation. Everyone’s learning and hopefully growing and the idea that the relationship is to be in this again, back there swimming and being taught to swim, but not by your father but by your partner, and the idea that it’s OK because you are grown up now so you don’t have to be frightened, because all you have to do is put your feet down and the bottom’s there, the water isn’t so deep that you’ll drown. You put your feet down, you can stand up and it’s only waist height. Look! What’s the problem, what are you worried about?“  [1]

In „The Fog“ erinnert sich Kate daran, wie ihr Vater ihr das Schwimmen beigebracht hat. Auf „Aerial“ zeigt sie sich mit ihrem Sohn unter Wasser.

Der Song beginnt damit, dass sich die Protagonistin versichert, dass sie nun erwachsen ist. „You see, I’m all grown up now.“  Eine Erinnerung kommt herein, an die Kindheit. Die Stimme des Vaters ertönt, der dies ähnlich früher schon gesagt hat: „Just put your feet down child, ‚Cause you’re all grown up now.“. Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich in dieser Vergewisserung, dass man kein Kind mehr ist und keine Angst mehr haben muss. Erwachsen werden, Beziehungen eingehen – das ist so wie damals, wie das Schwimmen lernen.  Diese Einleitung ist ruhig, es ist ein zarter und sparsam instrumentierter Beginn, von Trommeln und irischen Flöten grundiert. Irische Musik, das  ist ebenfalls ein Blick in die Vergangenheit. Kate Bush hat irische Wurzeln, diese Musik erweckt das Gefühl von Heimat und Kindheit, von Kate Bush in mehreren Songs ähnlich benutzt. Kate Bush lässt die Stimme des Vaters von ihrem eigenen Vater sprechen, was den Bezug zur Kindheit verstärkt und das Geschilderte autobiographischer und noch realer werden lässt. „I love using bits of dialogue in music as well. We haven’t done too much of that on this album, but I have used my parents and my family and friends before to speak various passages. Obviously in this song, because it was within the context of a father teaching a child to swim, I thought it was — who else could have done it? Who else?“  [2] Die erste Strophe („Just like a photograph […]“) setzt ganz ruhig ein, die Stimme ist klar und eher hoch. Heimatlich und warm ist die Melodie, die Stimmung ist die von Vertrauen und Geborgenheit. Die Protagonistin ist nah bei sich und ihrer Beziehung. Mit „You slip into the fog“ aber kommen auf einmal die oben angesprochenen Gefühle der Angst hervor. Wird man das schaffen? In einer orchestralen Überleitung rollen sich auftürmende Orchesterwellen herein, eine Wand aus Wellen oder Nebel, immer mächtiger, bedrohlich, Angst auslösend. Leuchtend darüber schwebt eine Solovioline (von Nigel Kennedy gespielt), dazu kommt dann tiefer ein Solocello. Bei diesem Paar von Soloinstrumenten frage ich mich, ob dies das Paar ist, um das es in diesem Song geht. Der Nebel ist ein Symbol für Irrtum, Ungewissheit, Unbewusstheit, Verlorenheit und Einsamkeit, aber auch für den Übergang von einem Zustand zum anderen und auch die Grauzone zwischen Realität und Irrealität bzw. den Zustand des Vagen und Fantastischen [3]. Niemand weiß, was sich im Nebel verbirgt und wohin der Weg führt. In den Märchen Mitteleuropas steht er häufig für die Ungewissheit der Menschen gegenüber dem Kommenden und Jenseitigen, die nur durch Licht (Erleuchtung) durchbrochen werden kann [3]. Diese orchestrale Stelle war die Keimzelle des Songs. „That started at the Fairlight. We got these big chords of strings, and put this line over the top, and then I got this idea of these words – slipping into the fog. I thought wouldn’t it be interesting to sort of really visualize that in a piece of music, with all these strings coming in that would actually be the fog. So I wrote a bit of music that went on the front of what I’d done, and extended it backwards with this bit on the front that was very simple and straightforward, but then went into the big orchestral bit, to get the sense of fog coming in.“  [4]

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Die musikalische Struktur wurde von hier aus weiter entfaltet. „Then we put a drummer on, and Nigel Kennedy, the violinist, came in and replaced the Fairlight violin, which changed the nature of it. He’s great to work with – such a great musician. The times we work together we sort of write together. I’ll say something like, ‚what about doing something a bit like Vaughan Williams?‘, and he’ll know the whole repertoire, and he’ll pick something, and maybe I’ll change something. By doing that we came up with this different musical section that hadn’t been on the Fairlight.“  [4] Die Geschichte selbst entstand dann um diese musikalische Keimzelle herum. „So when I got all this down it seemed to make sense story-wise. This new section became like a flashback area. And then I got the lyrics together about slipping into the fog, and relationships, trying to let go of people.“ [4] Die bedrohliche Nebelwand bleibt bis zum Schluss des Songs präsent und erdrückt fast die Stimme der Protagonistin. Das ist kein gemeinsames Musizieren zwischen Stimme und Begleitung, das ist ein Kampf mit einer bedrohlichen Macht, das ist eine Überwältigung durch bange Gefühle. Ab „This love was big enough for the both of us“ ist die Singstimme zudem tiefer als zu Beginn des Songs, sie hebt sich weniger ab vom Hintergrund. Hier ist noch mehr das Gefühl da, hinter Nebel zu verschwinden. Die Stimme des Vaters wird wieder in Erinnerung gerufen in diesem Chaos mit „He said: […]“, aber auch das ist viel leiser als zu Beginn. Immer heftiger branden die Orchesterwellen heran, dazu erklingt die Solovioline. Die Stimme verschwimmt fast hinter der Nebelwand und der Hörer verliert ebenfalls beinahe die Orientierung. Meeresvögel mischen sich in den Hintergrund. Diese Stimmung war eine bewusste Entscheidung, die sich im Verlauf des Kompositionsprozesses immer weiter konkretisierte. „It sounded great with the Fairlight holding it together, but it just didn’t have the sense of dimension I wanted. So we got hold of Michael Kamen, who orchestrated some of the last album, and we said we wanted this bit here with waves and flashbacks. He’s really into this because he’s always writing music for films, and he loves the idea of visual imagery. So we put his orchestra in on top of the Fairlight. Again a very complicated process, and he was actually the last thing to go on. I don’t know how anything comes out as one song, because sometimes it’s such a bizarre process. It does seem to work together somehow.“ [4] Zum Schluss des Songs ist wieder die höhere Stimme da, verträumt und kindlich vertrauend wie zu Beginn – die Orchesterwellen hören auf, die innere Ruhe ist wieder hergestellt. Auch die Harmonik des Liedes ist interessant. Es beginnt in c-Moll, kann sich dann aber nicht richtig entscheiden. Beim zweiten „Just put your feet down child“ beginnt ein Wechsel zur Paralleltonart Es-Dur. Dieses Es-Dur gewinnt am Schluss immer mehr die Oberhand [5]. Beide Tonarten stehen für die Wiederaufwärtswendung zum Lichte. Beide haben einen starken, positiven, kämpferischen Charakter. Es-Dur ist die „Freude an der Wiedergeburt des Lichts“, c-Moll diejenige Tonart, die am festesten auf dem Boden, am stärksten auf der Erde steht, ein Zeichen eigener Kraft und Stärke [6]. Auch in der Harmonik spiegelt sich also dieser Konflikt zwischen Grundvertrauen (in den Vater, c-Moll) und dem sich Hindurchkämpfen (Es-Dur) wieder. Es stellt sich unwillkürlich die Frage, ob und wie weit das Lied autobiographisch ist. Die Antwort von Kate Bush dazu ist wie so oft ehrlich, aber ohne zu viel über die Tiefen zu verraten. „Yes, it does, doesn’t it? Have you ever watched Woody Allen being interviewed? Obviously his films are very personal and when the interviewer asks him the ‚Has this happened to you then?‘ question, he’s all… .Then he’ll say, Uh, well, no, I’m just acting out a role. It’s ironic, but it’s much easier to speak about very personal things to lots of people through a song, a poem or a film than it is to confront the world with them through someone asking questions. Maybe you worry because it’s going to be indirectly reported.“ [7] War eine zusätzliche Inspirationsquelle der Film „The Fog“ von John Carpenter? Allein schon die Namensgleichheit beider Titel könnte darauf hinweisen. Im Film hüllt ein unheimlicher und bedrohlicher Nebel eine kleine Stadt ein und die darin befindlichen Geister rächen sich an den Bewohnern für ein Verbrechen aus der Vergangenheit [8]. Wenn ja, dann hat das Unheimliche des Nebels Eingang in den Song gefunden. Auch das Radio („Just like a station on the radio, I pick you up.“) könnte ein Echo aus dem Film sein, in dem nämlich eine Radiomoderatorin, die allein von einem Leuchtturm aus auf Sendung ist, die breite und seltsam leuchtende Nebelbank auf die Stadt zukommen sieht und die Bewohner warnt [8]. Es gibt aber auch gravierende Unterschiede. Im Song ist die Vergangenheit positiv, im Film negativ. Die Inspiration war also wohl – wenn vorhanden – eher gering und auf die Atmosphäre bezogen. Ein gutes Fazit zu „The Fog“ zieht Grame Thomson und ich möchte mich dem anschließen: „Ein Song über den Mut, den es braucht, das sichere Nest zu verlassen und allein in tiefes Wasser zu schwimmen, und er findet Zuversicht in der Tatsache, dass die Vorstellung, sich vom sicheren Grund abzustoßen, oft viel schlimmer ist, als das Erlebnis, wenn man es wagt.“ [9]  © Achim/aHAJ  
[1] Roger Scott: Radio One Interview. 14.10.1989
[2] N.N. – Interview  WFNX Boston. Herbst 1989
[3] http://www.symbolonline.de/index.php?title=Nebel (gelesen 16.03.2017)
[4] Tony Horkins: What Katie Did Next. International Musician. 12/1989
[5] Kate Bush: Songbook „The sensual world“. 1990. London. EMI Musiv Publishing Ltd. S.15ff
[6] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.123 – 126
[7] Phil Sutcliffe: Iron Maiden. Q. 11/1989
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/The_Fog_%E2%80%93_Nebel_des_Grauens_%281980%29 (gelesen 13.03.2017)
[9] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.303
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The Infant Kiss

Gäbe es einen Wettbewerb für den doppelbödigsten Song von Kate Bush – meine Wahl würde auf “The infant kiss” fallen. Kein anderer Song spielt so stark mit den Erwartungen des Hörers und zieht einem so subtil den Boden unter den Füßen weg. Die erste Ebene: Ein zärtliches Liebeslied, im Rahmen üblicher Popsongs. So klingt es. Die zweite Ebene: Die konventionelle Erwartung “Frau liebt Mann” wird aber sofort nach den ersten Zeilen auf den Kopf gestellt. Eine erwachsene, junge Frau (offenbar ein Kindermädchen, für die Betreuung eines Schuljungen zuständig) fühlt sich von diesem kleinen Jungen sexuell angezogen. Sie fühlt diese Anziehung ganz stark, versucht ihr zu widerstehen, weiß um das Unnormale (“But things are not right”, “Back home they’d call me dirty”). Jetzt ist dieses Lied eine Provokation. Eine solche Art von Liebe wird allenfalls in Grenzen zwischen Mann und Mädchen akzeptiert (z.B. im Roman “Lolita” von Nabokov) – aber zwischen einer Frau und einem Jungen? Zur Veröffentlichungszeit des Songs 1980 hat dies einen Hauch von Skandal. Der ganze Text handelt davon, dass die Frau gegen diese Gefühle ankämpft – so kann das Geschehen von einem freigeistigen Zuhörer gerade noch toleriert werden. Die dritte Ebene: Merkwürdige Textzeilen sind eingeschoben. “Knock, knock. Who’s there in this baby?” – das klingt nach einem Geheimnis. “Ooh, how he frightens me. When they whisper privately” – das fällt völlig aus dieser Geschichte heraus. “Words of caress on their lips. That speak of adult love.” – spätestens hier war ich beim ersten Hören in den Achtzigern verwirrt. Die beiden Textebenen fügen sich nicht ineinander. Werden hier zwei Geschichten erzählt? Was weiß die Sängerin, was ich als Hörer nicht weiß? Aufschluss geben Informationen von Kate Bush selbst, in denen sie sich bemüht, die verbotene zweite Ebene zu entkräften (die Geister die ich rief …). “The thing that worries me is the way people have started interpreting that song. They love the long word-paedophilia. It’s not about that at all. It’s not the woman actually fancying the young kid. It’s the woman being attracted by a man inside the child. It just worries me that there were some people catching on to the idea of there being paedophilia, rather than just a distortion of a situation where there’s a perfectly normal, innocent boy with the spirit of a man inside, who’s extremely experienced and lusty. The woman can’t cope with the distortion. She can see that there’s some energy in the child that is not normal, but she can’t place it. Yet she has a very pure maternal love for the child, and it’s only little things like when she goes to give him a kiss at night, that she realizes there is a distortion, and it’s really freaking her out. She doesn’t fancy little boys, she’s got a normal, straight sexual life, yet this thing is happening to her. I really like the distortedness of the situation.” [1] Das ist nun eine andere Situation. Die beiden Ebenen fügen sich zusammen, wenn man diesen Hintergrund kennt und dazu noch weiß, wovon der Song inspiriert ist. Vorlage für den Song ist Henry James Erzählung “The Turn of the Screw” (dtsch. “Die Drehung der Schraube”) bzw. die darauf aufbauende Verfilmung “The Innocents” (deutsch “Schloss des Schreckens”). [2]

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England im 19. Jahrhundert: Miss Giddens, die ältliche Tochter eines Landpfarrers, tritt eine Stelle als Gouvernante auf einem Landsitz an, um über die Erziehung der Geschwister Miles und Flora zu wachen. Die Kinder sind nach dem mysteriösen Tod der früheren Gouvernante Ms. Jessel und des Hausverwalters Peter Quint verstört. Kurz nach ihrer Ankunft kehrt Miles aus dem Internat zurück. Miss Giddens sieht – scheinbar als einzige – wiederholt geisterhafte Erscheinungen eines Mannes und einer Frau, die die Haushälterin Mrs. Grose als Quint und Miss Jessel identifiziert. Auf Nachfragen nach den Gründen für den Tod von Miss Jessel und Peter Quint und das Verhältnis der beiden zu den Kindern erhält die neue Gouvernante keine oder ausweichende Antwort. Ihre prüde viktorianische Fantasie wird durch die düsteren Geheimnisse angeheizt. Miss Jessel war Quint offenbar sexuell hörig und ertränkte sich (schwanger?) nach dessen Tod, und auch Miles folgte Quint „wie ein kleiner Hund“. Was und wie viel wissen die Kinder von dieser Geschichte? Welche Sünden hat Miles im Internat begangen, die zu seinem Rauswurf führten? Wegen des verschwörerischen Gehabes der Kinder und Miles’ frühreifem Auftreten keimt in Miss Giddens der Verdacht, die Geister der Verstorbenen hätten Macht über die Kinder erlangt. Sie beharrt gegenüber Flora darauf, diese sei von Miss Jessels Geist besessen, bis das Mädchen einen hysterischen Anfall erleidet. Miss Giddens schickt Flora mit Mrs. Grose und den anderen Bediensteten fort (oder wird Flora vor der neuen Gouvernante in Sicherheit gebracht?), um mit Miles allein zu sein. Auf Miss Giddens’ Drängen gesteht Miles, wegen ungebührlichen Betragens vom Internat verwiesen worden zu sein. Er beschimpft sie und rennt in den Garten, wo er Quints Namen ruft und zusammenbricht. Nachdem Miss Giddens seinen Tod festgestellt hat, küsst sie ihn auf den Mund und faltet ihre Hände wie zum Gebet – dasselbe Bild, das in der ersten Einstellung des Films zu sehen war. [3] [4] Bis zuletzt wird nicht aufgelöst, was real und was Wahn ist. Weder die Textvorlage von Henry James noch der Film geben eine Deutung der Handlung, die sowohl als Geistergeschichte als auch als psychologische Studie der Gouvernante aufgefasst werden kann: Es bleibt offen, was sich tatsächlich abspielt, und was nur in der Vorstellungswelt der Erzieherin geschieht [5]. Die Erzählung “spielt mit der unterdrückten und verklemmten Sexualität der Viktorianer, ihrer Angst vor allem Irrationalen und ihrer Angst vor Kontrollverlust” [4]. Damit sind wir noch eine Ebene tiefer. Ist dies alles nur eine Wahnvorstellung einer verklemmten Frau? Ist dies alles nur Einbildung? Mein Fazit auf dieser Ebene: Die Unterdrückung von sexuellen Gefühlen ist schlecht. Wenn mit ihnen nicht auf gesunde, unverkrampfte Weise umgegangen wird, dann führen sie zu nicht auflösbaren Emotionen und zu Verwirrung. Das folgende Zitat fasst das alles sehr gut zusammen: “In any case, this song illustrates perfectly the unusual nature of Kate Bush’s subject matter, her complete freedom from lyric-writing conventions, and her daring and willingness to tackle any subject, however contentious, that suggests itself to her muse. This had been present ever since her first album, The Kick Inside, whose title track took on the themes of incest and suicide.” [6] Textlich haben wir nun verstanden, was hier passiert. Musikalisch bildet der Song diese Verstörung auf eine ganz subtile Art und Weise ab. Er kommt daher wie ein melancholisches Wiegenlied und nimmt damit die Stimmung des Liedes “O Willow Waly” auf, der zu Beginn des Filmes erklingt (“We lay my love and I, beneath the weeping willow. But now alone I lie and weep beside the tree. Singing “Oh willow waly” by the tree that weeps with me. Singing “Oh willow waly” till my lover return to me. We lay my love and I beneath the weeping willow. A broken heart have I. Oh willow I die, oh willow I die…”) [7]. Aber aus dem Rhythmus des Wiegenliedes ist ein 4/4-Takt geworden, der nur ab und zu durch 2/4-Einschübe aufgehalten wird [8]. Ganz zart kommt die Musik daher, Klavier, Streicher, Gitarre. Es gibt eine Gesangsstimme, die die Geschichte erzählt: Miss Giddens. Ab und zu wird diese Gesangsstimme gedoppelt wie durch einen “Schatten”, der tiefer und rauer den gleichen Text mitsingt. Dies geschieht oft, wenn von dem Jungen die Rede ist (z. B. bei “What is this? An infant kiss”, “You know how to work me” und “There’s a man behind those eyes”).  Für mich symbolisiert dies die Besessenheit des Jungen durch Quint. Ein sanfter Frauenchor tritt hinzu, der an einigen Stellen einen Hintergrund und Gegenpol bildet, ohne einen Text zu singen. Das erinnert stark in der Stimmung an das traurige “Oh willow waly” aus dem Film – es symbolisiert für mich Miss Jessel. Die Geschichtenerzählerin ist mit den beiden Geistern konfrontiert und dies geschieht so, dass es bewusst fast nicht wahrgenommen wird. Eine Sphäre des Unbewussten und Unerklärlichen dringt in die Realität des Liedes vor. Die harmonische Gestaltung zeigt das überaus sensible Verständnis, das Kate Bush wohl instinktiv besitzt. Tonarten sind bei ihr Träger von Bedeutung. In diesem Song ist das geradezu bestürzend gut gelungen. Die Grundtonart – in der das Lied notiert ist – ist ein Fis-Dur. Dies ist aber nur vage, ein zweiter Schwerpunkt liegt auf dem fis-Moll-Akkord. Zwischen diesen beiden Polen schwankt das Lied hin und her [8]. Fis-Dur – das bedeutet sechs Kreuze. Das ist maximal weit entfernt von der klaren nüchternen Welt eines C-Dur ohne Vorzeichen. So viele Vorzeichen deuten auf etwas Besonderes hin, auf ein Anderssein. Dies ist keine klare, rationale Welt, dies ist nicht vernünftig, dies ist herausgerissen aus der Normalität. Warum Fis-Dur, warum fis-Moll? Fis-Dur – das steht für den “Übergang der Sinneswelt in die geistige Welt, ein Übergang, der über die Schwelle führt, die Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Tagesansicht und Nachtansicht der Welt, Sinneswelt und geistige Welt voneinander trennt.” [9]. Es steht für die “im Tod, im Hinübergehen Erlösende und Errettende, die Hinüberführende, Venus Urania (himmlisch erlösende Liebe).” [9]. Besser kann man die reinen Gefühle der Protagonistin nicht beschreiben, die verzweifelt bemüht ist, die Kinder und sich zu bewahren. Es ist eine reine Liebe, unschuldig. Aber da ist auch noch die andere Seite – das fis-Moll. Das ist “tiefster Abgrund, tiefste Absturzgefahr”, es ist die “Tonart des Abgrunds” [9]. Was Beckh über das fis-Moll-Präludium von Chopin schreibt, das hätte er auch über “The infant kiss” schreiben können: “Ein wahrer Seelensturm, wie ein Hineingerissenwerden in bis dahin noch nicht geahnte Abgründe seelischen Erlebens, ein Aufgewühltwerden bis in die tiefsten Seelengründe hinein.” [9]. Besser kann man diese beiden Seiten des Liedes kaum musikalisch charakterisieren. Der Song endet nicht, es gibt einen direkten Übergang in “Night scented Stock”. Eine schwüle Gegenwelt tut sich dort auf, erotisierend, ohne Text, nur noch Vocalisen. Ist dies die sexualisierte Gegenwelt, die die prüde viktorianische Protagonistin verdrängt und der sie sich nun wortlos öffnet? “The infant kiss” ist komplex, ist kühn, erkundet unerforschtes, verbotenes Terrain. Es schildert die Überwältigung durch vollkommen unerwartete Gefühle. Es lässt offen, was real ist und was nicht, was sich außen wirklich abspielt und was nur im Inneren. Es wertet nicht, sondern überlässt die Wertung des Geschehens dem Zuhörer. Ein gutes Fazit zieht Grame Thomson [2]: “Wie oft doch Liebe und sexuelles Verlangen bei ihr als Besessenheit oder Tabu geschildert werden, als beängstigende und unerwünschte Geister und Dämonen, die sich in unserem Innersten einnisten.”. (© Achim/aHAJ)
[1] Kris Needs: Fire in the Bush. Interview in ZigZag. 1980? (zitiert nach http://gaffa.org/reaching/i80_zz.html – gelesen 01.04.2015)
[2] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.219
[3] http://de.m.wikipedia.org/wiki/Schloß_des_Schreckens (gelesen 24.03.2015)
[4] http://www.carookee.de/forum/Kate-Bush/69/Un_baiser_d_enfant_The_Infant_Kiss.8262416.0.01105.html  (gelesen 01.04.2015)
[5] siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/The_Turn_of_the_Screw_%28Oper%29 (gelesen 01.04.2015)
[6] https://suite.io/mark-wallace/56va2a4 (gelesen 01.04.2015)
[7] http://www.imdb.com/title/tt0055018/quotes (gelesen 01.04.2015)
[8] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.101f
[9] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.102ff und S.138ff Kommentare

The Kick Inside

Kate Bush - The Kick Inside (Netherlands) - CD

Es ist schwierig, vom gleichnamigen Album einen Song auszuwählen – da funkeln so viele Diamanten. Aber der Titelsong ist doch ein besonders prächtiges Juwel. Er beschließt das Album und setzt den Schlusspunkt.
Klavier, ganz sanfte Orchesterklänge, die Stimme – „The Kick Inside“. Ein ganz ruhiger Titel, melancholisch, in sich selbst versunken. Traurigkeit, Wehmut und Abschied durchziehen das ganze Lied. Der Text thematisiert eine Inzestbeziehung („Your sister I was born“). Die Schwester wird schwanger von ihrem Bruder und begeht Selbstmord. Das Lied enthält den Abschiedsbrief [1]. Der Text entschuldigt sich für diesen einen süßen Moment, der mit seinen Konsequenzen alles zerstört hat („I’m giving it all in a moment for you“). Die Protagonistin sieht sich in einer Situation, die sie nur aus alten Sagen kennt, in der Bruder und Schwester wie selbstverständlich Kinder miteinander haben („Didn’t we cry at that old mythology he’d read“). In der griechischen Mythologie ist Gottvater Zeus so gezeugt worden und mit seiner Schwester Hera zeugte er die weiteren Götter. Aber England 1978 ist nicht das sagendurchwobene Griechenland der Antike. Konsequent opfert die Protagonistin mit ihrem Schritt ihr ungeborenes Kind, Zeus wird das verstehen („I“ll send your love to Zeus“).
Liebe endet in einer Katastrophe. Ein Wiedersehen wird es erst dann geben, wenn „the sun and the moon meet on yon hill“ – also niemals. Ein ähnlich schreckliches und endgültiges „Niemals“ mit fast gleichen Worten beschließt z.B. auch die erste Staffel der Fernsehserie „Game of thrones“ und die dazugehörende Buchvorlage.
Ganz unerwartet endet der Song, die Melodie bricht auf einer Note mittendrin einfach ab. Ein offenes Ende, eine Wendung in Moll (ins Dunkel) auf dem letzten Ton, ein Hinaustreten. Die Protagonistin hat den Abschied vollzogen. Als Hörer steht man da und ist plötzlich und unerwartet allein, der Schmerz dringt nach einer Schrecksekunde ein. Ich möchte hineingreifen und der Protagonistin meine Hand reichen – aber es ist zu spät. Das ist grandios.
Schon in ihrem ersten Album setzt Kate Bush mit diesem Song ein Stilmittel ein, dass viele ihrer Alben kennzeichnen wird. Der letzte Song endet wie mit einer Frage. Das Album endet offen und unaufgelöst. Die Zukunft ist unsicher und wie es weitergeht, wird sich zeigen. (© Achim/aHAJ)

[1] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.71

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The Man With The Child In His Eyes

Nach dem exaltierten, ungewöhnlichen „Wuthering Heights“ zeigt dieser Song als zweite Single aus „The Kick Inside“ eine ganz andere Seite. Eine ruhige, stimmungsvolle Ballade erklingt. Klavier und Streicher dominieren. Eine fast besinnliche Stimmung zieht sich durch den Song.

Dieser Kontrast zu „Wuthering Heights“ war eine bewusste Entscheidung. Schon hier zeigte sich, dass Kate Bush von Anfang an ein ganz klares Bild von ihrer Musik und den Mechanismen der Vermarktung darum hatte. Von Anfang an ist dieses Statement da – von mir wird es keine Wiederholung des ewig Gleichen geben.
„I’d like people to listen to it as a songwriting song, as opposed to something weird, which was the reaction to ‚Wuthering Heights.‘ That’s why it’s important. If the next song had been similar, straight away I would have been labeled, and that’s something I really don’t want. As soon as you’ve got a label, you can’t do anything. I prefer to take a risk.“ [1] Diese Ballade ist meilenweit weg von geisterhaftem, schrillem Gesang. Mit ihren ersten zwei Singles schon spannt Kate Bush einen ganzen Kosmos von Möglichkeiten auf. Kates Stimme ist hier tief, ruhig, fast fraulich – und das, obwohl dieses Lied von einer Sechzehnjährigen gesungen wird. Der Song stammt aus ersten Demo-Sessions im Jahre 1975. „Maybe another interesting thing about this album is that two of the tracks, ‚The man with the child in his eyes‘ and ‚Saxophone Song‘ were recorded about three years ago. This was in fact my initial plunge into the business, as they say, with the help of Dave Gilmour from Pink Floyd. I managed to get through to him through a contact of my brothers‘ and at that time he was looking around for unknown talent. He came along and heard me and we put some things down and he put up the money for me to make my first demo in a proper recording studio with arrangements. I owe to him the fact that I got my contract and that I’m where I am now. Two of these original tracks that we had on the demo are on the album, so maybe that helps with the variation.“ [2]

Es gibt vielfältige Interpretations-möglichkeiten über das, worüber hier im Lied erzählt wird. Ein Lied über einen unsichtbaren Begleiter, wie ihn Kinder oft haben? Oder vielleicht doch über einen sehr viel älteren Freund? Passiert da etwas Anstößiges? Wie so oft bei Kate ist es doppelbödig. Es wird dem Hörer überlassen, wie tief und abseitig er den Text auslegen will. Kate selbst gibt in Interviews höchstens harmlose Andeutungen von sich – und die Abgründe lässt sie aus. „The inspiration for ‚The man with the child in his eyes‘ was really just a particular thing that happened when I went to the piano. The piano just started speaking to me. It was a theory that I had had for a while that I just observed in most of the men that I know: the fact that they just are little boys inside and how wonderful it is that they manage to retain this magic.“ [2] Diese von Kate Bush selbst angegebene Deutung erscheint mir aber am plausibelsten. Es spricht eines der Hauptthemen an, das sich wie ein roter Faden durch das Bush-Universum schlängelt. Männer und Frauen sind sich eigentlich fremd, aber sie können nicht voneinander ablassen. Besonders schön sagt dies Kate Bush zu diesem Song in einer anderen Quelle: „I just noticed that men retain a capacity to enjoy childish games throughout their lives, and women don’t seem to be able to do that.“ [3] Harmonisch ist das Lied eine Mischung aus e-Moll und G-Dur [4]. G-Dur enthält nach Beckh [5] stark das Element des Seelisch-Empfindenden, des Fühlenden. Es ist die Tonart der sprießenden Blütenfülle der Maienzeit, die Liebesoffenbarung im Werden der Natur. G-Dur ist anmutig, bescheiden, lieblich, innig, oft auch kindlich, unschuldig. E-Moll ist gemäß Beckh [5] klagend, aber auch erhaben, es ist die Tonart der „hellen Träume“,  Das Bewusstsein für Tonarten war offenbar bei Kate Bush von Anfang an da. „The Man with the child in his eyes“ ist ein überraschend reifer Song für eine Sechzehnjährige. „Wuthering Heights“ führte die dämonische Wildheit und die Kompromisslosigkeit vor, die in Kate Bush steckt, dieser Song im Gegensatz dazu das Nachdenkliche, fast etwas Grüblerische. Zwei Seiten einer Medaille aus Gold.  (© Achim/aHAJ)  
[1] Harry Doherty: The Kick Outside. Melody Maker. 03.06.1978
[2] TKI promo cassette 1978
[3] N.N.: Bird In The Bush. September 1978. http://gaffa.org/reaching/i78_bitb.html (gelesen 30.06.2017)
[4] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.119
[5] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.119 ff
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Them Heavy People

40 Jahre ist es nun her, dass das Debut-Album von Kate Bush veröffentlicht wurde – Zeit, auf einen der Schlüsselsongs aus „The kick inside“ zurückzublicken. „Them heavy people“ ist ein frühes Lied, da es schon bei den Auftritten der „KT Bush Band“ 1976/77 auf dem Programm stand [1], zu einer Zeit also, an der das Album noch in einer ungewissen Zukunft lag. Der Song ist ein für Liveauftritte konzipiertes Stück und das ist ihm anzumerken. Er ist eingängig, rhythmisch und geht ins Ohr. Er war daher auch von der Plattenfirma EMI als zweite Single vorgesehen [1], musste dann aber gegenüber „The man with the child in his eyes“ zurücktreten.  Musikalisch geht es hier ein bisschen in Richtung Reggae. Ron Moy [2] hält ihn für eine gelungene Umsetzung des ‚reggae verse, pop chorus‘-Stils, der damals gerade durch die Gruppe Police populär gemacht wurde. Moy meint weiter, dieser Song „[…] is the most positive and sunny track on the album, and one of a fair number of songs (four, five?) that would surely have been sucsessfull as singles.“. Dieser Aussage kann ich nur zustimmen.
„Them heavy people“ unterscheidet sich im Stil etwas von den anderen Songs des Albums. Es ist ein vorwärtstreibender Titel mit einem merkwürdigen Rhythmus, eine Art stolpernder Tanz (jemand ist noch nicht im Gleichgewicht). Im Chorus dominiert dann ein geradlinigerer Rhythmus, die Richtung ist gefunden – vorwärts. Der Song erzählt von den Inspirationen, Anstößen, Schubsern, die andere Menschen der Sängerin gegeben haben. Er erzählt von den Menschen, die sie in die richtige Richtung gestoßen haben. Gurdjieff und Jesus werden zitiert, das waren offenbar Einflüsse aus Diskussionen im Familienkreis. Der Song richtet sich auch an ihre Gesangs-, Tanz- und Pantomimenlehrer, ebenso an ihren Förderer David Gilmour (dem sie im Covertext dafür dankte, den Ball ins Rollen gebracht zu haben – „rolling the ball“).
Ausgelöst wurde die Komposition von einer kleinen Textphrase und danach ergab sich alles ganz schnell von selbst. Dieser Song entstand ohne lange Entwurfs- und Überarbeitungszeit, wie Kate Bush sagte. „The idea for Heavy People came when I was just sitting one day in my parents‘ house. I heard the phrase „Rolling the ball“ in my head, and I thought that it would be a good way to start a song, so I ran in to the piano and played it and got the chords down. I then worked on it from there. It has lots of different people and ideas and things like that in it, and they came to me amazingly easily–it was a bit like Oh England, because in a way so much of it was what was happening at home at the time. My brother and my father were very much involved in talking about Gurdjieff and whirling Dervishes, and I was really getting into it, too. It was just like plucking out a bit of that and putting it into something that rhymed.“ [3]. Der Verweis auf Gurdjieff wurde dann im Text durch Verweise auf weitere Personen ergänzt, um nicht zu esoterisch zu erscheinen. „I thought it was important not to be narrow-minded just because we talked about Gurdjieff. I knew that I didn’t mean his system was the only way, and that was why it was important to include whirling Dervishes and Jesus, because they are strong, too.“ [3].
Der Song ist im 4/4-Takt gehalten. Nur an einigen Stellen ist ein Bruch eingebaut (ein Takt 2/4, ein Takt 4/4) und zwar auf „has a heaven inside“, bzw. „we perform the miracles“ bzw. „but what a lovely feeling“ jeweils zum Schluss der Strophen [4]. Dies trägt zum Eindruck eines Stolperns oder Innehaltens an diesen Stellen bei. Notiert ist der Song mit 5b [4]. Weil die Strophen mit dem Des-Dur-Akkord beginnen, ist dies wohl ein Des-Dur. Ab und zu gibt es Ausweichungen nach B-Dur (b-Moll wäre die Paralleltonart zu Des-Dur). Diese B-Dur-Akkorde stehen immer am Schluss der Strophen und wenden diese Abschlüsse aus dem Des-Dur hinaus [4].  Die erste Strophe („They arrived at an inconvenient time / I was hiding in a room in my mind / They made me look at myself / I saw it well I‘d shut the people out of my life“) redet offenbar auch von verstörenden Anstößen, die aber dazu geführt haben, tiefer in sich hineinzublicken und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.  Es geht weiter mit „So now I take the opportunities“. Kate Bush kommt zu dem Fazit, das alles Wichtige in einem drin zu finden ist: „For now I realise that everyone of us / has a heaven inside“ und „We humans get it all we perform the miracles“. Diese beiden Statements beschließen die Strophen.
Das Lied ist eine Art Verbeugung vor den Menschen in ihrer Umgebung. Mit diesem Lied bedankt sie sich für das Öffnen der Türen: „They open doorways that I thought were shut for good“. Sich selbst bewusst werden, sich selbst mit allen Höhen, Tiefen und Abgründen annehmen – darauf kommt es an. Wie so oft bei Kate Bush scheinen die Tonarten bewusst gewählt zu sein. Fünf Vorzeichen sind eher ungewöhnlich, das ist weit weg vom nüchternen Alltag. Des-Dur ist nach Beckh [5] eine zweischneidige Tonart. „Auf der einen Seite kann ihr ein sinnliches Element, eine gewisse sinnliche Süße eigen sein, auf der anderen Seite konnte sie auch in der Musik zum Ausdruck von etwas Allerhöchstem, Weihevollstem verwendet werden. Ein eigenartiger Abgrund zwischen Höhe und Tiefe scheint sich innerhalb dieser Tonart aufzutun.“ Sie ist das „Schauen der Sonne um Mitternacht“, sie ist eine „in der Tiefe des Irdischen erlebte höchste geistige Höhe“ [5]. Die Paralleltonart b-Moll ist die Tonart des Sterbens, der wird konsequent ausgewichen zu B-Dur.  B-Dur ist nach Beckh [5] noch nicht das Licht selbst, aber es ist die Ahnung des Lichts, die Hoffnung des Lichts, der Glaube an das Licht. Der Stern des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe lebt irgendwo in dieser Tonart, die daher oft als Liebestonart benutzt wird.
In den verwendeten Tonarten können wir die Faszination spüren, die der Eintritt in die mystische Welt der Musik und ihre Selbstfindung für Kate Bush bedeutet haben: Liebe, das Allerhöchste und Weihevollste, der Abgrund, der sich in der Seele auftut. Am Ende des Weges (der Strophen) steht der Glaube an das Licht (B-Dur). „Them heavy people“ war auch Bestandteil der „Tour of life“. Im Nachhinein zweifelte Kate Bush an der Umsetzung des Songs (insbesondere der Albumversion), stand aber zu seinen Inhalten und zu seiner musikalischen Qualität. „I always felt that Heavy People should be a single, but I just had a feeling that it shouldn’t be a second single, although a lot of people wanted that. Maybe that’s why I had the feeling–because it was to happen a little later, and in fact I never really liked the album version much because it should be quite loose, you know: it’s a very human song. And I think, in fact, every time I do it, it gets even looser. I’ve danced and sung that song so many times now, but it’s still like a hymn to me when I sing it. I do sometimes get bored with the actual words I’m singing, but the meaning I put into them is still a comfort. It’s like a prayer, and it reminds me of direction.“ [3].
Für mich ist der Song ein Wohlfühllied, schwungvoll und zum Mittanzen einladend, optimistisch und fröhlich, ohne einen zu exaltierten Einsatz der Stimme. Der Text ist im Vergleich zu späteren Songs ein bisschen plakativ – aber immer nur Rätsel lösen muss ja auch nicht sein. Er zeigt den Weg in die Zukunft auf, dieser Text ist Kate Bushs goldene Straße zum Zauberer von Oz.
Ich höre „Them heavy people“ immer wieder gern. Er hätte auch als Single Erfolg haben können, da er wirklich ins Ohr geht. Ein Song für eine Rampensau. So sehr ich die komplexeren Songs aus der späteren Zeit schätze – ich bedauere es doch ein bisschen, dass sie solche livetauglichen Songs später nur noch selten geschrieben hat. (© Achim/aHAJ)

[1] Graeme Thomson: Under the ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.96 und S.120
[2] Ron Moy: Kate Bush and Hounds of Love. Aldershot. Ashgate Publishing Limited. 2007. S17
[3] Kate Bush: KBC article Issue 4 (Weihnachten 1979). „Them Heavy People“ & Interview
[4] Kate Bush: Kate Bush Complete. London. EMI Music Publishing Ltd. 1987. S.156f
[5] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Stuttgart. Verlag Urachhaus. 1999. S.232ff (Des-Dur) und S.245ff (B-Dur)

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The Morning Fog

„The Morning Fog“  ist ein sehr spannender und vieldeutiger Song, obwohl er auf dem ersten Blick ganz eindeutig erscheint. Aber wir sind bei Kate Bush, so etwas sollte uns nicht überraschen. Der Song beschließt die zweite Seite des Albums „Hounds Of Love“ und damit die Suite „The Ninth Wave“, die diese zweite Hälfte des Albums einnimmt. Um hinter das Geheimnis dieses Songs zu gehen, muss zuerst einmal geklärt werden, worum es in dieser Suite geht. „The Morning Fog“ ist der siebte und letzte Track dieser Suite, die eigentlich eine Art Mini-Konzeptalbum ist. Es geht um eine Frau, die nach einem Schiffsunglück allein im Meer zu ertrinken droht. Kate Bush sagt klar, worum es geht: „The Ninth Wave was a film, that’s how I thought of it. It’s the idea of this person being in the water, how they’ve got there, we don’t know. But the idea is that they’ve been on a ship and they’ve been washed over the side so they’re alone in this water.“ [6] „The Morning Fog“ beendet diese Suite. Es sieht so aus, dass die Frau ihre Nahtoderfahrung überlebt und wieder zu Bewusstsein kommt. Da sie dem Tod so nahe gekommen ist, verspricht sie, das Leben besser zu schätzen, ebenso wie diejenigen, die an ihrem Leben teilhaben. So der Text.
Das Lied hat unheimlich viel Atmosphäre, weil es die Auflösung und der Höhepunkt dieser unglaublichen Geschichte ist und nach so viel Dunkel einen helleren Ton anschlägt. Auch die Biographen sehen das so. Graeme Thomson ist voller Begeisterung: „Schließlich kündigt ‚The Morning Fog‘ den kommenden Morgen und eine Art emotionale Rettung an. Die Nebelschwaden sind eine geistige Macht, die über die Wellen zieht und das Mädchen wieder ans Land geleitet, zurück ins Leben, denn sie hat es überstanden und ist erfüllt von ihrer wiederentdeckten Liebe“ [1, S.263]. Für ihn ist es ein Song wie von warmen Sonnenlicht durchdrungen, „[…] der die Freude und Dankbarkeit eines Menschen ausdrückt, der von einer weiten Reise zurückkehrt – „I kiss the ground“ – und der nun entschlossen ist, die wirklich wichtigen Dinge zu wertschätzen: das Leben, die Liebe, die Natur und die Musik. Man kann es als Botschaft an ihr eigenes Ich verstehen: Lass dieses Glück nicht vergehen, singe davon, feiere es“ [1, S. 273]. Die musikalische Gestaltung trägt für Graeme Thomson viel zu dieser Wirkung bei, insbesondere wird das Gitarrenspiel von John Williams hervorgehoben: „John Williams spielte einen wunderbaren Gitarrenpart für „The Morning Fog“ ein – klare schimmernde Töne wie Tautropfen, wie eine Knospe, die sich zur Blüte öffnet“ [1, S. 276]. Dem ist kaum etwas hinzuzufügen.

Schauen wir auf den Text, so scheint alles diese helle und positive Botschaft eines Happy Ends zu untermauern. Der Morgen ist gekommen, die Heldin ist gerettet und an Land gebracht: „I’m falling / And I’d love to hold you know / I’ll kiss the ground / I’ll tell my mother / I’ll tell my father / I’ll tell my loved one / I’ll tell my brothers / How much I love them“ [2]. Die Biographen lassen es dabei bewenden und wir könnten es uns leicht machen und mit einer weiteren Analyse aufhören. Aber ist der positive Schluss wirklich so eindeutig? Sam Liddicott zum Beispiel äußert in einem sehr lesenswerten Essay [9] Zweifel. Für ihn besteht Unklarheit darüber, ob es sich um eine Rettung handelt, es sich um eine Vision der Frau handelt oder ob hier ihr Geist aus dem Jenseits spricht. Im Folgenden will ich versuchen, mich einer Klärung dieser Frage zu nähern. Sicher ist, dass es keine Eindeutigkeit gibt. Der Text sagt nichts aus über die Umstände dieser Rettung. Es könnte also sein, dass dies ein Wahn, eine Wunschvorstellung, eine Nahtoderfahrung ist. Die oben zitierten letzten Zeilen zeigen vielleicht eine Wunschvorstellung an. Die Protagonistin möchte, dass diese Dinge geschehen. Sie möchte ihren geliebten Personen sagen, wie sie sich fühlt. Kate Bush spricht 1985 davon, dass dieser Song ein Song der Hoffnung und des Lichts ist: „Morning Fog“ is the symbol of light and hope. It’s the end of the side, and if you ever have any control over endings they should always, I feel, have some kind of light in there“[7]. Das gibt keine Hinweise auf unsere Fragestellung, sie sagt nur, dass es ein positiver Schluss ist. Aber das Hinübergehen in den Himmel ist ja auch eine positive Wendung bzw. kann es sein.
Im Jahr 1992 ist Kate Bush dann schon eindeutiger beim positiven Schluss und neigt der Rettungstheorie zu: “Well, that’s really meant to be the rescue of the whole situation, where now suddenly out of all this darkness and weight comes light. You know, the weightiness is gone and here’s the morning, and it’s meant to feel very positive and bright and uplifting from the rest of dense, darkness of the previous track. And although it doesn’t say so, in my mind this was the song where they were rescued, where they get pulled out of the water. […] And it was also meant to be one of those kind of „thank you and goodnight“ songs. You know, the little finale where everyone does a little dance and then the bow and then they leave the stage“ [6]. Aber ganz deutlich sagt sie, dass dies nicht im Text steht: „And although it doesn’t say so, in my mind this was the song where they were rescued […]“.
In den „Before the Dawn“-Shows im Jahr 2014 gab es ein noch eindeutigeres Ende: Die hoffnungslose Situation löst sich auf. Die Protagonistin wird lebend aus dem Wasser gezogen. Eine glückliche und triumphale Auflösung für das Publikum! Wieder könnten wir nun aufhören. Aber die Fragestellung ist für mich immer noch nicht befriedigend geklärt. Im Laufe der Zeit hat sich offenbar Kate Bush immer klarer dafür entschieden, die Geschichte positiv mit einer Rettung enden zu lassen. Aber war dies im Moment der Komposition auch schon so eindeutig? Ist da nicht trotzdem immer noch diese zweite, dunklere Ebene? Und wird Kate Bush nicht VOR diesem Song in den Shows wie in einem Totenzug von der Bühne getragen? Sam Liddicott [9] wirft in den Raum, dass Kate Bush als erste Zugabe in der Konzertreihe ausgerechnet „Among Angels“ brachte und dann „Cloudbusting“. Spielt das auf die Möglichkeit an, dass die Heldin im übertragenen Sinne unter Engeln ist und sich ganz am Ende in den Wolken befindet? Hier muss aber hinzugefügt werden, dass diese Zugaben nicht direkt auf „The Morning Fog“ folgen.
Schaut man sich die Suite „The Ninth Wave“ insgesamt an, so wird die Stimmung im Laufe der Suite immer dunkler. Mir jedenfalls geht es so, dass ab „Watching You Without Me“ alles offen für Interpretationen ist. Das Lied handelt von geliebten Menschen, die darauf warten, dass die Protagonistin nach Hause kommt, ohne zu wissen, wo sie ist. Die Protagonistin ist wie eine unsichtbare Präsenz da, wie ein Geist. Für mich kippt hier die Geschichte. Dies könnte der Punkt sein, an dem sie dem unerbittlichen Schrecken der Wellen zu erliegen beginnt.  Es könnte sein, dass alles danach, also insbesondere „Hello Earth“ und „The Morning Fog“, ein Todestraum ist, ein Beobachten aus dem Himmel heraus. Ist die Protagonistin am Ende von „Hello Earth“ in einer Art Himmel angekommen?
Das ist eine Frage, die sich anhand des Textes und der musikalischen Gestaltung vielleicht einfacher beantworten lässt. Lassen sich hier textliche Indizien für das Hinübergehen in eine andere Welt finden? Das Ende von „Hello Earth“ beginnt mit den Worten „Why did I go? / Why did I go?“ [2]. Die Protagonistin stellt sich die Frage, warum sie gehen muss. Das klingt nach einer Erkenntnis im Moment des Todes. Dann kommt diese ganz außerordentliche Passage mit dem deutschen Text: „Tiefer, tiefer / Irgendwo in der Tiefe gibt es ein Licht“ [2]. Ich nehme das wörtlich: Die Protagonistin sinkt hinab in die Tiefe, auf ein geheimnisvolles Licht zu, das könnte das Ertrinken und das Hinübergehen in eine andere Welt sein. Die letzten Worte sind „Go to sleep little earth“ [2], ein Abschied von der Welt. Ohne Akkorde verdämmert, erstirbt „Hello Earth“ auf einem hohen Cis, dem Kernton dieses Songs.
„Hello Earth“ spricht also von Text und musikalischer Gestaltung her für die These des Übergangs in ein Totenreich, in einen Himmel. Gibt es auch in „The Morning Fog“ dafür Indizien? Unser Song beginnt dann richtig laut nach diesem ganz leisen, verlöschenden Ende von „Hello Earth“. Es beginnt mit „The light / Begin to bleed / Begin to breathe / Begin to speak“ [2]. Fasst man dies mit dem Schlusstext von „Hello Earth“ zusammen, dann kann dies so gelesen werden, dass das Licht in der Tiefe erreicht wurde und dass dieses Licht wie eine überirdische Erscheinung zu sprechen beginnt. Ist das eine Engelserscheinung am Tor zum Himmel? Und dann wird die Protagonistin laut dem Text wiedergeboren: „I am falling / […] Being born again / Into the sweet morning fog“ [2]. Wer in die Tiefe hinabsinkt und dort ein sich auftuendes Licht sieht, der ertrinkt. Es gibt hier im Text nichts, das etwas anderes aussagt. Und woher fällt sie? Auf den rettenden Strand kann sie ja aus dem Meer nicht gefallen sein. Hat sie eine überirdische Macht aufgenommen und setzt sie nun in einem himmlischen Gefilde ab?

Schauen wir nun zusätzlich auf die verwendeten Symbole. Die „Morgenröte“ ist ein Symbol für Hoffnung, Neubeginn und reichhaltige Chancen zur Erfüllung der eigenen Persönlichkeit [4]. Das passt zu Wiedergeburt jeder Art, also sowohl zum Übergang in den Himmel als auch zu einer Rettung. Das zweite Symbol ist für mich verräterischer. Fragt sich eigentlich niemand, warum im Titel dieses Songs ausgerechnet der Nebel vorkommt? Warum kommt im Titel nichts mit „Rettung“ vor? Der Nebel bildete „in vielen Mythologien einen Schleier über den Übergang zum Jenseits“ [5]. Auch dies spricht für mich eher für die Himmelsübergangs-Theorie. Schauen wir jetzt einmal genauer auf die musikalische Gestaltung, da lassen sich weitere Indizien finden. „The Morning Fog“ ist in einem flotten 4/4-Takt gehalten, es gibt nur Dur-Akkorde , die Tonart ist ein eindeutiges E-Dur [2]. Nach viel cis-Moll in „Hello Earth“ ist dies eine Art „Erlösung“ in der Dur-Parallele E-Dur [2]. E-Dur ist aber eigentlich nur ein „aufgehelltes“ cis-Moll, das ist kein grundsätzlicher Wandel. Es ist nur eine Stimmungsnuance. Bei einer Rettung würde ich eine ganz andere Tonart erwarten, um dies klar und deutlich abzugrenzen. Aber das fehlt, es gibt nur mehr Licht.
Die Songstruktur ist einfach, es gibt zwei Takte zu Beginn, dann ein sich beständig wiederholendes Akkordschema [2]. Es ist eine konstante Abfolge der Akkorde E-Dur – A-Dur – H-Dur – A-Dur. Reines E-Dur ist das, Tonika – Subdominante – Dominante – Subdominante [2]. Volkmar Kramarz nennt diese Akkordfolge die „Dur-Formel“ [8], es ist eine Vereinfachung des Blues-Schemas [8]. „Die Dur-Formel lässt sich gut einsetzen bei Songs, die betont kompakt und übersichtlich sind, die zum Mitsingen und Mitmachen einladen, die eine eingängige Hookline haben oder die Spaß und Stimmung bringen sollen“ [8]. Es ist eine Akkordfolge, die Leben hereinbringt: „Sehr gut geeignet sind Songs mit diesem Muster daher übrigens als Zugaben oder als Songs, die mal wieder richtig Schwung in den Laden bringen sollen.“ [8] Das entspricht genau den Intentionen von Kate Bush: „And it was also meant to be one of those kind of „thank you and goodnight“ songs. You know, the little finale where everyone does a little dance and then the bow and then they leave the stage“ [6]. Rettung oder Himmelsübergang, das passt zu beiden Deutungen.
Interessanter ist es mit den beiden Takten zu Beginn, vor dieser wiederkehrenden Akkordfolge. Im ersten Takt haben wir den H-Dur-Akkord, dazu die Melodietöne Fis – H (abwärts) [2]. Im zweiten Takt haben wir den A-Dur-Akkord, dazu die Melodietöne E und H (abwärts) [2]. Es ist sehr ungewöhnlich, dass ein Song nicht mit dem Kernakkord der Haupttonart, also dem E-Dur-Akkord, beginnt, der taucht erst im dritten Takt auf. Der zweite Takt ist in E-Dur (H ist die Dominante, A die Subdominante), aber der erste Takt kann als reines H-Dur (Fis ist die Dominante) interpretiert werden. Der Schlusstakt des Songs ist identisch mit dem Anfangstakt (reines H-Dur) [2], die Akkordfolge bricht auf H-Dur ab. Es fehlt ein Takt mit dem E-Dur-Akkord, um „The Morning Fog“ richtig in der Tonart abzuschließen. Das ist sehr ungewöhnlich, es ist ein offenes Ende. Anfang und Ende sind also lesbar so, als ob sie in einer anderen Tonart geschrieben worden wären, einer Tonart, die dazu noch ständig in der durchlaufenden Akkordfolge präsent ist. Schauen wir auf die Tonartenbedeutung gemäß Beckh [3], so passt E-Dur perfekt zum Song. E-Dur ist „Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit, Liebeswärme“. Es hat aber auch „[…] die Helligkeit einer ganz anderen Welt, einer Welt der Träume, des Dichterischen, der höheren Bilderschau, in der wir der gewöhnlichen Tageswelt gänzlich entrückt sind“ [3]. Das ist für beide Deutungen offen.
Bei H-Dur ist es aber spannender. Diese Tonart ist „nicht mehr ganz im Irdischen, enthält einen verklärten Nachglanz dieses Irdischen und damit zugleich die Vorahnung des Hinübergehens“ [3]. Sie ist „ein Überirdisches oder nicht mehr im gewöhnlichen Sinne Nur-Irdisches, ein Höheres, das den Jammer des Irdischen wiederum verklärt und erlöst“ [3]. Kate Bush ist eine Meisterin der Tonarten, Beckh hat zu H-Dur eine ganz klare Meinung: „Und vollends von H-Dur wissen alle wahren, am Tonartenverständnis teilhabenden Tondichter, daß man diese ganz außerordentliche, so hoch über dem Irdischen liegende Tonart eigentlich nur ganz selten, dann aber auch so, daß sie etwas ganz bedeutsames ausdrückt, verwendet“ [3]. Schaut man auf das (subtil versteckte) Gewicht, dass Kate Bush der Tonart H-Dur hier verleiht und schaut man auf diese Tonarten-Bedeutung, dann neigt sich für mich die Waagschale doch der Himmelsübergangs-Theorie zu. Aber das ist meine Interpretation.
Ich habe das Gefühl, dass Kate Bush den letzten Track offen lassen wollte. Es gibt keine wirkliche Bestätigung, dass die auf See gestrandete Frau gerettet wurde. Es gibt auch keinen direkten Hinweis darauf, dass sie gestorben ist oder einfach von allem geträumt hat. Es lassen sich im Song Hinweise finden, die für den Tod und eine Auferstehung im Himmel sprechen – aber eindeutig ist es nicht. Kate Bush sagte im Interview von 1992 [6], dass es eine Rettung gibt, aber ich glaube, das war eher, um eine Antwort zu geben und den Menschen ein Gefühl der Aufmunterung zu geben. 
Das ist das unglaublich Faszinierende an „The Ninth Wave“ und damit auch an „The Morning Fog“: Es gibt keine Wahrheit oder klare Antwort. Wie bei einigen großartigen Filmen bleibt ein Hauch von Mysterium. Man denkt, man hat alles verstanden, aber sicher sein kann man sich nicht. Das ist das Großartige an der Musik von Kate Bush: sie ist ein Mysterium. Und hier, bei „The Morning Fog“, da sehen wir einen Ozean voller Geheimnis, voller Doppeldeutigkeit, ein wahres, nicht entschlüsselbares Mysterium. Ich liebe Kate Bush dafür, dass sie uns so etwas zu Füßen legt. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013.
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.120ff (The Morning Fog) und S.95ff (Hello Earth)
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.263ff (E-Dur) und S.171ff (H-Dur)
[4] Günther Harnisch: Herders großes Traumlexikon. Erftstadt 2007. Verlag HOHE Gmbh. S.233
[5] Leonard Reiter: Symbole in Märchen, Mythen und Therapie. Thüngersheim 2010. Vierte, erweiterte Auflage. Verlag Leonard Reiter. S.271
[6] Richard Skinner: Classic Albums interview: Hounds Of Love. Radio 1 (UK), 26. 01.1992
[7] „Hounds Of Love Songs“. Kate Bush Club, Issue 18. 1985
[8] Volkmar Kramarz: Die Popformeln. Die Harmoniemodelle der Hitproduzenten. Bonn 2006. Voggenreiter Verlag. S.117
[9]  https://www.musicmusingsandsuch.com/musicmusingsandsuch/2022/8/27/feature-kate-bushs-hounds-of-love-at-thirty-seven-the-ninth-wave-the-rescue (gelesen 15.01.2023)

The Painter’s Link

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Die Szene „The Painters Link“ verweist schon in seinem Titel auf die Verbindung zwischen Altem und Neuem, zwischen Entstehen und Vergehen, zwischen Leben und Tod. In der Ferne erklingt das Grollen eines Sommergewitters. Leise zwitschern die Vögel und auf einer Wiese vor dem Wald befindet sich ein junger Maler. Als ihn der Sommerregen überrascht, findet er sich in einer Situation der Neuordnung wieder. Tonal befindet sich die nun folgende Komposition noch immer in H-Dur. Eine einzelne Violine stimmt im Viervierteltakt den Ton h’ als ganze Note an. Auf einen Quartsprung von h’ aufwärts zu einer halben Note e’ folgt ein Quartsprung abwärts zurück zum Ton h’. Dann klingt das h’ in einem überlangen Fermate aus.
Quartsprünge sind dafür bekannt, oft im Kontext pastoraler Szenen zu stehen. In Takt fünf wird das Spiel der Violine durch das eines Cellos und einer Bratsche ergänzt. Ein stetes Pendeln zwischen Quart- und Quintintervallen vermittelt den Eindruck, als würden die Musiker ihre Instrumente stimmen. Der Anfang eines neuen Werkes liegt wortwörtlich in der Luft bzw. im Regen.
In Takt fünf setzt für einen Takt lang das Klavier, über einem Orgelpunkt auf H, mit einer perlenden Akkordfolge aus Cis-Moll, H-Dur,  Cis-Moll, H-Dur ein. Auf der Bühne sieht der Zuschauer die Marionette und Zauberin wie sie den Maler bei seiner Arbeit beobachten. Die beiden bewegen sich dabei in großen, kreisenden Bewegungen, die der Pinselführung des Malers entsprechen. Als nach einem langen Fermate auf H-Dur/mit Quarte E im Bass der immer dichter anwachsende Streichersatz verklingt, übernimmt eine zweitaktige, absteigende Kaskade im Klavier die Führung. Über einem Orgelpunkt auf H erklingen die Harmonien E-Dur, H-Dur, A-Dur. Ein abwechslungsreicher Rhythmus aus einer Viertel-, zwei Achtel-, einer Viertel, und einer Achtelnote vertont lautmalerisch die ersten Regentropfen. Die zweite Kaskade gliedert sich rhythmisch in eine Viertel und zwei Achtelnoten, gefolgt von einer Vierteltriole. Dann beginnt der Monolog des Malers, begleitet vom flächigen Klang der Streicher und einzelnen Tupfern des Klaviers:

(The Painter:) A
„It’s raining / What has become of my painting / All the colours are running

(The chorus) B
So all the colours run / So all the colours run / See what they’ve become / A wonderful sun-set.“

„The painter’s link“ gliedert sich sehr simpel in zwei Formteile. Teil A ist ein Rezitativ des Malers und Formteil B ein Chor bestehend aus Jägern, Priestern/Priesterinnen und der Zauberin. Gemeinsam feiern sie die sich im Regen auflösenden Farben des Gemäldes als ein Abbild der Fruchtbarkeit. Das phonetische Wortspiel „sun-set“ ist eine Anspielung auf die (aus Gründen des Umfangs) übersprungene Szene zweier Liebender auf einer abendlichen Waldwiese. Das Wort „sun“ („Sonne“) und „son“ („Sohn“) sind in gesprochener Sprache nicht zu unterscheiden. Die fließenden Farben des Malers werden also im Kontext einer Huldigung der lebenspendenden Sonne nun auch zum Sinnbild der fruchtbaren Körpersäfte des Menschen. Hier betont Bush also gezielt – ihrem Weltbild entsprechend – die wichtige Beziehung zwischen Ritus und Kunst. Im Anschluss an „The Painter’s Link“ folgt „Sunset“. Mit dem Versinken der Sonne im Abendrot („Could be honycomb, in a sea of honey, a sky of honey“) kehrt die Tonart Cis-Moll ins Zentrum des Geschehens zurück. Hinsichtlich der sich verabschiedenden Sonne wird die Stimmung melancholisch und sehnsüchtig. Mit dem nächtlichen Firmament konfrontiert, werden in den Figuren auf der Bühne Sinnfragen laut, die sie in einer rituellen Anrufung auf dem Ton gis, der Quint zum Grundton von Cis-Moll (Bezug zum traditionellen „chanting“) gen Nachthimmel richten: „Keep us to your heart. So if the skies stay dark, we may live on in comets and stars.“ Das Textzitat zeigt deutlich, dass der eigene Tod, auf regressive Weise, in Verbindung mit dem Kreislauf der Gestirne gebracht wird. (Thomas)

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The Red Shoes

„The Red Shoes“, der Titeltrack des gleichnamigen Albums, wird aus mir nicht verständlichen Gründen gern übersehen. Die Biographen widmen ihm nur einen flüchtigen Blick. Rob Jovanovic verspürt „mehr als nur ein Hauch irischen Flairs“ [1], für Graeme Thomson ist es ein „herrlich wilder Wahn“ [2]. Ein tiefer gehender Blick ist das nicht. Dabei lohnt es sich hier wieder, genauer hinzusehen.
Die Geschichte beruht auf dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen [6]. Ein kleines Waisenmädchen hat als letztes Geschenk ihrer Mutter ein paar rote Schuhe bekommen. Sie wächst bei einer alten, reichen Frau auf, die ihr alles gibt, ihr aber die zerschlissenen Schuhe weggenommen hat. Sie nutzt die Farbenblindheit der Frau aus, um sich wieder ein paar rote Schuhe zu erbitten. Sie liebt diese so sehr, dass sie sie zu allen Gelegenheiten trägt, auch zu ganz unpassenden. Ein Soldat verflucht ihre Schuhe, die Schuhe beginnen zu tanzen, ob das Mädchen will oder nicht. Schließlich lassen sie sich sogar nicht mehr abnehmen. Das Mädchen kann erst Erlösung finden, als sie sich die Füße abhacken lässt. Soweit das Märchen, das Kate Bush als Grundstruktur für ihren Song übernimmt: Die Protagonistin bekommt die ersehnten (Wunscherfüllungs)Schuhe geschenkt und wird sie nicht mehr los.
Diese Geschichte wurde auch in dem Film „Die roten Schuhe“ von Michael Powell und Emeric Pressburger als Grundlage verwendet. Hier wird eine Tänzerin zerrissen zwischen ihrer Kunst und der Liebe, auch hier endet diese Geschichte mit dem Tod der Protagonistin [4]. Genau wie im Märchen tanzt die Hauptdarstellerin unaufhaltsam auf ihren eigenen Abgrund zu [7]. Dieser Film hat das Album ingesamt beeinflusst, insbesondere den Song „Moments of Pleasure“ [3]. Der Song „The Red Shoes“ aber geht nach Kate Bushs Aussage primär auf das Märchen zurück.
„It’s not really to do with his film but rather the story from which he took his film. You have these red shoes that just want to dance and don’t want to stop, and the story that I’m aware of is that there’s this girl who goes to sleep in the fairy story and they can’t work out why she’s so tired. Every morning, she’s more pale and tired, so they follow her one night and what’s happening is these shoes… she’s putting these shoes on at night before she goes to bed and they whisk her off to dance with the fairies.“ [3].

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Kate Bush hatte die Idee zu diesem Song, als sie am Piano saß und auf einmal die Musik wie von selbst und ohne ihr Zutun zu laufen begann. „The image in her mind ‚was like horses galloping and running away, with the horses turned into running feet, and then shoes galloping away with themselves‘. Which corresponded, conveniently enough, with the key fairy-tale element in the Powell film: the red pumps worn by the tragic ballerina, which are imbued with a magic that carries their wearer off in a terrible outpouring of expressiveness.“ [4]
Die roten Schuhe im Märchen und im Film thematisieren den Zwiespalt, vor dem die beiden Hauptcharaktere stehen. Sie sind zwischen „erwarteter Angepasstheit und Sehnsüchten andererseits hin und her gerissen“ [7]. Sowohl im Märchen als auch im Film sind die Mädchen/Frauen dem nicht gewachsen. Sie verlieren die Kontrolle über ihr Leben.
Es gibt allerdings auch die Geschichte „Der Zauberer von Oz“, wo das Geschehen um die roten Schuhe für die Protagonistin gut ausgeht [12]. Dorothy erschlägt bei der Ankunft in Oz im Wirbelsturm mit ihrem Haus die böse Hexe des Ostens. Deren magische rote Halbschuhe sind ab da an den Füßen von Dorothy und ihr zu Diensten. Die Gefahr ist, dass die böse Hexe des Westens sich versuchen wird zu rächen und Dorothy die Schuhe wieder abnimmt.
Rote Schuhe sind magisch und von Menschen kaum beherrschbar, sie gehören eigentlich den bösen Hexen. Sie übererfüllen Wünsche. Sie symbolisieren die Besessenheit – von Wünschen, von Sehnsüchten, von der Verwirklichung in der Kunst. Es liegt nicht fern, das mit der akribischen, perfektionistischen Arbeitsweise von Kate Bush in Verbindung zu bringen.
Musikalisch ist „The Red Shoes“ von einem pulsierenden, vorantreibenden Rhythmus bestimmt, es wirkt wie ein schwereloser Tanz. Ganz im Sinne der Geschichte – die Protagonistin bekommt die ersehnten Wunscherfüllungsschuhe geschenkt und wird sie nicht mehr los – könnte dieser Rhythmus ewig weiterlaufen. Es gibt drei Stimmebenen im Song (in der Bezeichnung der Songabschnitte orientiere ich mich an [13]) – eine fast kindlich hohe Singstimme, eine Singstimme in Mittellage und ein Chor aus Männerstimmen. Dieser Wechsel der Perspektiven allein macht aus dem Song ein hochkomplexes Gebilde. Die hohe Singstimme wird benutzt im Vers 1 („Oh, she move like the Diva do“), im Chorus 1 („Oh it’s gonna be the way you always thought it would be“), im Vers 2 („Oh, the minute I put them on / I knew I had done something wrong“) und in der Bridge („Feel your hair come tumbling down / Feel your feet start kissing the ground“). Es ist die Stimme der kindlich-naiven Protagonistin.
Die Singstimme in der Mittellage kommt im Pre-Chorus 1 („With no words, with no song / You can dance the dream with your body on“), im Pre-Chorus 2 („And this curve, is your smile / And this cross, is your heart / And this line, is your path“), im Pre-Chorus 3 („With no words, with no song / I’m gonna dance the dream / And make the dream come true“) und im Outro („You gotta dance“) zum Einsatz. Es ist die Stimme der Hexe, von der die Protagonistin die Schuhe bekommt.
Der Chor hat seinen Einsatz im Chorus 2: „She gotta dance, she gotta dance / And she can’t stop ‚till them shoes come off“. Es sind zuschauende Menschen, die das Geschehen kommentieren. Alle drei Stimmen erzählen dabei ihren Teil der Geschichte aus der Ich-Perspektive. Das letzte Wort hat die Hexe („You gotta dance“ im Outro), die Geschichte geht nicht gut aus.
Zur musikalischen Analyse ist ein Blick in die Noten hilfreich [8]. Der Song ist durch einen durchgehenden 12/8-Takt geprägt, es ist ein unablässig pulsierender Rhythmus, sehr tänzerisch. Die Gesangsstimme setzt sich über die Taktschwerpunkte hinweg, dadurch entsteht ein schwebender Eindruck. Die Tonart ist ein reines G-Dur, die allein vorkommenden Akkorde sind G-Dur (Tonika) und Abwandlungen des D-Dur-Akkords, der Dominante (insbesondere der Dominantseptakkord). Die Struktur ist stark angelegt an madagassische Musik, sie ist der Struktur von „Eat the Music“ sehr ähnlich [9]. Del Palmer hat diesen Einfluss der afrikanischen Musik in einem Interview auch bestätigt [5].
„The album’s title track seems to have an Irish folk music influence, with a big bass drum sound and an unusual legato bass part, but again this stems from the music of Madagascar. It’s fascinating how music from different parts of the world can have these similarities. All the mandarins and mandolas are played by Paddy, who has really gone into this sort of music, and he also plays all the various whistles and flutes on the track“. [5] Wie schon bei „Eat the Music“ spielt der Madagasse Justin Vali die Valiha, das madagassische Nationalinstrument.
Musikalisch gesehen sind den Songteilen der Protagonistin und der bösen Hexe leicht abweichende Akkordfolgen zugeordnet. Für die Protagonistin steht eine Kombination aus D7, D7sus4 und Gadd4/D, für die Hexe eine Kombination aus D7 und G/D [8]. Immer wenn die Hexe gesungen hat, dann greift ihre Akkordfolge auf die darauffolgenden Gesangspassagen der Protagonistin über. Der Zauber wirkt. Zum Schluss „gewinnt“ dann die Akkordfolge der Hexe. Die beiden Akkordfolgen sind sich sehr ähnlich, sie unterscheiden sich nur in Nuancen. Protagonistin und Hexe sind daher wahrscheinlich zwei Seiten einer Persönlichkeit.
Die Tonart G-Dur ist gemäß Beckh [10] eine zwiespältige Tonart, was zu der gespaltenen Persönlichkeit Protagonistin/Hexe passen könnte. In reiner Form symbolisiert sie „die sprießende Blütenfülle der Maienzeit, die Liebesoffenbarung im Werden der Natur“, sie steht für das Anmutige, Liebliche, Bescheidene, Innige, Kindliche, Unschuldige. Diese Unschuld findet sich in der naiven Protagonistin wieder. In negativer Form ist G-Dur die Tonart des Sinnenrauschs, sie steht für eine vorgetäuschte Innigkeit, sie ist sinnlich verführerisch und berückend. Was könnte besser zur Hexe passen, welche die Protagonistin verführt?
Beckh weist darauf hin, dass G-Dur in seiner negativen Form die einschmeichelnde, verführerische, versucherische Tonart der Botin (Hexe?) Kundry aus Richard Wagners „Parsifal“ ist. Mit Kundry als Werkzeug will dort der Bösewicht Klingsor dem Toren Parsifal die Unschuld rauben, so wie vielen Gralsrittern zuvor. Erlösung kann sie nur erlangen, wenn ein Mann ihrer Verführung widersteht [11]. Auch dieser Mythos findet sich für mich im Song verarbeitet wieder, an Zufall kann ich nicht recht glauben. Anklänge an Mythen, Märchen und Geschichten aller Art legen sich somit im Song „The Red Shoes“ übereinander. Auch musikalisch ist das vielschichtig und faszinierend umgesetzt. Man kann diesen Song in kurzen Sätzen abhandeln, wie es Thomson und Jovanovic tun – aber dann sieht man nicht die ganzen Feinheiten. Aber das Album „The Red Shoes“ wird ja gern mißachtet, vielleicht ist das mit eine Ursache dafür. Ich teile das nicht. Der Song ist es wert, dass man genauer hinschaut. © Achim/aHAJ

[1] Rob Jovanovic: Kate Bush. Die Biographie. Höfen. Koch International GmbH/Hannibal. 2006. S.183
[2] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.318
[3] Marianne Jensen: „Rubber Souls“. Vox. November 1993.
[4] Nick Coleman: „Daft As A Bush“. Time Out. November 1993.
[5] N.N.: „Well red“. Interview mit Del Palmer. Future Music. November 1993.
[6] https://hekaya.de/maerchen/die-roten-schuhe–andersen_72.html (gelesen 01.01.2020)
[7] https://babyduda.com/hans-christian-andersen-die-roten-schuhe/?cn-reloaded=1 (gelesen 30.03.2020)
[8] Kate Bush: The red shoes (Songbook). Woodford Green. International Music publications Limited. 1994. S.53ff
[9] http://morningfog.de/?page_id=2608#etm (gelesen 01.01.2020)
[10] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.222ff
[11] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Parsifal (gelesen 01.01.2020)
[12] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Der_Zauberer_von_Oz_(1939) (gelesen 02.04.2020)
[13] https://genius.com/Kate-bush-the-red-shoes-lyrics (gelesen 01.04.2020)

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There Goes A Tenner

There Goes A Tenner stammt vom Album The Dreaming aus dem Jahr 1982, einem Album, in dem die Komponistin und Sängerin ALLES will und auf dem jeder Song ein Experiment ist. Der Gesang geht weg von der auf den früheren Alben vorhandenen Süße und Leichtigkeit hin zu mehr Ernst, er ist tiefer und  kräftiger, erdiger. Es gibt noch mehr Stimmfärbungen als früher, den Inhalten angepasst, die Stimme ist dabei immer unter völliger Kontrolle. Themen des Albums sind Konflikte und der Kampf gegen Hemmnisse, Grenzen und Selbstzweifel.
There Goes A Tenner nimmt alle diese Dinge auf und zeigt sie uns fast exemplarisch. Auf den ersten Blick scheint der Song fast leicht, aber er ist viel komplexer, als er erscheint. Man sieht schon an meiner Literaturliste, wie viele verschiedene Aspekte es zu erfassen gab. Die Biografen machen es sich wieder recht einfach und schauen auf die Oberfläche. Typisch ist Graeme Thomson, der meint, der Song sei „eine tänzelnde Krimiparodie, die sich durch Kate Bushs weichen, melodischen Cockney-Akzent auszeichnet“ [1].
Der Song wurde am 2. November 1982 als Single veröffentlicht [7]. Die Kritiken zur Single waren nicht sehr positiv, um es neutral zu sagen. Beispiele kann man auf [7] nachlesen. Sie war ein Misserfolg: „There Goes a Tenner attracted no interest from radio stations and television stations. The single did not sell well and became Bush’s first single to miss the top 75 in the UK, peaking at number 93“ [8]. Daran änderte auch das skurrile Video nichts, das von Paul Henry inszeniert wurde und das Kate als Teil einer Bande zeigt, die eine Bank ausraubt [7].
Kate Bush schien sich klar darüber zu sein, dass der Song als Single nicht ideal war. Für sie war es aber offensichtlich einer der zugänglichsten Titel des Albums: „But I think I’ve reached a stage where, because The Dreaming didn’t work, we all felt–especially from an airplay point of view–that in order to get airplay, which you need for a single to work, we should go for one that was more obvious, and there is no doubt that There Goes a Tenner is one of the more obvious songs.“ [6]

Das Ungewöhnliche, Experimentelle des Songs wird gut von Rob Jovanovic beschrieben, der den „skurrilen Mix aus spöttischem Londoner Akzent, einem hohen, mädchenhaften Refrain und gut eingefangener irischer Klangfarbe“ hervorhebt [2]. Auch den vielgestaltigen Gesang stellt er heraus: „Der schizophrene Gesang passte gut zum Auf und Ab der Stimmung in diesem Song, und die tuckernde Melodie wurde häufig für sanfte Zwischenspiele unterbrochen“ [2].
„Mit einer Barpiano-ähnlichen Einlage beginnt There goes a Tenner, dazu setzen Bläser ein […] und durch die Trompeten und die Breaks hat man das Gefühl, die gehetzte Sängerin stolpert auf der Flucht vor was auch immer durch die Gegend“ [3]. Der Gesang der Protagonistin ist zurückgenommen, sie singt mit einem deutlichen Akzent. Aber immer wieder wird die Protagonistin von einem gegensätzlichen Impuls in Träumereien abgelenkt, eine hohe Stimme enthüllt Selbstzweifel [16]. Das sind fast comicartige Einlagen, in einer kindlichen Stimme gesungen („all my words fade“). Es gibt zudem dunkle, tiefe, düstere Töne im Chorus („We‘re waiting“), die wie eine Ermahnung aus dem Grab klingen. Karikatur und Düsternis treffen in diesem Song zusammen – es ist ein gereiftes Echo auf das ähnliche Coffee Homeground vom Album Lionheart. „Die atmosphärischen Einlagen lassen den Song noch seltsamer und zugleich wunderbarer werden [3].
Aber im Untergrund dieses Songs ist offenbar etwas nicht in Ordnung. There Goes A Tenner ist skurril, aber beunruhigend [16], „[der Song] hat einen düsteren Subtext“ [1]. Graeme Thomson hat dazu eine Vermutung. „Die an einen Krimi aus den Ealing-Filmstudios erinnernde Geschichte von Amateurganoven, die ihr „großes Ding“ planen […], lässt die Interpretation zu, dass Kate Bush hier unbewusst die eigenen Ängste und Unsicherheiten bei der Produktion ihres Albums kommentiert“ [1]. Für mich ist das ein nicht von der Hand zu weisender Aspekt, aber es gibt noch mehr zu entdecken.
Worum geht es in There Goes A Tenner? Graeme Thomson fasst es ganz kurz zusammen: „Zu der bläserdominierten Melodie erzählte Kate von einem Bankraub oder Überfall, der schief ging“ [2]. Kate Bush hat sich in Interviews recht ausführlich dazu geäußert. „It’s about amateur robbers who have only done small things, and this is quite a big robbery that they’ve been planning for months, and when it actually starts happening, they start freaking out. They’re really scared, and they’re so aware of the fact that something could go wrong that they just freaked out, and paranoid and want to go home“ [6].
Diese Bankräuber warten darauf, dass der Überfall beginnt, dieses Warten ist für Kate Bush eines der Hauptthemen des Songs: „One of the bits in the song is all about waiting, and how the first time they’re just waiting for something to go wrong, and the second time they’re just waiting for the guy to blow the safe up, because when he blows it up, there is so much that could go wrong“ [6].
Beeinflusst wurde Kate Bush durch alte Gangsterfilme, die ihr immer etwas unrealistisch erschienen. Da haben die Räuber alles unter Kontrolle. Kate Bush kann sich das nicht vorstellen: „It’s sort of all the films I’ve seen with robberies in, the crooks have always been incredibly in control and calm, and I always thought that if I ever did a robbery, I’d be really scared, you know, I’d be really worried. So I thought I’m sure that’s a much more human point of view“ [6]. Colin Irwin kommentiert die ganze Thematik so: „Personally I reckon the girl watches too many B-movies“ [4]. Da kann ich nur sagen: zum Glück! Ich sehe viele Einzelheiten des Songs in einem anderen Licht, wenn ich ihn in einem zweiten Durchgang höre. Es ist wie bei guten Kriminalfilmen, bei denen Details im Nachhinein auf einmal eine ganz andere Bedeutung bekommen. Ich wähle diesmal daher ein neues Vorgehen, ich analysiere den Song in zwei Durchgängen. Auf Details des Songs und des Textes kann ich so quasi im Vorbeigehen eingehen.
Der Gesamteindruck des ersten Durchlaufs ist klar: die Protagonistin erzählt die Geschichte des Bankraubs bis zum Scheitern durch eine große Explosion. Der Song ist dabei in ganz klar erkennbare Abschnitte gegliedert, die sich insbesondere in der Stimmfärbung klar voneinander unterscheiden (drei Strophen, zwei Pre-Chorus-Abschnitte, zwei Chorus-Abschnitte, zwei Post-Chorus-Abschnitte, ein Outro).

Geschrieben ist der Song in einem fast reinen 4/4-Takt, bis auf eine ganz kleine Ausnahme [9]. Dieser Takt sorgt dafür, dass der Song geradlinig und entschieden vorangeht. Vielleicht hat auch das dafür gesprochen, ihn zu einer Single zu machen. Notiert ist das mit 2b, das ist hier ein g-Moll. Der ganze Song enthält fast nur Akkorde dieser Tonart bis auf einige ganz wenige Ausnahmen. Außer den Akkorden der g-Moll-Skala kommt nur noch der As-Dur-Akkord vor [9].
Nach Beckh [10] besitzt die Tonart g-Moll eine eher tragische Färbung. Hier fehlt die Hoffnung, es ist ein „unter Tränen lächeln“. G-Moll steht laut Beckh für zu frühes Verzagen, zu frühes Aufgeben der Hoffnung. Als typisches Beispiel führt er die Arie der Pamina „Ach, ich fühl‘s“ aus der Zauberflöte von Mozart an. G-Moll, das ist tragischer Schicksalsernst. Diese Tonart ist eigentlich viel zu dunkel für das comicartige Geschehen, sie weist vielleicht schon auf das Scheitern des Einbruchs oder auf noch düstere Dinge hin.

„Okay, remember“.
Die Strophen werden in einem fast erzählenden Tonfall gesungen, nah an Sprache, mit Cockney-Akzent. Der Anfang der ersten Strophe zeichnet ein klares Bild einer Räuberin, die die Pläne durchgeht, die sie und ihre Partner ausgearbeitet haben. Die Wiederholung von „Okay, remember“ zeigt die Nervosität der Protagonistin. Sie versucht sicherzustellen, dass ihre Partner den Plan genau befolgen, um Fehler zu vermeiden und nicht erwischt zu werden.

„The sense of adventure / Is changing to danger“.
Aber diese Räuber scheinen überfordert zu sein. Kate Bush hat erwähnt, dass das Lied davon inspiriert ist, wie kontrolliert und ruhig Kriminelle in Filmen wirken, wenn sie Raubüberfälle begehen und wie schrecklich nervös sie selbst wäre, wenn sie eine Bank ausrauben würde. Der „sense of adventure“ bezieht sich darauf, dass die Erzählerin offenbar geglaubt hat, ein Bankraub würde Spaß machen und abenteuerlich sein. Das ist diese Romantisierung in Filmen, von der Kate Bush gesprochen hat. Jetzt aber bereut die Protagonistin dies offenbar. Das Abenteuer hat sich „in Gefahr verwandelt“. Die Realität der Situation gewinnt die Oberhand und die Protagonistin erkennt jetzt, dass Gefahr auf sie zukommt.

„My excitement / Turns into fright“
Die Aufregung verwandelt sich in Angst. Dieser Pre-Chorus-Abschnitt wird in einer etwas höheren Stimme gesungen, das ist melodischer und gesanglicher als in den Strophen, klingt weniger wie eine Erzählung. Während der gesamte Song fast durchgängig im 4/4-Takt steht, findet sich in den beiden kurzen Pre-Chorus-Abschnitten der ungewöhnliche 5/4-Takt [9]. „Der 5/4-Takt zeichnet sich in der Welt des Rhythmus durch seine einzigartige Struktur aus. Bei dieser Taktart gibt es fünf Schläge pro Takt, wobei die Viertelnote einen Schlag erhält. Dadurch entsteht ein ungerader, unregelmäßiger Rhythmus […]“ [11].
Warum gibt es diese kleine, kaum merkliche Ausweichung in einen anderen Takt? Das Lied würde auch wunderbar funktionieren, wenn hier auch der 4/4-Takt gegeben wäre. Es muss also eine Bedeutung haben, einen verborgenen Sinn besitzen. Der 5/4-Takt ist schon etwas recht Seltenes und er wird oft dann verwendet, wenn etwas von der Normalität Abweichendes ausgedrückt werden soll. „Gustav Holst verwendete den 5/4-Takt für die Eröffnung seines Meisterwerks „The Planets“ [….]. Mit „Mars – the bringer of war“ schuf er eine dramatische [Musik]“ [11]. Aber ich vermute, eine ganz andere Assoziation könnte Kate Bush zur Verwendung dieser Taktart inspiriert haben. „Ein weiteres bemerkenswertes Musikstück, das den 5/4-Takt verwendet, ist das Thema aus der bekannten Film- und Fernsehserie Mission Impossible, komponiert von Lalo Schifrin“ [11]. Diese Serie stammt aus den Jahren 1966 bis 1973 [12], Kate Bush als erklärte Fernseh- und Filmliebhaberin wird sie sicherlich gekannt haben. Eine Geschichte über einen scheiternden Bankraub und dazu „Mission Impossible“, ich finde das sehr einleuchtend.
„All my words fade / What am I gonna say? / Mustn’t give the game away“ Dies ist der erste Chorus-Abschnitt, gesungen wird mit einer hohen kindlichen Stimme, wie ein kleines Kind, das sich im Dunkeln fürchtet. Ist die Protagonistin in die Kindheit zurückversetzt, erinnert sie sich daran? Ich spüre das Bangen darum, dass alles gut geht. Hier gibt es eine Abweichung von g-Moll, der As-Dur-Akkord erklingt zu den Anfangssilben von „What am I gonna say / Must‘nt give the game away“[9]. Zur Bedeutung dieser weit von g-Moll entfernten Tonart beziehe ich mich wieder auf Beckh [10]. As-Dur ist die „zur tiefsten Tiefe hinunterführende Tonart“. Es ist die dunkelste der Dur-Tonarten, das „Licht in der Finsternis“, vom mysteriösem Charakter. Beckh verwendet Ausdrücke wie „Schwanengesang“ und „Durchgang durch die Todespforte“ [10]. Warum wird in den Chorus-Abschnitten aus dem ansonsten streng durchgehaltenen g-Moll des Scheiterns und der Tragik in so eine Tonart des Übergangs in eine Jenseits-Welt ausgewichen? Ein Versuch einer ersten Deutung: Die Protagonistin ist innerlich voller Angst, von düsteren Vorahnungen erfüllt.

„We‘re waiting“
Hier im Post-Chorus ist musikalisch alles anders. Ganz tiefe Stimmen sind zu hören, kaum zu verstehen. Das ist dunkel und unheimlich. Es gibt keine klare Melodie, nur miteinander verschwimmende Akkorde im vollen Orchesterklang. Die Nervosität der Protagonistin schlägt in Angst um, während sie auf den geplanten Zeitpunkt des Überfalls wartet („Wir warten…“).

„We got the job sussed“
Die zweite Strophe ist musikalisch genauso wie die erste Strophe gestaltet. Die Nervosität der Protagonistin schlägt in fehlgeleitetes Selbstvertrauen um („Wir haben den Job durchschaut …“). Alles scheint unter Kontrolle zu sein, die Protagonistin schildert die genaue Situation. Der Plan sieht offenbar vor, einen Tresor mit Sprenggelatine (englisch „gelignite“) zu sprengen. Aber langsam kommen die Ängste der Protagonistin wieder („I’m having dreams about things not going right“).

„Both my partners / Act like actors“
Der zweite Pre-Chorus ist musikalisch wie der erste Pre-Chorus, wieder finden wir die etwas höhere Stimme, wieder finden wir den 5/4-Takt. Langsam gleitet der Text ins Irreale. Faustregel in diesem Song: je höher die Stimme, desto irrealer.
„You are Bogart, he is George Raft / That leaves Cagney and me“ Dieser zweite Chorus ist musikalisch eine Kopie des ersten Chorus. Kate Bush vergleicht ihre Diebeskameraden und sich selbst mit Humphrey Bogart, George Raft und James Cagney allesamt Hollywood-Hauptdarsteller aus den 30er und 40er Jahren, die für ihre Rollen als Gangster und andere harte Kerle bekannt waren [13]. Damit wird angedeutet, dass das Team eher Schauspieler als echte Kriminelle sind. Sie sind eigentlich nicht besonders geschickt im Diebstahl und täuschen nur eine ziemlich überzeugende Fassade vor. Eine Männerstimme im Hintergrund fragt dabei „What about Edward G.?“, ein Verweis auf einen weiteren berühmten Schauspieler dieser Zeit, Edward G. Robinson. 
Kate Bush erklärt diesen Bezug auf diese Schauspieler so: „They are people I like. For me, Cagney is one of the greatest actors that has ever been. I just couldn’t believe his acting in White Heat. He’s always played the boy who grew up in a hard time and in a way he was only ever bad because of the things that had influenced him. He comes across as a very human person who had the potential to do something great but was always misled“ [5]. Das gibt eine gute Erklärung, wie Kate Bush die Protagonistin in diesem Song sieht: eigentlich ein guter Mensch, aber fehlgeleitet.
Paul Simper fragte Kate Bush in einem Interview [5], ob der Song von den Krimi-Komödien aus dem Ealing Studios beeinflusst sei. Kate Bush stimmt dem zu: „Yeah, that’s right. So it’s like maybe they get a bit cocky… I dunno, I’ve never done a robbery, but I think that in a situation like that you’d almost try to be like the person you admire so perhaps they’d be like Cagney and George Raft. They idea was nothing like deep – it was just handy! The real challenge of that song was to make it a story but also keep it like a Thirties tune“ [5].

„We’re waiting“
Auch der zweite Post-Chorus ist musikalisch wie der erste Post-Chorus gestaltet. Die Einbrecher warten erneut, während die Zündschnur am Sprengstoff glimmt. Jetzt klingt dieser Stimmenchor fast noch unheimlicher und grabestiefer als beim ersten Auftreten.
„You blow the safe up / Then all I know is I wake up, covered in rubble“ In dieser dritten Strophe ist der Safe explodiert. Sie haben zu viel Sprengstoff verwendet und Banknoten werden in die Luft gesprengt – eine weitere bekannte Szene aus Filmen wie „Butch Cassidy und Sundance Kid“ und anderen [14]. Menschen taumeln in den Trümmern der Bank umher. Die Protagonistin ist von der Explosion betäubt und es ist unklar, ob der Rest des Liedes von Ereignissen handelt, die tatsächlich geschehen sind. Es könnten auch weitere Angstträume sein, wie sie sie schon zuvor hatte. Es könnten aber auch die verwirrten Gedanken von jemandem sein, der gerade in die Luft gesprengt wurde.
„One of the rabble needs mummy („What’s all this, then?“)“ Der Text „What’s all this, then?“ soll nach der Transkription [13] im Hintergrund zu hören sein. Dieser Ausdruck ist für mich kaum zu hören, da muss ich mich auf die Transkription verlassen. Es ist ein Ausdruck, der in der gesamten britischen Kultur, insbesondere in der Komödie, stereotypisch mit Polizisten in Verbindung gebracht wird [14]. Er bedeutet sinngemäß etwa „Was ist denn hier los?“. Offenbar kommt die Polizei zum Tatort. 
„The government will never find the money“ Diese Textzeile ist sehr mysteriös und hat bei Deutungsversuchen im Internet zu Spekulationen geführt. Warum wird niemand das Geld aus dem Tresor finden? Offenbar wurde es vom Winde verweht, wie es der Text später sagt. Bei einem typischen Raubüberfall übernimmt die Polizei die Ermittlungen. Kate Bushs Verwendung des Wortes „Government“ (Regierung) ist also sonderbar [15]. Ist das eine politische Anspielung? Ist der Überfall vielleicht politisch motiviert? Kate Bush hat irische Wurzeln und die IRA hat solche Überfälle durchgeführt. Rob Jovanovic hebt ja auch die irische Klangfarbe des Songs hervor [2]. Es mag sein, dass dies ein sublimer politischer Subtext ist. Es gibt aber im Song keine weiteren Hinweise darauf.
„I’ve been here all day / A star in strange ways“ Diesen Satz kann man mit „Ich bin den ganzen Tag hier / Ein Star auf seltsame Weise“  wörtlich übersetzen, aber das trifft nicht den Doppelsinn. Kate Bush setzt hier ein Wortspiel ein [13]. Die Protagonistin denkt darüber nach, wie merkwürdig es ist, dass einer Kriminellen so viel Aufmerksamkeit zuteil wird und verweist dabei auf Strangeways, ein berühmtes Gefängnis in Manchester. Auf dieses Gefängnis nehmen auch die Smiths in ihrem Albumtitel „Strangeways, Here We Come“ Bezug [13]. Vielleicht ist die Protagonistin nach dem Überfall in dieses Gefängnis verlegt worden.

Ab „I‘ve been here all day“ setzt eingewoben in den Klangteppich eine langgeschwungene Melodie ein, wie ein Lied aus einer anderen Welt. Die musikalische Welt verändert sich und geht in die Welt des Outro-Abschnittes über.
„Apart from a photograph, they’ll get nothing from me / Not until they let me see my solicitor“ Hier hat die Protagonistin einen klaren Moment. Das ist eindeutig eine Verweigerung der Aussage, bevor es eine Rechtsberatung gegeben hat. Ein Solicitor bespricht sich als Rechtsanwalt mit seinem Klienten und berät diesen juristisch, tritt aber nicht selbst vor (höheren) Gerichten auf [17]. Da die Rechtsberatung noch nicht stattgefunden hat, haben wir hier eine klare zeitlich Einordnung: es muss kurz nach dem gescheiterten Raub sein.
„Ooh, I remember / That rich, windy weather“ Nach dem zweifachen Durchgang durch die Abschnitte Strophe – Pre-Chorus – Chorus – Postchorus folgt nach der dritten Strophe nicht ein Abschnitt Pre-Chorus – Chorus – Postchorus, es folgt jetzt ein anders gestaltetes Outro. Hier lösen sich die Dinge wirklich von der Realität. Die Protagonistin ist möglicherweise immer noch bewusstlos oder stirbt sogar. Ab hier ist in der langgeschwungenen Melodie wie aus einer anderen Welt ein Chor aus Kate-Stimmen zu hören, der aber nur Vokalisen singt, keinen Text. Vielleicht ist der Text des Outros eine Erinnerung oder ein halb unbewusster Traumzustand. „Reiches, windiges Wetter“ beschreibt einen Wirbel fliegender Banknoten ziemlich gut. „Ooh, ich erinnere mich an dieses reiche, windige Wetter“, das ist eine Erinnerung an vergangene Dinge.
„When you would carry me / Pockets floating in the breeze“ Taschen, die im Wind schweben …. Jemand, vielleicht einer der anderen Räuber, versucht, sie aus dem Chaos wegzutragen, während ringsum alles durch die Luft fliegt.
„Ooh, there goes a tenner / Hey, look, there’s a fiver“ Da der Sprengsatz zu heftig war, wird das Geld („Zehner“ und „Fünfer“) im Wind verstreut, was den Zweck des Raubüberfalls zunichte macht. Die Erzählerin kann jetzt nur noch auf das davonflatternde Geld starren. Aber der Satz ist merkwürdig, weg von der Realität. Die Protagonistin hat entweder ihre Situation vergessen oder träumt und fragt sich, woher das ganze fliegende Geld kommt.
„There’s a ten-shilling note / Remember them?“ Die 10-Schilling-Note wurde 1970 aus dem Verkehr gezogen, vor der Umstellung des britischen Pfunds auf das Dezimalsystem im Jahr 1971 [13]. Unter der Annahme, dass es im Safe einer Bank der 1980er Jahre keine alten Banknoten gegeben hätte, zeigt dies einen noch tieferen Abstieg in den Traum oder die Unwirklichkeit.

„That’s when we used to vote for him“
Und hier wird es endgültig mysteriös. Wer ist dieser Mann, der offenbar gewählt worden ist? Zur 10-Shilling-Banknote passt vielleicht Harold Wilson, der Premierminister von 1964 bis 1970. Und wenn das so ist, was will uns diese Zeile sagen? Ich habe nicht die geringste Ahnung! Aber damit bin ich nicht allein, Jamie Andrews befragte dazu Kates Bushs Bruder: „Unfortunately, even John Carder Bush did not know who „him“ is, when I asked him about it“ [18].
Das Outro lässt viele Fragen offen. Warum dieses Zurück in eine vergangene Zeit? Spielt da die Geschichte? Oder erinnert sich die Protagonistin an etwas weit Zurückliegendes? Ist der Song ein alles rekapitulierender Fiebertraum im Todeskampf nach der Explosion, ist es eine Erinnerung am Rande des Totenreichs? Nehmen wir dies als Prämisse an und gehen noch einmal in einem zweiten Durchgang durch den Song, schauen, ob es Sinn ergibt!
Die Tonart g-Moll macht unter diesen Voraussetzungen mehr Sinn. G-Moll, das ist ja nach Beckh [10] tragischer Schicksalsernst, hier fehlt die Hoffnung. Jetzt im Nachhinein passt diese Tonart viel besser. Die Geschichte ist tragisch von Anfang an, es hat nie Hoffnung gegeben. Der Song beginnt mit der ersten Strophe, mit der Textzeile „Okay, remember“. Das lässt sich also alles als Erinnerung auffassen. Das bemerkt man nicht zu Beginn des Hörens, die Idee kommt erst zum Schluss des Dings auf. In diesem Song geht es um das sich Erinnern der Protagonistin, das sagt die erste Zeile.
„All my words fade / What am I gonna say? / Mustn’t give the game away“ Dies ist der erste Chorus-Abschnitt. „Alle meine Worte verblassen / Was soll ich sagen? / Wir dürfen das Spiel nicht verraten“ – deutet sich hier das Sterben an, „verblasst“ die Protagonistin? Zu den Anfangssilben von „“What am I gonna say / Must‘nt give the game away“ kommt hier der As-Akkord vor [9]. Nach Beckh [10] ist As-Dur die zur tiefsten Tiefe hinunterführende Tonart, der „Schwanengesang“, der „Durchgang durch die Todespforte“. Es ist eine Tonart des Sterbens, so macht die Verwendung auf einmal viel mehr Sinn.

„We‘re waiting“
Diese dunklen, tiefen, düsteren Töne im Post-Chorus klingen wie eine Ermahnung aus dem Grab. Sind das eventuell die durch den Sprengstoff getöteten Mittäter, die auf das Sterben der Protagonistin warten? Auch das hört man beim ersten Durchhören nicht, dazu braucht man die Kenntnis der ganzen Geschichte. Sind wir hier in der durch den As-Dur-Akkord angekündigten Jenseits-Welt? Hören wir hier die Stimmen der anderen Seite? Warten hier die Toten im Jenseits auf die Protagonistin? Dieser Post-Chorus macht für mich aus diesem Blickwinkel sehr viel Sinn.
„I’ve been here all day / A star in strange ways“ In der dritten Strophe setzt ab „I‘ve been here all day“ eingewoben in den Klangteppich eine langgeschwungene Melodie ein, wie ein Lied aus einer anderen Welt klingt. Sind das himmlische Engelsstimmen? Der Text der dritten Strophe lässt sich so auffassen, dass die Protagonistin in einer Art Zwischenreich zwischen Leben und Tod gefangen ist, vielleicht schon lange.
„Ooh, I remember / That rich, windy weather“ Im Outro-Abschnitt ist in der langgeschwungenen Melodie wie aus einer anderen Welt ein Chor aus Kate-Stimmen zu hören, der aber nur Vokalisen singt, keinen Text. Vielleicht sind es wirklich Engelsstimmen aus dem Jenseits. Im Text wird wieder das Erinnerungs-Motiv beschworen. Das könnte wieder eine Erinnerung der sterbenden Protagonistin sein. Die Dinge lösen sich von der Realität, die Protagonistin ist im ewigen Kreislauf der Erinnerungen gefangen. Wieder kommt der As-Dur-Akkord dazu, auf „Remember“ bei „Oh I remember / That windy weather“ und zu „Tenner“ in „Oh There Goes a Tenner“ [9]. Spricht hier die Protagonistin an der Todespforte? Für mich enthält der gesamte Text des Songs die letzten Worte einer Sterbenden. Vielleicht ist sie schon seit langer Zeit in einer Art Zwischenreich, dem Fegefeuer – der Bankraub passierte, als es noch 10-Shilling-Banknoten gab.
There Goes A Tenner ist wunderbar. Es ist ein Song mit so vielen Details, dass es richtig Spaß macht, das alles zu entschlüsseln. Eine skurrile, comicartige Krimiparodie verdeckt für mich eine düstere zweite Ebene. Aber der Song ist auch einfach so bezaubernd, man muss nicht tiefer blicken. Kate Bush nimmt in ihren Äußerungen zum Song auch nur Bezug auf die erste Ebene. Einfach mal wieder hören, das ist mein Rat. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.241
[2] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.135
[3] https://www.musikansich.de/review.php?id=10175 (gelesen: 04.04.2024)
[4] Colin Irwin: Review The Dreaming. Melody Maker. 11.09.1982.
[5] Paul Simper: Dreamtime is over (Interview). Melody Maker. 16.10.1982.
[6] „The Dreaming Interview“. CBAK 4011 CD (picture disk).
[7] https://www.katebushencyclopedia.com/there-goes-a-tenner/ (gelesen: 31.03.2024)
[8] https://en.m.wikipedia.org/wiki/There_Goes_a_Tenner (gelesen 08.04.2024)
[9] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.158f
[10] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.248f (g-Moll) und S.196ff (As-Dur)
[11] https://www.skoove.com/blog/de/takt-und-taktarten/ (gelesen 08.04.2024)
[12] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Theme_from_Mission:_Impossible (gelesen 08.04.2024)
[13] https://genius.com/Kate-bush-there-goes-a-tenner-lyrics (gelesen 01.04.2024)
[14] https://www.reddit.com/r/katebush/comments/xj1j94/how_do_you_interpret_the_last_verse_of_there_goes/?rdt=53197 (gelesen: 04.04.2024)
[15] https://songmeanings.com/songs/view/54728/ (gelesen: 04.04.2024)
[16] https://www.daysoftheunderground.com/post/kate-bush-rock-folk (gelesen: 04.04.2024)
[17] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Barrister#:~:text=Ihm%20gegen%C3%BCber%20steht%20der%20Solicitor,vor%20Gericht%20(um%201900) (gelesen 08.04.2024)
[18] http://gaffa.org/dreaming/td_tgat.html (gelesen 09.04.2024)

The Saxophone Song

The Sensual World

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Wenn es einen Song von Kate Bush gibt, der durch seinen Titel ihre Lied-Welt in einer prägnanten Formel zusammenfasst, dann ist das „The sensual world“. Denn darum geht es in den meisten Liedern von Kate Bush: das Erleben einer sinnlichen Welt, die Kommunikation mit der Natur, Liebe und Sexualität und Zuneigung und Kampf als Einheit. Für “The Sensual World” sollte ursprünglich der von Sinnlichkeit und Erotik erfüllte Schlussmonolog der Molly Bloom aus dem “Ulysses” von James Joyce als Textgrundlage genommen werden. Dieser Monolog ist „the mother of all postcoitally sunny sunday mornings“ [2], er handelt von Liebe, Begehren, Sex – was könnte besser passen in die Lied-Welt von Kate Bush? Da die Rechte nicht zu bekommen waren, entstand ein neuer Text in Anlehnung daran. Das Tagträumen über Liebe und Sexualität ist jetzt angereichert um das Motiv des Hereintretens in die sinnliche, “wahre” Welt (“Stepping out of the page into the sensual world.”). Die Protagonistin tritt hinein in die Welt und beginnt ihre Erfahrungen. Kate beschreibt das so: “In dem Song steigt die Hauptfigur aus ihrer schwarzweißen, zweidimensionalen in die richtige Welt um. Der erste Eindruck ist die Sinnlichkeit dieser Welt. Die Tatsache, dass man Dinge anfassen kann, dass man die Farbe der Bäume sehen, das Gras unter den Füßen fühlen kann. Die Tatsache, dass wir von so viel Sinnlichkeit umgeben sind. Wir nehmen sie gar nicht mehr wahr. Aber ich bin mir sicher, dass jemand, der das alles vorher nicht erlebt hat, davon vollkommen überwältigt wäre.” [1] Der Song beginnt mit Kirchenglocken, die komplexe Melodie- und Harmoniefolgen spielen. Diese Geläute sind in England zum Beispiel zum Neujahrsbeginn üblich („Wechselläuten“). Etwas Neues beginnt. Wir erleben ein Aufwachen in einem neuen Leben (in der Wirklichkeit) mit. Leise gesungen, fast geflüstert – nur nicht richtig aufwachen, diesen Traummoment festhalten. Ein Flüstern im Erwachen, im Halbschlaf, wenn zwei Liebende nackt nebeneinander liegen. Ist dies das neue Leben nach dem Sex mit dem Richtigen? Sind es Hochzeitsglocken, die wir hier gehört haben, wie P. Paphides meint? [2] Der Text ist bei genauerem Hinsehen ein kaum verschleierter pornographischer Text. Passagen wie „and the down of a peach says mmh, yes“ und „And his spark took life in my hand and, mmh, yes, I said, mmh, yes, But not yet, mmh, yes“ würde ich jedenfalls so interpretieren. Das „yes“ steht im urspünglichen Monolog aus Ulysses zudem für das Bejahen der Sexualität. Naturelemente im Text (flower of the mountain, peach usw.) verbinden und verknüpfen dies mit der sinnlich-realen Welt der Natur. Das Heraustreten aus den Seiten des Buches wird mit irisch anmutenden Klängen (der Ulysses spielt in Dublin) der Uilean Pipes begleitet. Diese Musik hüllt die Stimme von Kate ein wie ein dünnes, durchsichtiges Tuch. Sie ist von einem makedonischen Hochzeitslied inspiriert [2] – etwas Neues beginnt, die Vereinigung zweier Menschen. Gefeiert wird eine Menschwerdung, die vielleicht nur zu zweit perfekt gelingen kann. Die Musik ist komplex, verwoben, weich, durch sich überlagernde Strukturen gekennzeichnet. Die Stimme ist integriert, eine Klangfarbe unter vielen. Die Musik setzt sich so genauso aus verschiedenen Ebenen zusammen wie der Text. Zwei Ebenen überlagern sich – „Ulysses“ und Menschwerdung. Aber „Before the dawn“ mit seinen düsteren Elementen selbst im hellen Himmel aus Honig mahnt zur Vorsicht – gibt es etwa auch hier Dunkleres? Eine weitere Interpretation ist möglich, die einer Beschwörung. Eine Figur tritt aus den Blättern eines Buches hervor und bemächtigt sich eines weiblichen Körpers (“He said I was a flower of the mountain, yes, / But now I’ve powers o’er a woman’s body, yes.”). Dann wären die Glocken Auftakt einer dunklen Messe und das Lied der Uilean Pipes Teil eines Rituals. Es sind diese nicht aufgeklärten Mehrdeutigkeiten und das Zusammenfügen von vollkommen unterschiedlichen Sichtweisen, die Songs von Kate Bush für mich so faszinierend machen. „The sensual world“ ist dafür ein herausragendes Beispiel. (© Achim/aHAJ)  
[1] C. Rebmann: “Kate Bush”; Fachblatt Musikmagazin 11/89
[2] Peter Paphides: The sensual world; Mojo 10/2014, S. 71
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The Song Of Solomon

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Bekanntermaßen entstanden viele Songs für das Album “The Red Shoes” in einer für Kate schmerzlichen Phase. Der Tod ihrer Mutter, die Trennung von Del Palmer, eine generelle Desillusionierung vom künstlerischen sowie privaten Leben erschwerten Schreib- und Produktionsprozess. Einige Songs haben darunter gelitten, bei anderen hat sie es geschafft, Enttäuschung und Schmerz musikalisch zu einem Meisterwerk zu kanalisieren. “The Song Of Solomon” zählt für mich definitiv zu letzteren. Der sonst so treffsichere Graeme Thomson sieht ihn als “gefährlich nahe an steriler Hintergrundmusik”1, was ich nicht nachvollziehen kann.
Kate ließ sich hier von einer im wahrsten Wortsinn heiligen Quelle inspirieren, vom Hohelied Salomos aus dem Alten Testament. Diese Sammlung von Liebeshymnen in acht Kapiteln feiert die Sexualität in grandiosen Metaphern, sowohl Mann als auch Frau sprechen, allerdings hat die Sphäre der Frau ein großes Übergewicht. Später ist der Aspekt der körperlichen Liebe sowohl im Juden- als auch Christentum umgedeutet worden als die Beziehung der Kirche zu Gott, was in der Aufklärung wieder revidiert wurde. Bei Kate tritt das Sehnsuchtselement in den Vordergrund: “Das Lied eines jeden, der den Pfad des einsamen Herzens geht”. Es ist ein Lied der verzweifelten Suche nach Liebe und der Bereitschaft zu bedingungsloser Hingabe. Man kann über die Direktheit erschrecken: “Don’t want your bullshit, just want your sexuality. ” Im Gegenzug kündigt die Sängerin an, dass sie für den Geliebten die “rose of sharon” und die “lily of the valleys” sein wird, Begriffe für die Schönsten unter allen Blumen, und dass sie mit der Macht eines Hurricanes zu ihm kommen wird. Direkt aus dem Bibeltext zitiert Kate aus dem zweiten Gesang die Stelle: “Er erquickt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe! Seine Linke liegt unter meinem Kopf, und seine Rechte umfasst mich.”2
“The Song of Solomon” ist mit seiner starken, unverblümten Sprache aus weiblicher Sicht eine Fortsetzung des Titelstücks aus “The Sensual World”, aber ihm fehlt die erotische Erfüllung. Man spürt das an der Tonlage: In Molly Blooms Monolog singt Kate mit eher tiefer, entspannter Stimme, hier durchgängig in hohem bis sehr hohem Register – das verzweifelte Drängen kommt dadurch wunderbar zum Ausdruck. Unterstützt wird sie vom Trio Bulgarka. Die in die Schlussstrophe (eine Art nachgelieferte Bridge) eingepassten Harmonien der Bulgarinnen stammen noch aus den Sessions zu “The Sensual World”. Sie verstärken den sehnsuchtsvollen Charakter, gleichzeitig erhält der Song dadurch einen pastoralen Touch. Das passt, denn viele Szenen im Hohelied sind Hirtenszenen. Diese Stelle im “Song Of Solomon” ist für mich der emotionale Höhepunkt des gesamten Albums “The Red Shoes”. Man findet auch keinen vokal intensiveren Moment auf dem Werk: Hier regieren die Stimmen – die paar Fender Rhodes-, Klavier- und Percussion-Tupfer sind Nebensache, wie eigentlich im ganzen Song. In der einen Halbton nach unten gerückten Version auf “Director’s Cut” hat Kate den Refrain noch intensiviert: Die Anfangssilben im Chor klingen fast aggressiv. Schön, die Idee, in der Bridge dann die bulgarischen Stimmen etwas freier stehen zu lassen.
Das Hohelied hat viele Musiker in der abendländischen Musikgeschichte inspiriert, von Johann Sebastian Bach bis Ralph Vaughan Williams. Dass sich aber jemand erfolgreich an eine Coverversion von Kates “Song Of Solomon” wagt, ist kaum vorstellbar – neben einigen misslungenen Vokalversuchen gibt es eine nette aber harmlose Instrumentaladaption von Alphan Music, mit einer Spieluhr im Zentrum.3 Aber auch die wird der Aussage des Originals nicht gerecht. Denn Kates “Song Of Solomon” ist eines der großartigsten Bekenntnisse zur Liebe, die es in der Popmusikgeschichte gibt.
(Stefan)

1 Grame Thomson: “Under The ivy – The Life & Music Of KAte Bush”, Omnibuss Press 2012, S. 258
2 zitiert nach: http://staff-www.uni-marburg.de/~naeser/hohelied.htm
3 https://www.youtube.com/watch?v=LBPPNtcAHTY

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The Wedding List

Düster, gewalttätig, wild, makaber – das sind die spontanen Eindrücke, wenn man “The wedding list” hört. Es findet sich auf dem Album “Never for ever”, auf dem alte Stücke – Songs aus einer früheren Phase der Entwicklung – auf “faszinierende, zukunftsweisende neue Kompositionen” treffen [1]. “The wedding list” gehört zu den früher komponierten Songs [1]. Die genaue Zeit der Komposition ist unbekannt. Ich vermute aber, dass es erst nach dem Album “Lionheart” entstanden ist – es ist einfach zu dunkel und blutig für dieses Album und gehört in eine andere Klangwelt. Der Song ist vom Film “Die Braut trug schwarz” (Originaltitel “La mariée était en noir”) von Francois Truffaut inspiriert, einer Geschichte um Liebe und Tod, Schuld und Rache. Kate Bush war von dem Film in den Bann gezogen. Colin Irwin [2] bemerkt in einem Interview “She spends the next 15 minutes relating the plot of the film, ending in a breathless flourish. ‘It was an amazing film.’ ”  In der Wikipedia [3] findet sich eine gute Zusammenfassung (das Folgende ist daraus leicht gekürzt zitiert).

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Fünf Junggesellen, die sich in einer Kleinstadt langweilen, spielen Karten und trinken dabei. Mit einem Jagdgewehr zielen sie auf die Kirchturmspitze und die Uhr der gegenüberliegenden Kirche. Einer von ihnen zielt auf ein frisch getrautes Brautpaar, das gerade aus dem Portal tritt. Als die anderen ihm die Waffe entreißen wollen, löst sich ein Schuss und trifft den Bräutigam tödlich. Erschreckt über diesen schrecklichen Ausgang verlassen sie die Stadt. Nach vielen Jahren hat die Witwe, Julie Kohler, diese Männer gefunden. Sie tötet auf raffinierte Weise einen nach dem anderen. Dabei nutzt sie jeweils die Vorstellung aus, die die Männer von der idealen Frau haben. Jeder stirbt auf eine Weise, die seiner Persönlichkeit entspricht. Den ersten, einen Frauenhelden, stößt sie bei seiner eigenen Verlobung von der Balkonbrüstung, den zweiten, einen schüchternen Trinker, vergiftet sie, den dritten, einen bekannten Politiker, sperrt sie in einer Abstellkammer ein, wo er erstickt. Als sie einen weiteren Mann auf seinem Schrottplatz erschießen will, kommt ihr die Polizei zuvor und verhaftet ihn. Ihr viertes Opfer ist ein Maler. Er engagiert Julie als Modell für ein Bild der Göttin Diana. Sie lässt sich von ihm zeichnen und malen und tötet ihn mit einem Pfeil. Als tief verschleierte Frau schließt sie sich dem Trauerzug beim Begräbnis des Malers an. Sie wird von einem Freund des zuerst Getöteten erkannt und verhaftet. Dem Untersuchungsrichter gesteht sie die Taten, nennt aber nicht ihr Motiv. Im Gefängnis, in dem Männer und Frauen in verschiedenen Gebäudeteilen untergebracht sind, arbeitet sie in der Küche und bei der Essensverteilung mit. Sie versteckt ein Messer und ersticht den Fünften, den Mann vom Schrottplatz. Die Grundidee des Films ist übernommen und auf eine für Kate Bush typische Art und Weise gefiltert und mit persönlichen Erfahrungen und Assoziationen angereichert. Wieder ist so eine Art Kommentar zur ursprünglichen Kernidee entstanden. Kate Bush sagte in einem Interview zum Album “Never for ever”, dass sie Ideen aus Filmen oder Büchern als Keimzelle nutzt und sie durch ihre persönlichen Erfahrungen filtert und mit frei erfundenen Dingen anreichert [4]. Genau so ist es hier geschehen – der Song ist eine Variation über die Inhalte der filmischen Vorlage. Der Augenblick des Zusammentreffens zwischen Rächerin und Opfer wird in den Fokus genommen, die Gefühle einer von Rache getriebenen Täterin im Augenblick der Erfüllung ihrer Mission sind das Wichtige. Entstanden ist so ein perfektes “Psychodrama in vier Minuten” [1]. Tod und Liebe und wie man im Leben damit umgeht – darum geht es in diesem Song und darum geht es ja auch im Album “Never for ever”. Der Titel des Albums spielt “auf die Tatsache an, dass das Leben ein vorübergehender Zustand ist und der Tod unausweichlich jeden ereilt, dass wir also “niemals für die Ewigkeit” hier sind.” [4]  Viele Titel des Albums beschäftigen sich mit dem Tod und dem Leben (“Army dreamers”, “Breathing”, “The wedding list”, Blow away”) und mit Besessenheit (“The infant kiss”, “Violin”, “The wedding list”). “Never for ever” hat asymmetrische Liebesbeziehungen zum Grundthema – so wie auch hier (Julie und Rudi).

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Warum hat Kate das Thema fasziniert? Auch darüber gibt es Aussagen von ihr selbst – es war die Energie, die pure, reine, dunkle Emotion, die sich hinter dem unbedingten Rachewillen verbirgt. “I think the energy that it’s about is very disturbing and that’s really why I wrote it. It’s about the energy of revenge, the fact that someone can spend the rest of their life going for an aim purely through revenge. When they actually do get their revenge it’s very sweet, they’re very happy and then because it’s fulfilled there’s nothing left for them. The whole situation is so futile, so wasted and such black heavy energy. So many films use the theme of revenge and I think it is something that does fascinate people – it’s all in us somewhere. Maybe it’s hidden more in others than some. ” [5] Wie Kate Bush selbst sagt war sie dabei von der zerstörerischen Kraft beeindruckt, die Menschen innewohnt: “I find the whole aggression of human beings fascinating – how we are suddenly whipped up to such an extent that we can’t see anything except that.” [6]. Im Song zerstören der Wahnsinn und die Besessenheit alle beteiligten Personen. “Revenge is so powerful and futile in the situation in the song. Instead of just one person being killed, it’s three: her husband, the guy who did it – who was right on top of the wedding list with the silver plates – and her, because when she’s done it, there’s nothing left. All her ambition and purpose has all gone into that one guy. She’s dead, there’s nothing there.” [7] Der Titel des Songs ist voll bitterer Ironie – der Tod des Opfers ist der oberste Punkt der Hochzeitswunschliste der Braut, es ist ihr größter Wunsch. Viel spekuliert wurde darüber, ob sich hinter dem Namen “Rudi” des erschossenen Ehemanns eine reale Person verbirgt. Kate Bush verneint das: “No, not at all. It was really the name that just happened as the words were coming with the song and so I didn’t fight it – I just accepted it.” [5] Die musikalische Gestaltung spiegelt den Wahnsinn wider. Es gibt zwei Erzählebenen. Zuerst ist da die Protagonistin (Julie) auf ihrem Rachefeldzug, mit wilder, hochemotionaler Stimme. Dazu gibt es die klangschönere Stimme im Chorus, die die Geschichte von außen betrachtet, wie ein Beobachter, wie ein Kommentator, zärtlich und traurig. Traumhaft ist der Chorus mit seinen Kirchenglocken im zweiten Durchgang: die Erinnerung an diese blutige Hochzeit. Es sind keine Hochzeitsglocken mehr, es sind Totenglocken. Das sind nur kurze Ruhepunkte, schnell kommt die Protagonistin wieder hinein in ihren Racherausch.

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Am Schluss ist nichts mehr da, die Protagonistin ist innerlich tot. Die Hochzeitsliste ist leer, die Wünsche sind erfüllt. Kann es nach dem Ende dieses Feldzugs Ruhe und Frieden geben? Kate Bush zieht ein eindeutiges Fazit [7]: “She’s dead, there’s nothing there.”  Die Protagonistin versinkt im Wahnsinn und tötet sich. Ihre sich am Ende immer mehr steigernden Rufe und Schreien nach dem toten “Rudi” erinnern an eine Höllenfahrt. Rudi und ihre Rache sind das Wichtigste im Leben Julies und ihre Mission ist beendet. Die Vereinigung im Tod ist ihre Erfüllung –  “I’m coming coming coming honey” [8]. “The wedding list” endet in einem traurigen Epilog, über den sich die immer wahnsinniger werdenden Schreie der Protagonistin erheben. Die kommentierende Stimme erzählt vom Selbstmord und schiebt eine bewegende Information wie nebenbei hinterher. Die Protagonistin war schwanger: “And after she shot the guy / She committed suicide. / I’m coming, Rudi! / And later, when they analysed / They found a little one inside. / It must have been Rudi’s child.” [8] “The wedding list” ist in Es-Moll geschrieben [8].  Diese Tonart symbolisiert laut Beckh den Übergang, der über die Schwelle führt, die Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Tagesansicht und Nachtansicht der Welt, Sinneswelt und geistige Welt voneinander trennt und die uns die Tragik des Schwellenübergangs erleben lässt [10].  Die Protagonistin steht an der Grenze zwischen Leben und Tod und ist dabei, sie zu überschreiten. Irgendwie steht dieser Song für mich ganz nah des Zentrums des Bush-Universums, er ist voller Beziehungen. Das ungeborene Kind kommt im Film nicht vor. Aber einen Selbstmord mit ungeborenem Kind – das gab es auch in “The kick inside”. Ein ungeborenes Kind, das mit der Mutter stirbt – das gibt es auch in “Breathing”. Ich kenne niemanden sonst, der drei Lieder geschrieben hat, in denen ein Ungeborenes zusammen mit seiner Mutter stirbt. Gibt es das Thema sonst überhaupt einmal in der Popmusik? Querverweise:  Der Film ist ein Tribut an Alfred Hitchcock, den Truffaut sehr verehrt hat. Die Filmmusik ist von Bernard Herrmann, der auch für sehr viele Hitchcock-Filme die Musik gemacht hat [3]. Auch Kate Bush ist eine Hitchcock-Verehrerin: “Hitchcock was definitely a genius. His dreams must have been extraordinary. He must have plucked his ideas out of the sky, or had a private line to Mars.” [9]. Sie erwies Hitchcock ihre Referenz im Video zu “Hounds of Love”. Im Film tötet Jeanne Moreau als Diana einen Mann (der sie wohl liebt) mit einem Pfeil. Diana/Artemis – das ist die jungfräuliche Göttin, die Angst vor der Liebe, vor Berührung hat. Sie ist aber auch die Gewalt der Natur. Jagdhunde sind Begleiter dieser Göttin der Jagd, die oft mit Pfeil und Bogen dargestellt wird [11]. Dies wird im Song “Hounds of love” wieder aufgegriffen. Auf dem Cover zur Single “Running up that hill” stellt sich Kate Bush als Bogenschützin dar, die ein unbekanntes Ziel anvisiert. Ist das eine subtil-gewalttätige Antwort von Kate Bush darauf, dass sie in ihren Anfangsjahren als Objekt der sexuellen Fantasie gedient hat? Der Song ist ein Lied über die Besessenheit einer Frau vom toten Partner – das ist ein Sujet des Horrorromans, der schwarzen Romantik, es findet sich ähnlich auch bei Edgar Allan Poe. In “Houdini” wird dieselbe Thematik betrachtet. Beide Songs sind in Es-Moll geschrieben, der Tonart des Übergangs, der Grenze zwischen Leben und Tod. Querverweise überall. “The wedding list” ist eine komplexe und düstere Etüde über die Rache, die alles zerstört. Gewalt und Tod und Verzweiflung liegen in den Tiefen verborgen. Ein Lied zum Hören mit offenen Sinnen. (© Achim/aHAJ)
[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 199-222
[2] Colin Irwin: Paranoia and Passion of the Kate Inside. Melody Maker. 4.Oktober 1980
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Braut_trug_schwarz (gelesen 05.04.2016)
[4] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.109-125
[5] Kate Bush NfE-Interview EMI (London) 1980
[6] Mike Nicholls: Among the Bushes. Record Mirror. 1980
[7] Kris Needs: Fire in the Bush. ZigZag. 1980 (?)
[8] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.168ff
[9] Ted Nico: Fairy Tales & Nursery Rhymes. Melody Maker. 24. August 1985
[10] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.102
[11] Hans-K. und Susanne Lücke, Antike Mythologie. Wiesbaden, 2005, Marix Verlag. S.137ff
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This Woman’s Work

Top Of The City

Der Song „Top of the City“ vom Album „The red Shoes“ ist einer dieser Songs, die unter dem Radar bleiben. Weder in Reviews noch bei den Biographen spielt er eine größere Rolle. Graeme Thomson spricht davon, dass er hart an der Grenze zu „quietschsauberer Hintergrundmusik“ [1] liegt. Was hat er da gehört?? Kate Bush hat in Interviews fast nichts zu diesem Song gesagt, jedenfalls finde ich kaum etwas. Aber sie hat ihn für „Director‘s Cut“ neu aufgenommen und in den „Before the Dawn“-Konzerten live gesungen. Er scheint daher für sie etwas Besonderes zu haben – allein das macht es spannend, genauer hinzuschauen. Und tut man es, dann entdeckt man ein poetisches Geheimnis.
Musikalisch kommt „Top of the City“ unspektakulär daher. Der Song steht in einem durchgehenden 4/4-Takt, ein einziger 2/4-Takt findet sich in der Coda. Die Tonart ist ein reines Cis-Moll [2]. Die Verwendung dieser Tonart macht zum ersten Mal aufmerksam. Es ist die Sehnsuchtstonart der klassischen Musik. Es ist eine warme Tonart der Melancholie, die nach Beckh [7] mit ihrer leuchtenden Schönheit in unserem Herzen die verborgenen Quellen der Sehnsucht öffnet. Kate Bush nutzt Cis-Moll oft, um tiefe Gefühle auszudrücken. Große Teile von „Aerial“ werden von ihr beherrscht, auch in „And dream of sheep“ findet sie sich.
Kate Bush sagt zwar nichts über die Bedeutung des Songs, aber sie gibt Auskunft über die Entstehungsweise. Er ist ganz klassisch am Piano entstanden.

„With the last three albums, I’ve been writing straight onto tape, but actually sitting and playing the piano without the technology all around me was really good. Top of the City was written like that.“ [3] In einem Interview mit ihrem langjährigen Partner und musikalischen Mitstreiter Del Palmer finden sich weitere Details. Offenbar ist der Song als einer der ersten des Albums entstanden, hat dann aber im Studio langwierige Metamorphosen durchlaufen: „The track was one of the first recorded for the album, but changed an awful lot during the studio sessions.“ [4]. Entstanden ist der Song spätestens 1990, da in diesem Jahr Nigel Kennedy den (kaum hörbaren) Violinpart des Songs aufgenommen hat: „Nigel Kennedy features on violin and his parts were recorded on analogue on 1990.“ [4]. Del Palmer lässt sich dann zumindest eine kleine Andeutung über den Inhalt des Songs entlocken: „The impression is of being high up in the clouds over a city, and originally there was more rhythm section, but a lot of it was taken off to emphasise the airiness of the track.“ [4]
Schaut man sich den Song an, dann bemerkt man eine differenzierte Feinstruktur. Den einzelnen Abschnitten sind dabei verschiedene Stimmen (oder Stimmungen) zugeordnet. Es sieht so aus, als ob es mehrere Erzählperspektiven gibt. In der folgenden Analyse orientiere ich mich bei der Bezeichnung der Songabschnitte an [9]. Damit man die Abschnitte in den Lyrics wiederfindet, gebe ich im Folgenden jeweils die erste Zeile des Abschnitts mit an.
Die Grundstruktur des Songs besteht aus einer Abfolge von vier Abschnitten. Es beginnt mit Chorus 1 – Verse 1 – Refrain 1 – Verse 2, dies wird dann wiederholt als Chorus 2 – Verse 3 – Refrain 2 – Verse 4. Es endet mit einer Art Epilog oder Abschluss aus der verkürzten Abfolge Chorus 3 – Verse 5. Den Chorus-, Refrain- und Verse-Abschnitten werden jeweils unterschiedliche Stimmen bzw. Stimmungen zugeordnet. Da ist eine „Erste Stimme“, sie ist freundlich und sanft, die Musik ist hier ruhig und balladenhaft. Sie singt die Chorus-Partien: Chorus 1 „One more step to the top of the city“, Chorus 2 „Take me up to the top of the city“ und Chorus 3 „Take me up to the top of the city“. In diesen Chorus-Partien geht es um das Aufsteigen (und den Wunsch danach) auf die Schulter des Engels, auf das Aufsteigen in eine Welt hoch über der Stadt.
Dann gibt es eine „Zweite Stimme“. Sie klingt ähnlich wie die erste Stimme – es ist jetzt aber eine andere Stimmung da, es klingt etwas heimlich, flüsternd. Diese Stimme singt die Refrain-Partien: Refrain 1 „It’s no good for you baby“ und Refrain 2 „She’s no good for you baby“. Diese Refrain-Partien sind Ratschläge, Einflüsterungen. Die „Dritte Stimme“ ist ganz anders, sie ist fast schreiend, es klingt bedrängt. Auch die Musik ist hier nicht verträumt und innehaltend, hier klingt es nach dem Discogetöse einer Großstadt. Diese Stimme ist für die Verse-Partien zuständig: Verse 1 „I don’t know if I’m closer to heaven but“, Verse 2 „I don’t know if you’ll love me for it“, Verse 3 „See how that building there is nearly built“, Verse 4 „I don’t know if you love me or not“ und Verse 5 „And I don’t mind if it’s dangerous“. In den Versen gibt es noch kleinere Abstufungen. Die Verse 2 und 4 klingen näher, weniger laut, intimer, der Großstadtlärm ist etwas herabgedämpft.
In der Abfolge der Abschnitte ist es so, dass die flüsternde „Zweite Stimme“ der Refrains jeweils auf die lauten Großstadtbeobachtungen der „Dritten Stimme“ (Verse 1 und 3) antwortet. Die ruhigeren Verse 2 und 4 der „Dritten Stimme“ antworten dann jeweils auf die Refrains. Sie ziehen aus derem „Rat“ ein Fazit, sie enden jeweils mit „But I don’t think we should suffer this / There’s just one thing we can do about it“. Was danach passiert, wird nicht aufgedeckt im Song. Für mich persönlich klingt das nach einer Selbstmordankündigung.
Wie kann dieses komplexe Geschehen gedeutet werden? Sind diese unterschiedlichen Erzählperspektiven unterschiedliche Personen? Was für eine Geschichte steht hier im Hintergrund? Der Text ist auch auf den zweiten Blick rätselhaft. Es finden sich aber nach intensiver Suche ein paar Hinweise, die eine nähere Betrachtung lohnen und die dann unvermittelt Sinn ergeben.

Zur Zeile „Put me up on the angel‘s shoulders“ schreibt ein User „dominicvine“, dass ihn diese Zeile an den Film „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders denken lässt. Es ist ein Film über „angels who watch the people of Berlin… and often sit on top of the shoulders of a huge golden angel (the victory column in the Tiergarten) and listen to the suffering of all the people down below… many of the lyrics seem to refer to this scenario. and the movie had recently come out. it is something she would have seen…“ [5]. „Der Himmel über Berlin“ hatte im Oktober 1987 Premiere [6], die Filmliebhaberin Kate Bush könnte ihn also durchaus gekannt haben. Dieser Interpretationsansatz findet sich auch in einer anderen Quelle [8], dort gibt es auch ein Foto von Kate Bush auf der Schulter des Engels der Siegessäule. Die Quelle dieses Fotos habe ich nicht auffinden können. Wahrscheinlich ist das Foto eine Fälschung, das Original scheint ein Foto für „Eat the music“ zu sein mit einem anderen Hintergrund [12].
Der Film ist sehr poetisch und auch traurig. Die Engel dort können nicht in das Leben der Menschen eingreifen. Sie können sich ihnen auch nicht zu erkennen geben, aber sie können ihnen neuen Lebensmut einflößen. Der Wunsch eines der Engel, am Leben der Menschen teilzuhaben, wird schließlich so groß, dass er dafür bereit ist, auf seine Unsterblichkeit zu verzichten [6]. Interessant für die Deutung des Songs ist nun, dass es drei Gruppen von Personen in diesem Film gibt [10]. Es gibt die Kinder, nur sie können die Engel sehen. Es gibt die Engel, sie beobachten, hören die Gedanken der Menschen, lächeln ihnen zu, trösten Sterbende, können aber nicht eingreifen und weder Tod noch Selbstmord verhindern. Und es gibt im Film die Menschen, deren Gedanken die Engel hören können. Die Menschen sind traurig, froh, einsam, müde, verzweifelt, haben Sorgen und Gefühle, gehen ihren Alltagsgeschäften nach und nehmen die Gegenwart der Engel nicht wahr [10]. Diese drei Personengruppen des Films passen nun sehr gut zu den drei Stimmen des Songs. Die „Erste Stimme“ der Chorus-Partien ist die Stimme der Kinder, die die Engels sehen können, die sich wünschen, bei ihnen zu sein. Die „Zweite Stimme“ ist die Stimme der Engel, die Rat geben, die trösten. Die „Dritte Stimme“ sind die Gedanken der Menschen in den Straßen.
Auch die zweimal auftretende Abfolge Chorus – Verse – Refrain – Verse ergibt nun einen Sinn. Ein Kind sieht einen Engel, wünscht sich bei ihm dort oben zu sein (Chorus). Der Engel hört die Gedanken eines Menschen (Verse). Der Engel flüstert ihm etwas in die Seele (Refrain). Der Mensch reagiert und der Engel hört dies (Verse). Verse 5 endet mit „Take me up to the top of the city“ – der Mensch hat den Engel nun auch wahrgenommen. Die Welten kommen zusammen. Auch die Sehnsuchtstonart Cis-Moll ergibt nun einen Sinn. Alle hier im Song sehnen sich nach etwas, nach den Engeln, nach Erlösung, nach echtem Leben.

Vielleicht hat der Besuch von Kate Bush in New York bei Michael Powell, dem Regisseur des Films „The red Shoes“ die Erinnerung an diesen Film ausgelöst [13]. New York ist voller Hochhäuser, voller Hektik, voller Menschen mit ihren Gedanken. In der Anfangssequenz des Films und im Trailer zum Film ist dies alles sehr schön zu sehen [11]. Das sieht aus wie eine Bebilderung des Songs. Sogar Del Palmers „The impression is of being high up in the clouds over a city“ [4] findet sich wieder. Auch ein Selbstmord kommt vor, den der Engel nicht verhindern kann.  In der Filmmusik spielt offenbar auch die Solovioline eine wichtige Rolle, damit gibt es auch zum Einsatz von Nigel Kennedy eine Erklärung.
Für mich habe ich damit eine Deutung des Songs gefunden und „Top of the City“ mit seinen drei Erzählperspektiven ergibt für mich nun Sinn. Bemerkenswert ist für mich zudem, dass das Album „The red Shoes“ mehrere dieser Songs mit wechselnden Erzählperspektiven enthält, z.B. verwenden auch neben „Top of the City“ die Songs „The red Shoes“ und „Constellation of the heart“ dieses Stilmittel. Ein „mehrere Seelen sind in meiner Brust“ muss Kate Bush damals sehr beschäftigt haben.
Es gibt zwei weitere Fassungen des Songs, aber sie tragen zum Verständnis des Songs nichts weiter bei. Die Fassung auf „Director‘s Cut“ klingt dumpfer, das gefällt mir weniger. Die Fassung auf „Before the dawn“ ist ruhiger, das gefällt mir wieder ganz gut. Das Thema Engel passt im Rahmen von „Before the Dawn“ zum Abschluss mit „Among Angels“, es spannt einen Bogen.
„Top of the City“ ist ein Song, der einen auf den ersten Blick ratlos macht. Seine Bedeutungen erschließen sich nicht auf Anhieb. Aber er ist eine Reaktion auf die Frage nach dem Sinn der Existenz und (jedenfalls in meiner Interpretation) eine tiefsinnige Reaktion auf einen philosophisch angehauchten Film. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.325
[2] Kate Bush: The red shoes (Songbook). Woodford Green. International Music publications Limited. 1994. S.64ff
[3] N.N.: „A Tightly Wound Conversation With The Rubberband Girl“. Details. März 1994
[4] „Well red“. Interview mit Del Palmer. Future Music. November 1993
[5] https://genius.com/14653366 (gelesen 10.04.2020)
[6] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Der_Himmel_%C3%BCber_Berlin (gelesen 11.04.2020)
[7] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S. 268
[8] http://gaffa.org/faq/topcity.html (gelesen 10.04.2020)
[9] https://genius.com/Kate-bush-top-of-the-city-lyrics (gelesen 10.04.2020) [10] https://www.goethe.de/resources/files/pdf130/himmelueberberlin_didaktisierungsvorschlag.pdf (gelesen 15.04.2020)
[11] https://youtu.be/-uI81q3wxH8 (gesehen 15.04.2020)
[12] https://images.app.goo.gl/drkBEswamYnpDEvR7 (gesehen 15.04.2020)
[13] Marianne Jenssen: „Rubber Souls“. Vox. November 1993

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Un Baiser D’Enfant

Under Ice

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Unheimlich! Dies sind mit die unheimlichsten zwei Minuten Musik, die Kate Bush bisher geschrieben hat. Meine Empfehlung ist, dies in einer Nacht zu hören, wenn man nicht schlafen kann, es dunkel und kalt und still ist, man übermüdet ist. Genau in dieser Situation ist am besten zu fühlen, was dieser Song ausdrückt: Verlassenheit, Angst, Kälte.
Um ihn angemessen zu analysieren, muss der Kontext “The ninth wave” mit betrachtet werden. “Under ice” ist in diese Suite von Songs eingebettet, die die zweite Seite des Albums “Hounds of love” bildet. Lassen wir Kate Bush selbst sprechen: „Wir reden über einen Sturm. Da ist ein Mensch bei Sturm über Bord gegangen und kämpft eine ganze Nacht gegen die Wellen, die Müdigkeit und die Gefahr, aufzugeben. Zu dieser Handlung habe ich alle Stücke der zweiten LP-Seite geschrieben. […] Da geht also jemand über Bord, nachts. Er wird wahnsinnig müde, will resignieren. Dann ziehen seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft an ihm vorbei und versuchen, ihn wachzuhalten und durch diese Nacht zu kriegen.“ (1). Die ersten beiden Stücke dieser Suite – “And dream of sheep” und unser “Under ice” – sind dabei als Einheit zu betrachten: “It was totally connected to the track that had come before, and they were written together – And Dream Of Sheep goes straight into Under Ice and they were almost conceived as one […]” (2).
In „And dream of sheep“ wird der Rahmen der Geschichte aufgestellt: eine Schiffbrüchige treibt im nächtlichen Meer, mit Schwimmweste und Notlicht, kaum noch bei Bewusstsein. Stimmen aus dem Leben versuchen sie noch zu erreichen, aber wie von Narkotika betäubt sinkt sie tiefer und tiefer in den Schlaf (“like poppies, heavy with seed – They take me deeper and deeper”). Auch die Melodie geht hinunter in diese Tiefe und verdämmert. Ohne Pause beginnt „Under Ice“ und wir sind in einer düsteren Zwischenwelt. Das eher romantische cis-Moll wechselt abrupt in ein dunkles, bedrohliches a-Moll (3). Dieser Übergang ist so, als ob das Licht in der Musik abgeschaltet wird.
Kate Bush erklärt den Übergang und die Absichten dahinter so: “[…] it was very much the idea of going from very cold water, it’s getting dark, you’re alone, the only way out is to go to sleep, no responsibilities, and forget about everything; but if you go to sleep the chances are you could roll over in the water and drown. So you’re trying to fight sleep, but you can’t help it, and you hit the dream, the idea of the dream being really cold, and really the visual expectancy of total loneliness, and for me that was a completely frozen river, no-one around, everything completely covered with snow and icicles, and its that person all alone in this absolute cold wilderness of white, and seeing themselves under the ice, drowning, to witch they wake up and find themselves under the water” (2).
Die Komposition dieses Songs geschah ganz schnell, die Musikbegleitung wurde an einem einzigen Tag eingespielt (4). Wenige Töne erklingen, nur Rhythmus, Betäubung. Ein einsames Cello – aus dem Fairlight CMI (4) – bestimmt mit seinen dumpfen Tönen die Musik. Wie das Pochen und Klopfen eines bangen Herzens klingt es und hebt das Gefühl des Alleinseins in dieser “absolute cold wilderness of white” hervor. Die Stimme setzt ein, wird eins mit diesen minimalistischen Tönen.
Dies ist ein dunkler und gefährlicher Traum. Düsteres a-Moll bestimmt die Harmonik, in der immer wieder der d-Moll-Akkord auftaucht: d-Moll, die “Welt des Grabes und des Todes” (5). Einige lichte C-Dur-Akkorde leuchten hinein wie Sterne der Hoffnung. Die Schiffbrüchige ist eingeschlafen, obwohl sie wach bleiben müsste. Erschöpfung hat sie überwältigt. Die weiße, kalte, tote Winterlandschaft dient als Symbol für diese Verlassenheit im Wasser, ausgelöst durch die eisige Kälte des Wassers. Einsamkeit und Todesnähe herrschen, nur einmal ertönt eine ganz ferne und unverständliche Stimme (ein Traum). In ihrer Müdigkeit sieht sich die Protagonistin in dieser Winterlandschaft auf dem Eis Schlittschuh laufen. Der Cello-Rhythmus nimmt dieses regelmäßige Vorwärtsbewegen musikalisch auf.
Dünnes Eis – das ist die trügerisch-sichere Schicht über den gefährlichen Abgründen. Harsche, abrupte Silben und Worte rufen das Bild der Eisfläche hervor. Sie klingen wie das Knacken, das ein Schlittschuhläufer hören kann: skating, cutting, splitting, spitting, ice. Hier ist die Stimme mit Hall versehen und klingt so, als ob es mehrere Stimmen wären, sie folgt dem Cello, die Stimme vibriert fast vor Kälte. Mehrmals wechselt der Gesang und die Stimme erhebt sich in elegischen, ganz klar klingenden Melodien über die Eisfläche (“The river has frozen over”, “I’m speeding past trees leaving”, “There’s something under water”). Der tote d-Moll-Akkord ist hier in den hellen F-Dur-Akkord der parallelen Dur-Tonart verwandelt – als ob die Musik sagen will: “Das ist nicht das Ende, der Tod kann abgewendet werden”.
Dann zersplittert das Eis wirklich und die Realität des Traums zerbricht. Unter dem Eis ist etwas – das eigene Ich – verbunden mit dem Lautsymbol des Echolots. Die Protagonistin erschrickt, sie erkennt sich in diesem Körper unter dem Eis, versunken, am Ertrinken. Die den Cello-Puls begleitenden rauen Stimmen und die Gesangsstimme (die “It’s me” singt) sind zum einzigen Mal parallel. Die Stimmung steigert sich, wird bedrohlicher, erregter. Etwas dringt auch musikalisch ins Bewusstsein. Am Schluss dann ein weiteres Absinken der Musik, der Cello-Puls lässt nach und erstirbt, ein Einschlafen, ein Akzeptieren. Die Musik kreist in merkwürdigen Tönen vor sich hin und wird immer ruhiger. Führt das in die Bewusstlosigkeit oder noch tiefer ins Meer? Übergangslos geht es mit „Waking the witch“ weiter und mit Stimmen, die danach rufen aufzuwachen, die aus dieser Situation retten wollen.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass “The ninth wave” keine konsistente, logisch fortschreitende Geschichte erzählt, sondern assoziativ Episoden aneinander reiht. Warum ist die Protagonistin auf einmal auf dem Eis und war vorher auf dem Wasser – ist das ein Bruch? Die Analyse zeigt aber, dass es sich hier um eine logische Konsequenz handelt, wenn die verwendeten Symbole aufgeschlüsselt werden. Selten wurde eine so unheimliche Atmosphäre mit so wenigen Mitteln erzeugt. “Under ice” ist ein Horrorfilm in zwei Minuten.  (© Achim/aHAJ)

(1) Andreas Hub: “Kate Bush. Aufgetaucht”. Interview mit Kate Bush. Fachblatt Musikmagazin. 11/1985
(2) The 1985 Convention Interview. Tony Myatt asks Kate about Hounds of Love. Homeground – The Kate Bush Magazine. Anthology One. Crescent Moon Publishing. Maidstone. 2014. S.383-392
(3) “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.60 und 160
(4) Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S. 156
(5) Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.157
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Under The Ivy

Faszination geht von diesem kleinen Song aus. Dies zeigt sich schon daran, dass Graeme Thomson seine Biographie nach ihm benannt hat. Veröffentlicht wurde er 1985 als B-Seite der Single „Running up that hill“ [1]. Aufgenommen wurde er an einem Nachmittag, wie Kate Bush selbst gesagt hat: „Under the Ivy we did in our studio in just an afternoon.“ [2] In Fan-Kreisen gilt er als einer ihrer größten Songs.

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Was macht diese Faszination aus? Für mich ist ein ganz starker Grund die Offenheit, die er erlaubt. Im Text [3] wird ein Geheimnis erwähnt („And it’s not easy for me / To give away a secret“), die Handlung hat etwas fast Verschwörerisches – dies wird aber nicht aufgelöst. „Under the ivy“ ist ein Rätsel, das nicht erklärt wird und das daher auf ganz verschiedene Arten interpretiert werden kann. Wie man am Ende dieses Beitrags feststellen muss – alle davon sind auf ihre Art stimmig. Ein großer Song kann gewagte Interpretationen vertragen – der Leser sei vorgewarnt! Um zu Deutungen zu kommen ist es nötig, zuerst einmal die Fakten darzustellen (sowie die sich von Interpretionen trennen lassen, was schwierig ist). Das Klavier begleitet Kates Gesang, zart und zurückhaltend. Die Stimmung ist traurig, es klingt wie eine Erinnerung, es wird im Verlauf immer emotionaler und trauriger. Die erste Strophe und der erste Refrain sind ganz ruhig. Das „for me“ zum Schluss des Refrains wird von einem von Kate gesungenen Chor herausgerufen. Es klingt wie ein fernes Echo, fast geisterhaft, unwirklich. Die zweite Strophe ist dann bewegter und emotional. Der Tonfall ist manchmal fast verzweifelt, weinend („And it’s not easy for me / To give away a secret“). Der zweite Refrain ist dann wieder ruhiger. In der folgenden Wiederholung des Refrains (mit neuer Schlusszeile „I’ll be waiting for you“) wird es dann hochemotional im Ausdruck. Die Gesangsstimme erscheint verdoppelt, ein dunkler Schatten singt mit. Der Song klingt dann in einer kurzen Coda wieder ganz ruhig aus („It wouldn’t take me long / To tell you how to find it“). G-Moll ist die Grundtonart, in der der Song notiert ist. Sie leitet die Strophen ein, Dur-Akkorde setzen sie jeweils fort. Es gibt F-Dur-Akkorde (z.B. auf „long“, inside me“, „under the ivy“, „away from the party“, „right to the white rose“), daneben auch B-Dur-Akkorde und Es-Dur-Akkorde [3]. Kate Bush hat ein fantastisches Gespür für die Verwendung von Tonarten. Nähern wir uns daher nun den Interpretationen auf dieser Ebene (im Folgenden beziehe ich mich auf Beckh [4]). G-Moll steht für Schmerz, Hoffnungslosigkeit, eine der liebenden Seele entquellende tiefe Todestrauer. B-Dur ist die Dur-Parallele zu g-Moll – wie so oft bei Kate Bush pendeln Songs so hin und her – und holt die Ahnung des Lichts, die Hoffnung des Lichts, den Glauben an das Licht hervor. Es ist die Waldestonart, es ist naturhaft, ein abgedunkeltes F-Dur. B-Dur ist „Der Stern des Glaubens, des Hoffens, der Liebe“. F-Dur ist die Natur-Tonart, die Stimme der Natur schlechthin. Mit Es-Dur haben wir die Tonart vor uns, die aus der Tiefe des Abgrunds wieder emporführt. Sie ist der Hoffnungsstrahl, das sich Emporkämpfen, das Heroische. Die Tonarten sprechen also von Liebestrauer, von Todestrauer, vom Vergehen in der Natur, aber auch von einer gewissen Hoffnung. Dies ist zur Traurigkeit und Emotionalität des Textes kohärent. Beim ersten Hören dieses Liedes erschien mir klar, dass es hier um den Tod geht. Viele teilen diese Interpretation und sie liegt auch nahe. Das Lied ist unfassbar traurig und bewegend. Die Sehnsucht nach der verlorenen Jugend klingt durch („This little girl inside me / Is retreating to her favourite place“). Die Protagonistin singt von einem Platz unter dem Efeu – einer Pflanze, die sich als Symbol des ewigen Lebens häufig auf Friedhöfen findet [5]. Unter dem Efeu scheint ein Grabstein zu liegen: „The green on the grey“. Liegt hier eine Person begraben, die sich nach dem Leben zurücksehnt („Away from the party“)? Diese Party war vielleicht das Zusammensein nach dem Begräbnis. Singt hier ein ruheloser Geist, der sich in dem von fern rufenden Chor „for me“ ausdrückt? Wurde die Protagonistin ermordet oder hat sie gar Selbstmord begangen? Auf diese zweite Möglichkeit könnte der Schluss des Liedes hindeuten: „It wouldn’t take me long / To tell you how to find it“ (so meinen jedenfalls einige Interpreten wie in [6] und [7]). Die Protagonistin sehnt sich nach einer geliebten Person – so ein Griff aus dem Totenreich in das Reich der Lebenden weist zurück auf „Wuthering Heights“ mit einer ähnlichen Thematik. Selbstmord – das kennen wir auch aus „The kick inside“. Der verzweifelte Tonfall und der nicht explizit angesprochene Tod – das deutet auf „Mrs. Bartolozzi“. Der Efeu weist auch zurück auf das Cover des Albums „The Dreaming“ und illustriert dort eine Szene aus dem Song „Houdini“. Auch in diesem Song ging es um Tod, Erinnerung und Wiederkehr.

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Die Tonartencharakteristiken stützen diese Deutung und man könnte es dabei belassen und sich ein bisschen wundern, warum Kate das alles so verklausuliert nur andeutet. Aber dies kennt man ja von dieser Sängerin. Als Kate Bush in einem Interview [6] auf diese Selbstmordhypothese angesprochen wurde, reagierte sie etwas verdutzt. „Well, I think…uh, it… perhaps you are reading much more into it than was originally intended when I wrote it. It’s very much a song about someone who is sneaking away from a party to meet someone elusively, secretly, and to possibly make love with them, or just to communicate, but it’s secret, and it’s something they used to do and that they won’t be able to do again. It’s about a nostalgic, revisited moment.“ Die Interpretation als Lied aus der Welt der Toten war also jedenfalls „originally“ nicht angedacht. Sie mag aber unterbewusst mitgespielt haben. Sie ergänzte dann auf die Frage, warum das Lied so traurig sei noch Folgendes: “ I think it’s sad because it’s about someone who is recalling a moment when perhaps they used to do it when they were innocent and when they were children, and it’s something that they’re having to sneak away to do privately now as adults.“ Diese zweite Interpretation – von Kate Bush selbst ins Spiel gebracht – geht also davon aus, dass es sich hier um ein geheimes Treffen zweier Personen handelt. Dieses Treffen findet an dem Rückzugsort der Protagonistin aus der Kindheit statt („This little girl inside me / Is retreating to her favourite place“). Das ist ein geheimer Ort, der nicht jeder Person mitgeteilt wird („And it’s not easy for me / To give away a secret“). Das oben angeführte Interview enthält die einzigen Aussagen von Kate Bush zu diesem Song, die ich finden konnte. Sie spricht davon, dass diese Treffen etwas waren, was die beiden Personen früher als Kinder in aller Unschuld machten durften, jetzt als Erwachsene aber nicht mehr. Die weiße Rose („Go right to the white rose“) ist ein Symbol für Unschuld, Reinheit, Treue oder Entsagung [8]. Es gibt also ein von Kate Bush zugestandenes Geheimnis in diesem Song, aber es wird nicht aufgeklärt. Das öffnet Tür und Tor, genau daran weitere Interpretationen aufzuhängen. Es kann natürlich sein, dass die Personen ganz einfach anderweitig verpartnert sind und da wäre die Situation schon traurig genug. Aber vielleicht dürfen sie sich jetzt nur ganz heimlich treffen, weil es sich um so etwas wie Inzest handelt? Unschuldig als Kinder, nicht mehr unschuldig als Erwachsene. In „The kick inside“ führte das zum Selbstmord, daher sind diese beiden ersten Interpretationsmodelle vielleicht nicht so weit auseinander. Der Efeu unterstützt dies durch seine Symbolik. „Da der Efeu nicht bestehen kann, ohne sich anzuschmiegen, ist er seit alters her auch Sinnbild für Freundschaft und Treue. Schon im Altertum war diese immergrüne Pflanze Sinnbild der Treue und des ewigen Lebens, im alten Griechenland erhielt ein Brautpaar einen Efeuzweig als Symbol immerwährender Treue.“ [5] Die dritte Interpretation nimmt diese Sinnbilder von Freundschaft und Treue auf. Die Frage, wer da aus dem Efeu am geheimen Platz der Kindheit hineinruft in das Erwachsenenleben, kann auch noch anders beantwortet werden. Dieser Platz liegt da, wo die weiße Rose blüht: „Go right to the white rose“. Kann es eine unsichtbare Freundin sein, die hier ruft? Kinder sprechen oft mit unsichtbaren Freunden, die dann irgendwann verschwinden, wenn die Kinder erwachsen werden. Aber warum ist dann diese unsichtbare Freundin so unfassbar traurig? Im englischen Forum [7] fand sich dazu ein Hinweis. Es gibt ein Märchen von Astrid Lindgren – „Allerliebste Schwester“ [Allrakäraste Syster], erschienen im Jahr 1967, auch ins Englische übersetzt. Die folgende Inhaltszusammenfassung ist aus [9] übernommen.
Das kleine Mädchen Barbro wohnt mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder in einem Haus mit Garten, in dem sie mit ihrem Plüschhund spielt. Sie hat bald Geburtstag und wünscht sich sehnlich einen richtigen Hund. Davon wollen die Eltern aber nichts wissen. Barbro hat ein Geheimnis: Sie hat eine Zwillingsschwester, die im Goldenen Saal regiert, zu dem Barbro durch ein Loch hinter dem Rosenbusch „Salikon“ im Garten gelangen kann. Ihre Schwester heißt Ylva-Li und nennt Barbro „allerliebste Schwester“. Sie umsorgt sie, wenn Barbro zu Besuch ist und sieht ihr sofort den Kummer an, wenn Barbro traurig ist. Mit Ylva-Li verbringt Barbro eine märchenhaft schöne Zeit: im Goldenen Saal essen sie Pfannkuchen in Gesellschaft der vielen Tiere, unter anderem zweier schwarzer Pudel, die Ruff und Duff heißen. Schließlich vertraut Ylva-Li ihrer Schwester an, dass sie tot sein wird, wenn Salikons Rosen verwelkt sind. Verzweifelt läuft Barbro wieder nach Hause. Am nächsten Tag, ihrem Geburtstag, wird sie von einem kleinen schwarzen Pudel geweckt – dem Geburtstagsgeschenk der Eltern. Als sie mit ihrem Hund Ruff in den Garten geht, sieht sie, dass die Rosen verwelkt sind. Auch diese dritte Interpretation erscheint schlüssig. Es geht um Kindheit, geheime Plätze, Dinge, die man als Erwachsene nicht mehr tut. Der Zugang zu diesem Geheimnis liegt hinter dem Rosenbusch. Das Lied ist deswegen so traurig, weil die Kindheitsfreundin tot ist, sie liegt unter den Steinen unter dem Efeu begraben. Das „for me“ wäre auch hier ein Ruf aus der Welt der Toten. Dieses Märchen war in England zugänglich – vielleicht kennt Kate Bush es aus ihrer Jugend.

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Hier wäre noch zu erwähnen, dass sich die weiße Rose auf dem Cover des nächsten Albums „The Sensual World“ wiederfindet. Ein Thema des Titelsongs ist da das Heraustreten aus der literarischen Welt in das wirkliche Leben. Als ich den Namen des Rosenstrauchs erforschte (das Wort Saliko gibt es in Esperanto, es bedeutet „Silberweide“ [10], hergeleitet vom lateinischen Salix), fügten sich in meinem Kopf plötzlich noch weitere Puzzlesteine zusammen zu einer vierten Interpretation. Noch überhaupt nicht berücksichtigt in einer Deutung wurde die schattenhafte Stimme, die den Gesang der Protagonistin zum Schluss begleitet. Dieses Stilmittel der von einem Schatten begleiteten Gesangsstimme wurde in „The infant kiss“ für Besessenheit benutzt (siehe hier im Song-ABC der dazugehörende Beitrag). Im zugrunde liegenden Film [11] sieht die Heldin – sie betreut zwei Kinder, Miles und Flora – scheinbar als einzige wiederholt geisterhafte Erscheinungen eines Mannes und einer Frau, Miss Jessel. Miss Jessel ertränkte sich (schwanger?). In der Heldin keimt der Verdacht, die Geister der Verstorbenen hätten Macht über die Kinder erlangt. Sie beharrt gegenüber Flora darauf, diese sei von Miss Jessels Geist besessen, bis das Mädchen einen hysterischen Anfall erleidet. Zu Beginn des Films erklingt [12] – offenbar von Miss Jessel gesungen – das Lied „O Willow Waly” (“We lay my love and I, beneath the weeping willow. But now alone I lie and weep beside the tree. Singing “Oh willow waly” by the tree that weeps with me. Singing “Oh willow waly” till my lover return to me. We lay my love and I beneath the weeping willow. A broken heart have I. Oh willow I die, oh willow I die…”) . Willow – das ist die Weide. Singt in „Under the ivy“ also die erwachsene Flora und sehnt sich nach Miss Jessel? Ist Miss Jessel die rätselhafte Begleitstimme – so wie es ähnlich in „The infant kiss“ als Stilmittel benutzt wurde, dort für die Besessenheit des Jungen? Liegt Miss Jessel begraben unter dem Efeu hinter dem Rosenbusch „Salikon“? Wird hier ein zweiter Teil der Geschichte aus „The infant kiss“ erzählt? Vier Interpretationen – keine Wahrheit. Vier Interpretationen, die ineinander greifen und sich überlagern wie die Blütenblätter einer Rose. Vier Interpretationen – nur Geheimnisse. Je tiefer man in „Under the ivy“ eindringt, desto geheimnisvoller wird dieser Song. So viele Seelen können sich in seiner Dunkelheit spiegeln. Vielleicht ist er deswegen voller nicht bewusst heineinkomponierter Assoziationen, weil er so schnell aufgenommen und nicht lange „geplant“ wurde. Mit seinen Anklängen an die Themen und Symbole anderer Songs bildet er ein Assoziationszentrum im Bush-Universum. Besonders bemerkenswert finde ich es dabei, dass er mit seinen Hauptsymbolen Efeu und weiße Rose Bezug nimmt auf die Cover der Alben vorher und nachher. Es ist schade, dass dieses Juwel nicht auf ein reguläres Album gekommen ist, er hätte es von der Qualität her voll verdient. Zum damals aktuellen Album „Hounds of Love“ passte er wohl nicht in der Stimmung, er wäre ein dunkler Fremdkörper gewesen. Aber er hat auch zum Glück so den Weg in die Herzen gefunden.   (© Achim/aHAJ)   [1] http://www.katebushencyclopedia.com/under-the-ivy (Gelesen 10.02.2017)
[2] Peter Swales. Musician (ohne Titel), Herbst 1985
[3] Kate Bush Complete. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.161
[4] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.245ff (B-Dur), S.259f (g-Moll), S.124 und 128 (Es-Dur), S.149ff (F-Dur)
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeiner_Efeu (gelesen 08.02.2017)
[6] Doug Allen: Love-Hounds Interview. November 1985
[7] http://thehomegroundandkatebushnewsandinfoforum.yuku.com/topic/9091/Under-the-Ivy-whats-it-about#.WJmfaXr-OQg (gelesen 07.02.2017)
[8] www.blumen-versender.com/weisse-rosen.php (gelesen 08.02.2017)
[9] http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/filmkritiken/144-allerliebste-schwester-ein-schwermuetiges-und-bewegendes-maerchen (gelesen 07.02.2017)
[10] http://www.majstro.com/woerterbuecher/Esperanto-Deutsch/saliko (gelesen 10.02.2017)
[11] http://de.m.wikipedia.org/wiki/Schloß_des_Schreckens (gelesen 24.03.2015)
[12] http://www.imdb.com/title/tt0055018/quotes (gelesen 01.04.2015) Kommentare

Violin

In diesen merkwürdigen Zeiten sind Songs genau richtig, die über die Stränge schlagen. „Violin“ ist unter den Songs von Kate Bush vielleicht der, der darin am extremsten ist. Er schafft es, jeden trüben Gedanken aus dem Hirn herauszuprügeln. Kate Bush hatte diesen Eindruck beabsichtigt. Der Song sollte extrem sein und den Eindruck von Wahnsinn erwecken. Ein Spaß, ohne tiefere Bedeutung: „It was meant to be very fun, nothing deep and serious, nothing really meaningful, just a play on the fiddle, the things it represents, its madness.“ [1]
Bei solchen beschwichtigenden Äußerungen traue ich Kate Bush inzwischen aber nicht mehr über den Weg! Der Text setzt diesen „Spaß“ adäquat um, er ist gespickt mit Anspielungen, die in Richtung musikalischen Wahnsinns weisen – wir finden Paganini, den Teufelsgeiger, wir finden Nero, der zu Musik Rom niederbrennt. „[We] wanted to make it very bizarre and very very up and the idea was the mad fiddler, not so much the violinist in the orchestra but the mad fiddler like Paganini or Nero watching the city burn.“ [1]
Die Vermutung liegt nahe, dass Kate Bush genau die Gefahren kennt, die in exzessiver Musikausübung liegen. Die Protagonistin im Song wurde offenbar durch Geigenspiel verrückt gemacht. Die Besessenheit wird durch diffizile Wortspiele visualisiert. Da gibt es die vier Seiten der Violine über dem Steg, die die Protagonistin in die Bar bringen und dann betrunken schwindeln lassen („Four strings across the bridge / Ready to carry me over / Over the quavers, drunk in the bars / Out of the realm of the orchestra“). Dazu erklingt Musik, die heraus aus dem Reich der wohligen, schönen Klänge führt. Wir sind nicht mehr im Orchester-Reich mit seinen harmonisch klingenden Violinen. Es geht hinaus in eine Folk-Punk-Wildnis. Vielleicht ist die Protagonistin nicht nur besessen, vielleicht ist sie eine Hexe. Warum sollte sie sonst die Todesfeen der keltischen Mythologie, die Banshees, anrufen, damit diese die „Backing Vocals“ singen? „Give me the Banshees for B.V.s“.

Möglicherweise gibt es einen biographischen Hintergrund für den Song. Kate Bush hatte sich in der Kindheit an der Violine versucht, aber das dann zugunsten des Klaviers aufgegeben: „Well, I did when I was a child, yes, I learnt it for a few years but while I was learning it I discovered the piano, I couldn’t really relate to it in the same way.“ [1] Das ist wieder sehr zurückhaltend ausgedrückt. Jeder weiß, dass der Klang einer Geige in den Händen eines unerfahrenen Spielers schrecklich ist. Es ist nicht mit dem Klang eines Klaviers oder einer Gitarre zu vergleichen, wenn ein Anfänger damit übt. Es ist nicht schwer, sich zu diesen Klängen die wütende und frustrierte ewige Perfektionistin Kate Bush vorzustellen. Vielleicht ist all diese Wut dann in diesen Song geflossen. Eine erste Demoversion [5] stammt aus der Zeit vor „The Kick inside“, ist also möglicherweise kurz nach Abschluss der Schule entstanden. „What does a punk do at school? Maybe break a few windows and receive detention. […] There’s no stopping a goddamn banshee.“ [6]
Produziert wurde der Song als einer der ersten für das Album „Never for ever“. „The first stage of making Never For Ever happened last summer, when I actually decided to be brave enough to go ahead and „produce“ with Jon Kelly […]. We put down Blow Away, Egypt, Violin and The Wedding List at Air Studios […].“ [4] Die Arbeit ging dabei offenbar schnell voran, vielleicht war in der Demoversion schon alles Wesentliche gesagt. „Having been rehearsed with the band for two days, the tracks went down, and our first ‚productions‘, with the help of ideal musicians, were a success.“ [4]

„Violin“ ist der Song, in dem Kate Bush dem New Wave und dem Punk recht nah kommt und natürlich wurde sie dazu auch in Interviews befragt. Sie wies das zurück, gab aber ihre Bewunderung für die Wildheit und Rauheit dieser Musik zu: „I’m not projecting myself as a new wave person and people wouldn’t accept me as such because my music is generally not in that area. But I love the energy, I love the power and the rawness – I love raw music, it’s very primitive, it’s what so much of our music is about.“ [1] Ich glaube aber doch, dass es einen gewissen Einfluss gab. Vielleicht verweisen die Banshees nämlich auch auf „Siouxsie and the Banshees“, eine 1976 gegründete Band der Post-Punk- und Dark-Wave-Bewegung [7]. Auch die zeitliche Übereinstimmung zum Entstehen der Demoversion könnte passen. Einfluss ja oder nein, Kate Bush lässt auf jeden Fall vokal die Sau raus. Christine Artemisia Kelley drückt das in einer sehr schönen Besprechung des Songs wunderbar aus [6]: „In the chorus Bush completely lets herself go, gutturally howling “get the bow going/let it SCREAM to me” in her most punk moment ever, a massive departure from her previous singing. Is it any wonder John Lydon is a Kate Bush fan when she does songs like “Violin,” with vocals closer to „Never Mind the Bollocks“ than Pink Floyd’s „Animals“?“
Wahnsinn durchdringt jede Sekunde des Songs und nichts verdeutlicht das besser als Kate Bushs Auftritt mit diesem Song in der „Xmas Special“-Show, in der sie mit Fledermausflügeln tanzt und mit riesengroßen Geigen kämpft, um am Schluss erschöpft oder tot niederzusinken [8]. Besessenheit oder Hexerei – ich kann mich nicht entscheiden.
Auch musikalisch ist der Song bemerkenswert. Er kommt wie ein richtiger Rocksong daher, im marschierenden 2/2-Takt [2]. Es erklingen nur Dur-Akkorde, das ist geradeheraus, fast fröhlich, tanzbar. Aber die Tonart ist ein ganz unerwartetes H-Dur [2]. Warum unerwartet? Weiter weg von konventioneller Rockmusik kann eine Tonart kaum sein. H-Dur wird in der Musik selten verwendet und das hat seinen Grund. Es ist die Tonart des Übergangs ins Überirdische [3]. Der Liebestod aus „Tristan und Isolde“ steht in dieser Tonart, ebenso der Karfreitagszauber aus dem „Parsifal“ [3]. Es ist nach Beckh eine Tonart, die nicht mehr ganz im Irdischen verankert ist, es ist „die Vorahnung des Hinübergehens“. Überirdisch-verklärt und „Violin“, „Parsifal“ und Punk – größer könnte ein Kontrast für mich nicht sein. Aber vielleicht ist Musik für Kate Bush sowohl ein überirdisches Reich als auch ein Reich des Wahnsinns. Wie so oft sagt bei Kate Bush die Tonart mehr aus als das, was sie in einem Interview zu einem Song zugibt. © Achim/aHAJ

[1] NfE Interview – EMI (London)
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.162
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.171ff
[4] Kate Bush: „Them Bats and Doves“. Artikel KBC Ausgabe 7. September 1980.
[5] https://www.katebushencyclopedia.com/violin (gelesen 09.12.2020)
[6] https://katebushsongs.wordpress.com/2018/09/26/violin/ (gelesen 14.09.2020)
[7] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Siouxsie_and_the_Banshees (gelesen 26.12.2020)
[8] https://youtu.be/GoQHVEXODgg (gesehen 26.12.2020)

Kommentare

Waking The Witch

Walk Straight Down The Middle

Warm And Soothing

Watching You Without Me

Mit Watching You Without Me haben wir einen der experimentellsten und interessantesten Songs von Kate Bush vor uns. Der Song ist ein abgrundtief trauriges, eher langsames Stück, das sich mit Einsamkeit, Verzweiflung und dem Versagen der Kommunikation beschäftigt.
Der Song beginnt mit einem fast wortlosen Stöhnen von körperlosen Stimmen, die um Worte ringen. Wie aus geschlossenen Mündern gesungen murmeln sie „You can’t hear me / You can’t hear me / You can’t hear what I am saying / You can’t hear what I am saying to you“ [17]. In der Bridge hören wir dieselbe Stimme, jetzt stakkatoartig, zerrissen und verzerrt, wie durch gebrochenes Glas betrachtet: „Listen to me, listen to me / Talk to me, talk to me, please / Listen to me, listen to me / Help me, help me, baby“ [17]. Diese zerrissene Stimme haben wir auch schon in Waking The Witch, dem Titel davor, gehört. In einem Lied über das Versagen bei Kommunikation kann nicht einmal der Refrain vollständig gehört und verstanden werden. Darüber singt die Protagonistin, leise und traurig, wie verloren, unsichtbar und unerreichbar: „There’s a ghost in our home just watching you without me.“
Dazu hören wir eine ganz reduzierte Musik, ein fast kalt wirkendes Rhythmus-Pattern. Jeder Takt ist so eine skeletthafte Musik, wir sind gefangen in einer fremdartigen musikalischen Welt. Danny Thompson spielt Kontrabass, Stuart Elliott ist am Schlagzeug. Ab und zu hören wir Streicher, Klänge aus einer fernen, sinnlich-romantischen Welt. Der Song driftet immer mehr ins Unwirkliche ab. Hier ist nichts von der Wildheit der beiden Songs vor und nach Watching You Without Me zu spüren. Die Welten von Waking The Witch und Jig Of Live sind weit weg. „It is like this calm refrain between the songs“ [14].
Wir können Watching You Without Me nicht analysieren, ohne das Umfeld des Songs zu betrachten. Der Song ist das mittlere Stück der aus sieben Songs bestehenden Suite The Ninth Wave dieser alptraumhaften, fast filmischen Geschichte einer Frau, die ins Meer gespült worden ist, die durch Angst, Visionen und den Tod geht, um am Schluss gerettet (oder wiedergeboren) zu werden. And Dream Of Sheep ist dabei nach [13] der Beginn der Reise, das Bewusstwerden der Situation. In Under Ice beginnt die Identität zu verschwinden, in Waking The Witch tritt die mentale Krise ein. Dann kommt unser Watching You Without Me, der Verlust der Identität, der mentale Tod. In Jig Of Live kommt dann wieder Hoffnung auf, durch das Fegefeuer von Hello Earth geht es dann hinein in das Leben mit The Morning Fog [13]. Watching You Without Me steht also in der Mitte der Suite und wird jeweils flankiert von drei Songs. Diese anderen Songs gehen ineinander über, Watching You Without Me aber ist abgegrenzt, steht so für sich allein. „Sound Chaser“ stellt im Bush-Forum [15] die spannende Frage: „Warum ist er in der Tracklist flankiert von jeweils 3 anderen Songs, aber als einziger ohne Crossfade?“ „Dreamin‘ Architect“ gibt in [15] hier eine gute Erklärung. Der Song ist eine Unterbrechung des Lebensflusses der Protagonistin, daher steht er für sich allein. Die Protagonistin ist aus dem Leben gerissen, zumindest temporär, steht ausserhalb der verbliebenen Lebenden, kann nicht mehr mit ihnen kommunizieren. Die drei Songs davor und dahinter stellen ein Gleichgewicht her. Jig Of Live holt sie dann genauso nach unten ins Leben zurück wie sie in Waking The Witch nach unten in den Tod/Nahtod abgedriftet/ertrunken ist. Besser als „Dreamin‘ Architect“ kann ich das auch nicht sagen.
Sam Liddicott geht in [14] ebenfalls näher auf diese beiden begleitenden Songs ein und beleuchtet so die Rolle und Funktion von Watching You Without Me genauer. Die beiden Begleiter sind für ihn zwei der energetischsten und intensivsten Lieder auf The Ninth Wave. Davor kommt Waking The Witch: „This is a terrifying song where one can sense the protagonist slipping away or letting her nightmares take over.“ Jig Of Live ist ganz anders: „That song is like an awakening; almost a call from the skies for the heroine – who, in the suite, is stranded at sea and trying to keep afloat/san.“ Und zwischen diesem Hinab in das Grauen und dem Ruf des Lichts haben wir diese ruhige Brücke, die Watching You Without Me bildet, wir sind in einer eigenen Welt, halten inne.

Nach der alptraumhaften Intensität von Waking the Witch scheint auch eine gewisse Schockstarre zu herrschen. Die Protagonistin hat wohl aufgegeben und bleibt verloren in einer Art geisterhafter Traumwelt zurück. Ihre Gedanken wenden sich den Menschen zu, die sie liebt. Sie denkt daran, wie sie sich um sie sorgen müssen. „„You can‘t hear me“ flüstern die Hintergrundstimmen im vielleicht traurigsten Moment des Albums“, so sagt es Graeme Thomson [1]. Die Protagonistin sieht sich als Geist im eigenen Haus stehen. Das ist eine Nahtoderfahrung, mit der die Protagonistin hier konfrontiert wird. „Im Rahmen von Nahtoderfahrungen haben die Betroffenen oft das Gefühl, über ihrem Körper zu schweben und zu beobachten, was geschieht“ [18]. Der Tod und das Mädchen, so könnte dieser Song auch heißen. Durchnässt von Wasser kann sie nur zusehen. Sie sieht zum ersten Mal, wie ein Leben für die Menschen um sie herum ohne sie aussieht. Das ist ein Tiefpunkt, aber „ultimately it leads into the strong, life-giving connection with life and time and ancestry that is Jig of Life“ [13].
Kate Bush hat sich recht ausführlich über den Song geäußert. „The most upsetting one to do on this album was Watching You Without Me. That’s such a sad thought…“ [7]. Was wollte sie mit dem Lied ausdrücken? In einem Beitrag für den Kate Bush Club hat sie das klar formuliert ([4] – meine Übersetzung): „Das Lied handelt davon, wie sehr sie nach Hause möchte. Das ist wirklich das, was sie am meisten will, einfach nur in der gemütlichen Atmosphäre ihres Zuhauses zu sein, in der Sicherheit dieser vier Wände und des festen Bodens, und mit dem Menschen zusammen zu sein, den sie liebt. Sie merkt, dass sie im Geiste dort ist, und ihr Liebster sitzt in einem Stuhl am Feuer, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie in Wirklichkeit nicht dort sein würde. Sie ist nicht real. Und obwohl sie ihren Mann sehen kann, kann er sie nicht sehen – sie kann in keiner Weise mit ihm kommunizieren. Es ist mehr ein Albtraum als alles andere bisher, denn so nahe kam sie noch nie einer Art von Trost, und doch ist es am weitesten davon entfernt.“ Im Hintergrund geht es Kate Bush auch um das Thema Entfremdung ([6] – meine Übersetzung): „Das Lied sagt viel darüber aus. Eine ähnliche Situation könnte existieren, wenn es um Scheidung ginge. Sie wissen schon, der Ehemann kommt zurück, um seine Kinder zu sehen, aber er ist nicht länger Teil des Hauses. Stattdessen ist er nur ein Beobachter, der von den Leuten dort nicht mehr gesehen wird, weil seine Rolle so anders geworden ist. Ich schätze, es muss ein Gefühl der Unsicherheit in mir geben, das mich in diese Richtung denken lässt.“
Kate Bush hat immer wenig Informationen über ihr Privatleben oder das ihrer Familie gegeben. Es bleibt also offen, ob es einen familiären Auslöser dafür gab, so etwas in einen Song einzubauen. Mit ein paar Jahren Abstand fasste sie das alles 1992 so zusammen: „And I find this really horrific, [laughs] these are all like my own personal worst nightmares, I guess, put into song“ [5]. Es geht Kate Bush hier um ganz persönliche Dinge, es geht um die Familie. Das wird auch durch die Bühnenshow „Before The Dawn“ 2014 bestätigt. Für die Inszenierung des Teils von „The Ninth Wave“ verwendet Kate ihre echte Familie. Ihr Sohn Bertie liegt zu Watching You Without Me auf der Couch im heimeligen Zimmer. Die zweite Person scheint ein Schauspieler zu sein, obwohl auch vermutet wurde, es könnte sich um ihren Ehemann (oder ihren Vater) handeln [12]. Eine Ähnlichkeit mit diesen realen Personen war sicherlich beabsichtigt.

Wie hat Kate Bush nun diese ganzen Dinge musikalisch umgesetzt? In den Hintergrundstimmen gibt es Texte, die für sie aber versteckt sein sollten. Die Protagonistin ist in einer Zwischenwelt, sie versucht zu kommunizieren, aber ihre Botschaften kommen bei den sich um sie sorgenden Familienmitgliedern nicht an. „And when we started putting the track together, I had the idea for these backing vocals, you know, [sings] „you can’t hear me“. And I thought that maybe to disguise them so that, you know, you couldn’t actually hear what the backing vocals were saying“ [5]. Offenbar hat sie dabei an verschiedenen Stellen einen Trick eingesetzt. Sie hat den Text rückwärts eingesungen und dann wieder rückwärts abgespielt. So klingt es wie ein normaler Text, aber verzerrt und verfremdet. Kate Bush hat zuvor denselben Trick für das Outro von Leave It Open verwendet [9]. Welche Textteile das sind, darüber gehen die Meinungen auseinander. In [17] zum Beispiel werden die Zeilen „You don’t hear me” und „We see you here” genannt. In [9] findet sich auch ein Teil der Bridge: „Don’t ignore, don’t ignore me / Let me in and don’t be long“. Aber über den genauen Text sind sich alle Transkriptionen nicht einig, Kate Bushs Verschleierung hat also funktioniert. Kate Bush bestätigt aber, dass sie dieses Verfahren benutzt hat. „Well, that’s something I’ve been experimenting with for a while […]. It’s just a way of using backwards ideas, but actually saying something cohesively“ [8]. „Sound Chaser“ sagt es im Kate Bush Forum [15] sehr treffend: „Grandioses Beispiel, wie jedes von Kate genutzte Produktionsmittel einzig und allein die Message des Songs unterstreicht.“
Schaut man sich die musikalische Ausgestaltung mittels der Partitur [2] genauer an, so wird dieses Urteil bestätigt. Auffällig ist schon das Taktmaß. Der ganze Song steht im 4/4-Takt, es gibt keine Abweichung. Dies ist ungewöhnlich für Kate Bush, die sonst sehr häufig Taktwechsel und kleinere Taktschwankungen liebt. Hier geht alles starr voran, die Musik erinnert so an ein tickendes, unabwendbar ablaufendes Uhrwerk. Die Protagonistin ist gefangen in etwas, aus dem es kein Entkommen gibt. Auch die Tonart ist für die Suite The Ninth Wave ungewöhnlich. Zwischen Liedern in cis-Moll und a-Moll findet sich hier etwas, was schwer zu identifizieren ist. Der Song ist mit 1b notiert, das könnte also ein F-Dur sein. Aber der F-Dur-Akkord kommt überhaupt nicht vor. Wenn es F-Dur ist, dann fehlt der musikalische Boden unter den Füßen. Könnte es d-Moll sein, die Paralleltonart, auch sie mit 1b notiert? Aber auch der d-Moll-Akkord kommt nicht vor. Der Song lässt eine klare tonale Zuordnung auf den ersten Blick aus.
Viele Textzeilen beginnen allerdings auf einem F, dieser Ton ist der Startpunkt der Melodik, das bekräftigt dann doch F-Dur. Es gibt nur Dur-Akkorde in diesem Song, C-Dur-Akkord und B-Dur-Akkord wechseln sich die ganze Zeit über ab. Das ist ein tonales Pendel, von Takt zu Takt wechselt der Grundakkord. Wieder werde ich an das tickende Uhrwerk erinnert, wir sind gefangen in einem ewigen Kreislauf. Diese beiden Akkorde bestätigen aber ein bisschen das F-Dur, denn der C-Dur-Akkord ist die Dominante von F-Dur, der B-Dur-Akkord die Subdominante. Allerdings fehlt die „Erlösung“ durch die Tonika, den F-Dur-Akkord – Watching You Without Me beginnt mit C-Dur-Akkord und endet auch mit diesem. Durch ihre Dominanz lassen die beiden verwendeten Akkorde auch die Tonarten anklingen, für die sie selbst stehen. Es gibt nur positive, helle Dur-Akkorde im Song, sie bilden einen Gegensatz zum traurigen Text. Symbolisiert das die Hoffnung, das Klammern an die Hoffnung auf Rettung? Steht das für das Zuhause, die positive, helle, unberührte Gegenwelt? Ich glaube, das genau das damit ausgedrückt werden soll.
Die Deutung der Tonarten gemäß Beckh [3] gibt uns noch weitere Einblicke und bestätigt meine erste Analyse. F-Dur ist nach Beckh die „Naturtonart“, sie ist „der intime Grundton aller Naturgeräusche“. F-Dur ist „über das Irdische sich erhebend, zu höheren Regionen empordrängend“. Ich interpretiere dies als das Meer, als die Natur, die die Protagonistin umfangen hält. C-Dur ist das „Sichtbarwerden der Sonne, die sich schon in F-Dur, als der „Stunde vor Sonnenaufgang“ ankündigt“, B-Dur ist noch „nicht das Licht selbst, aber die Ahnung des Lichts, die Hoffnung des Lichtes, der Glaube an das Licht […]“. Es ist also viel Hoffnung in den Tonarten, im Gegensatz zum Text. Die Musik sagt „Du bist nicht verloren“, sie sagt „Es gibt ein Licht“. Weist das tonartlich schon voraus auf das „Tiefer, tiefer, irgendwo in der Tiefe gibt es ein Licht“ aus Hello Earth? Aber die Tonarten sind nicht klar, im Hintergrund lauert das d-Moll. Beckh sagt dazu: „Etwas mit Grab und Tod, mit dem Starren, Steinernen der Gruft […] hat die d-Moll-Tonart […] zu tun.“ Ja, die Protagonistin hat noch Hoffnung (die Dur-Akkorde), aber es gibt die todestarre Gegenwelt, mit der sie konfrontiert ist (d-Moll, der Text).

Watching You Without Me ist ein permanent durch d-Moll bedrohtes F-Dur, dazu gibt es in der klassischen Musik eine interessante Parallele. Schuberts Lied „Der Tod und das Mädchen“ ist nach Beckh „[…] eins jener Musikstücke, die in Wirklichkeit nicht auf eine, sondern auf zwei alternierende Tonarten abgestimmt sind: d-Moll, der starre, steinerne Tod, F-Dur, dessen mädchenhafte Anmut hier bei Schubert besonders lieblich zur Geltung kommt, das Mädchen, das zuletzt dem Tod in die Arme sinkt.“ Das dem Lied zugrundeliegende Gedicht ist von Matthias Claudius. „Das als Dialog gestaltete Gedicht stellt das Mädchen antithetisch dem Tod gegenüber, also die junge Frau dem alten (Knochen-)Mann. Ihrer Angst und Abwehr begegnet der Tod mit Beschwichtigung, Ruhe und Sanftheit. Er erfährt damit eine (Um-)Wertung ins Positive, wohingegen das Mädchen die allgemein verbreitete Angst vor dem Tod formuliert“ [16]. Das könnte für mich auch fast eine Beschreibung des Songs von Kate Bush sein. Die Protagonistin ist mit dem Tod konfrontiert. Ihrer Angst und Abwehr (Text, d-Moll) begegnet der Tod mit Beschwichtigung, Ruhe und Sanftheit (Dur-Akkorde). Für Kate Bush hat das Lied auch mit Entfremdung zu tun [6], auch das passt. Der Text lässt sich so interpretieren, das verschlingende Meer wäre ein Symbol für den Schock einer Trennung. Aber selbst in so einer Situation gäbe es Hoffnung, das sagt die Musik. Alles an diesem Song ist ein Schweben zwischen mehreren (hypothetischen) Realitäten/Geschichten/„Welten“, wie Theresa Gionoffrio es ausdrückt [11]. Wir haben die ängstliche, geliebte Familie, wir haben die verzweifelte Protagonistin, irgendwo im Hintergrund ist vielleicht die Rettungsmission unterwegs (der SOS-Code ist zu hören). „The song is a state of unknowing, between this world and the next“ [11].
Viel kann ich dem nicht mehr hinzufügen. Das Lied ist ein Ausdruck eines Zustands totaler Einsamkeit. „JunebugAsiimwe“ fasst es auf Reddit [10] so zusammen: „I love how atmospheric and spacious the production is on this song. It feels like its own separate world from the rest of the Ninth Wave. Like we’re in another realm for a moment. And the lyrics are rather haunting and beautiful. Kate’s a masterful songwriter and producer.“ Und Sam Liddicott meint: „Such a beautiful and image-heavy track that takes the breath!“ [14]. So ist es! © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Graeme Thomson: ‪Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 262
[2] “‪Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S. 167
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.149ff (F-Dur), S.155f (d-Moll), S.71 (C-Dur) und S.245 (B-Dur)
[4] Kate Bush: „Hounds Of Love Songs“. Kate Bush Club. Ausgabe 18.
[5] Richard Skinner: „Classic Albums interview: Hounds Of Love“. Radio 1. 26.01.1992.
[6] Mike Nicholls: „The Girl Who Reached Wuthering Heights“. The London Times. 27.08.1985.
[7] Kris Needs: „Lassie“. ZigZag 11/1985.
[8] Doug Alan: Love-Hounds Interview. 11/1985.
[9] https://genius.com/Kate-bush-watching-you-without-me-lyrics (gelesen 03.05.2024)
[10] https://www.reddit.com/r/katebush/comments/qer0dx/watching_you_without_me_is_a_masterpiece/?rdt=40351 (gelesen 03.05.2024)
[11] https://songmeanings.com/songs/view/54750/ (gelesen 03.05.2024)
[12]  https://www.tumblr.com/madolan/96088668205/watching-you-without-me (gelesen 03.05.2024)
[13] https://katebush.proboards.com/thread/1722/watching-me (gelesen 03.05.2024)
[14] https://www.musicmusingsandsuch.com/musicmusingsandsuch/2021/9/1/feature-the-magnificent-watching-you-without-me-kate-bushs-hounds-of-love-at-thirty-six (gelesen 03.05.2024)
[15] https://www.carookee.de/forum/Kate-Bush/91/Watching_You_Without_Me.13942691.0.01105.html (gelesen 04.05.2024)
[16] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Der_Tod_und_das_M%C3%A4dchen_(Gedicht) (gelesen 09.08.2024)
[17] https://www.katebushencyclopedia.com/watching-you-without-me/ (gelesen 09.08.2024)
[18] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Nahtoderfahrung (gelesen 09.08.2024)

Wild Man

Dieser Song kommt entspannt und etwas geheimnisvoll daher, sein reiches Innenleben zeigt er auf den zweiten Blick. „Wild Man“ ist das erste Stück auf dem Album „50 Words for Snow“, das im weitesten Sinne als Popmusik gelten kann, wie Graeme Thomson [1] richtig anmerkt. Der Song wurde als einzige Single des Albums am 11. Oktober 2011 zum digitalen Download veröffentlicht und erreichte in den Charts in Großbritannien Platz 73 [9].
Bassgitarre, ein klarer Beat, Synthesizerklänge, eine „satte Backup-Stimme“ – für Thomson [1] fügen sich diese musikalischen Bestandteile „elegant und leicht zu einem Ganzen“. Die Strophen sind eine Art Sprechgesang, der „ein bisschen an das bedrohliche Flüstern von Grace Jones“ erinnert oder an „Yoko Ono, während das leicht orientalisch wirkende, durchlaufende Instrumentalmotiv an David Bowie in seiner Lodger-Phase erinnert.“ [1] „Wild Man“ ist ein Song, der viele musikalische Erinnerungsmomente miteinander verknüpft.
Die „satte Backup-Stimme“ gehört Andy Fairweather Low – auch das ein Faden in die Vergangenheit. Er wurde in den 1960er Jahren als Frontmann der Gruppe „Amen Corner“ bekannt, die einige erfolgreiche Singles in Großbritannien hatte. Ihre fünfte Single „(If Paradise Is) Half As Nice“ erreichte am 12. Februar 1969 für zwei Wochen Platz 1 in den britischen Charts [6]. Sie ist auch heute noch ein gern gespielter Klassiker im Radio. Kate Bush hatte schon beim Schreiben des Songs die Stimme von Andy Fairweather Low im Kopf. „But I think that Andy just has one of the greatest voices. I just love his voice. When I wrote the song I just thought, ‘I’ve got to get Andy to sing on this song because he sounds great.’ Which I think he does. He’s just got a fantastic voice.“ [5]

Der erste Vers baut in geheimnisvollem Ton die Szene auf: „They call you an animal / The Kangchenjunga Demon / Wild Man / Metoh-Kangmi“. Es geht um ein mythisches Wesen, den Yeti, wie Kate Bush es selbst erläutert. „Well, the first verse of the song is just quickly going through some of the terms that the Yeti is known by and one of those names is the Kangchenjunga Demon. He’s also known as Wild Man and Abominable Snowman.“ [5] Das Kangchenjunga-Massiv [10] ist der dritthöchste Berg der Welt, an der Grenze von Sikkim zu Nepal gelegen. Das Massiv besteht aus fünf in einer Kette angeordneten Gipfeln, die in der lokalen Sprache auch als die „Fünf Schatzkammern des großen Schnees“ bezeichnet werden. Der erste Versuch einer Besteigung geschah 1905 durch eine Gruppe um den okkulten Schriftsteller und Schwarzmagier Aleister Crowley. Die Expedition scheiterte, mehrere Menschen kamen ums Leben.
Esoterisch-magische Einflüsse finden sich ab und zu bei Kate Bush, man denke an „Lily“ und an „Them heavy people“ („They read me Gurdjieff and Jesu“). Aleister Crowley und der Yeti, das passt in diese Einflusslinie. Die Bestandteile des Songs fügen sich ineinander, „Fünf Schatzkammern des großen Schnees“ könnte dazu auch fast noch ein Alternativtitel des Albums sein.
Die Struktur von „Wild Man“ ist sehr vielschichtig. Leider gibt es zum Album „50 Words for Snow“ kein Songbook. Beim Text und seiner Strukturierung beziehe ich mich auf [2], die Tonarten des Songs wurden ausgiebig auf ‚Tapatalk’ [3] erforscht und diskutiert. Die strukturelle Abfolge beginnt mit Vers 1 – Pre-Chorus 1 – Chorus 1. Dies wiederholt sich dann mit Vers 2 – Pre-Chorus 2 – Chorus 1. Nach einer Bridge folgt ein Abschluss aus Chorus 2 und Vers 3. Den Strukturelementen sind dabei drei Stimmen zugeordnet. Wie schon in früheren Songs (insbesondere auf dem Album „The red Shoes“) verlässt Kate Bush das sichere Pop-Terrain des geradlinigen Erzählens und wechselt im Song die Perspektiven. Andy Gill [8] sagt das sehr schön: „The songs‘ abstruse fictional strategies of myth, fairy tale and time-travel also reflect her frustration with the restrictions of straight narrative.“ Die drei Stimmen klingen wie unterschiedliche Personen, die sich auf einer Expedition in die Berge befinden, offenbar auf der Suche nach dem Yeti.

Die erste Stimme (oder Stimmung) singt die Verse, die mit „They call you an animal“, „The schoolmaster of Darjeeling said“, und „You‘re not a longur monkey“ beginnen, diese Stimme ist ebenfalls für die Bridge („We found your footprints in the snow“) zuständig. Vers 1 beginnt mit leisen, mysteriösen Windgeräuschen, dann setzt die „orientalische Melodie“ ein. Eigentlich ist das keine Melodie, es ist eher eine Art Signal aus zwei Tönen. Dieses Signal begleitet die erste Stimme in den Versen ständig, nur in der Bridge fehlt es. Kate Bush singt diese erste Stimme, es ist kein Gesang, es ist ein Geflüster, es ist eher wie gehaucht. Ein Anflug eines fremdartigen Akzents ist zu spüren. Es klingt so, als ob an einem Lagerfeuer irgendwie in den Bergen des Himalaya ein Märchen erzählt wird, vielleicht von einem Sherpa, einem einheimischen Führer. Zum den Song beschließenden Vers 3 kommt noch eine Vokalise hinzu, die mich an den Summchor aus „Madame Butterfly“ erinnert. Diese Oper hat ebenfalls ein fremdartiges Sujet und behandelt den Konflikt Japan – westliche Welt. Auch in „Wild Man“ trifft eine zerstörerische westliche Welt auf eine asiatische Welt. Die erste Stimme erzählt von Sichtungen des Yeti, erzählt dabei von realen Orten aus dem Himalaya. Die Nennung dieser Namen in dieser Ballung klingt so fremdartig wie aus einen Märchen. Die Tonart hier ist schwer zu bestimmen, es scheint ein a-Moll zu sein [3]. Nach Beckh [4] ist a-Moll schwermütig, poetisch, es ist die Tonart des Zwielichts, die elegische Sehnsuchtstonart, die Tonart der schwermütigen Volksweise. Das passt gut zu diesem geheimnisvolle Wispern und Raunen der ersten Stimme.
Die zweite Stimme bestimmt die Pre-Chorus-Passagen, die mit „Lying in my tent“ und „They want to know you“ beginnen. Zur geflüsterten Stimme kommt nun eine hohe Singstimme dazu, die fast etwas geisterhaft klingt. Die Melodie ist hier weit weg von dem Zweiton-Signal, es ist eine romantische, schwingende Melodie. Vielleicht singt hier eine Frau, Mitglied einer Expedition in die Berge. Sie lässt sich auf die Geschichten ein und glaubt nun fast, den Yeti draußen zu hören. Vielleicht ist es aber auch nur eine Phantasie von ihr, eine Träumerei. Die Tonart wendet sich nach e-Moll, einer nach Beckh [4] sehr ambivalenten Tonart, die sich bis zum Ausdruck des Erhabenen steigern kann. Für das träumerische Nachsinnen über eine mystische Gestalt ist das passend. In den Chorus-Passagen – beginnend mit „While crossing the Lhakpa-La“ im Chorus 1 und „From the sherpas of Annapurna“ im Chorus 2 –  ändert sich die Stimmung. Es wird fast hymnisch, ein Chor aus einer Männerstimme (Andy Fairweather Low) und Kate Bush singt den Text. Offenbar erzählen hier Expeditionsteilnehmer von ihren Beobachtungen, von den Fußabdrücken im Schnee. Die Männerstimme ist nicht die Verkörperung des Yeti, wie vermutet wurde, Kate Bush selbst hat das herausgestellt: „Andy doesn’t play the hirsute beastie, he’s one of the people on the expedition into the Himalayas.“ [5]. Die Tonart ist nun ein fast begeistert klingendes E-Dur. Die Chorus-Passagen bedeuten jeweils eine Wendung hinein in eine optimistischere Sichtweise. E-Dur ist nach Beckh [4] die wärmste aller Tonarten, es ist die Sonnentonart. Sie steht für Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit und Liebeswärme. Es-Dur „hat die Helligkeit einer Welt der Träume, des Dichterischen, der höheren Bilderschau, in der wir der gewöhnlichen Tageswelt gänzlich entrückt sind.“ Ist die Wendung ins Positive, Optimistische nur ein Traum?

Wild Man Comic Cover / Yirry Yanya
Das Cover des Comics „Wild Man“ von Yirry Yanya.

Zum Song hat sich Kate Bush glücklicherweise recht ausführlich geäußert. In einem Interview in der „Zeit“ [7] gibt sie die Grundrichtung zur Interpretation des Songs vor: „Die Geschichte, um die es geht, ist auf vielerlei Arten auslegbar. Vor allem ist es ein Lied, das von meiner Zuneigung für dieses arme, verfolgte Wesen handelt. Der Yeti ist ein scheues Individuum, das eben allein gelassen werden will. Ist das so schwer zu verstehen?“ Graeme Thomson [1] weist treffsicher darauf hin, dass das „Bewahren von Geheimnissen, der Schutz des Mythos, das Bedürfnis, nicht allem und jedem einen Namen zu geben und es in einen Käfig zu sperren, [..] ein klassisches Anliegen von Kate Bush [ist], das sie offenbar auch ganz persönlich betrifft.“ Andy Gill [8] sagt über das Album, dass die Songs alle voller Empathie für Figuren sind, die nur auf mythische Weise existieren. Es ist, als ob der Schnee diesen Wesen Schutz bietet und ihnen erlaubt, unter seiner Decke zu existieren. Dies trifft auch auf „Wild Man“ zu. Kate Bush hat dieser Sicht in dem Interview zugestimmt. „Someone else observed that a lot of the creatures are mythical, for want of another word, fantastical creatures – even a snowflake, if you think of it as a living thing.“ [8]. In der „Zeit“ [7] hat sie diese Gedanken noch weiter ausgeführt. Auf die Frage, ob nicht fast alle Rätsel, dank Google und Internet, ohnehin schon enthüllt seien, antwortete sie so: „Und ist das nicht schrecklich? Gerade diese Vorstellung hat mich zu einem Lied darüber bewogen, wie kostbar die Idee eines Fabelwesens ist. Es hat doch einen Grund, warum alle Völker solche Kreaturen haben, die ihre Fantasie beflügeln. Die Amerikaner gruseln sich zum Beispiel vor Bigfoot, ihrer Version eines Yeti. Es sind Symbole für etwas, das wir nicht durchschauen. Und es ist ein wunderbarer Zustand, nicht alles wissen zu können.“ Ihre ganze Anteilnahme und Sympathie gehört diesen geheimnisvollen Kreaturen, die nicht ganz zu unserer realen Welt gehören.
„Well, I don’t refer to the Yeti as a man in the song. But it is meant to be an empathetic view of a creature of great mystery really. And I suppose it’s the idea really that mankind wants to grab hold of something [like the Yeti] and stick it in a cage or a box and make money out of it. […] I think we’re very arrogant in our separation from the animal kingdom and generally as a species we are enormously arrogant and aggressive. Look at the way we treat the planet and animals and it’s pretty terrible isn’t it?“ [5]
Aber vielleicht sieht Kate Bush auch eine gewisse Wesensverwandschaft zwischen sich und dem Yeti, wie Graeme Thomson anmerkt. „In dieser originellen Umkehrung der archetypischen Geschichte von Jägern und Gejagten muss man keine großen interpretatorischen Sprünge unternehmen, um Kate Bush als „wilden Mann“ hoch in den metaphorischen Bergen wiederzuerkennen, der von der Meute gejagt seine Spuren im Schnee verwischt.“ [1]. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Kate Bush ist eine solch augenzwinkernde Wendung durchaus zuzutrauen.
„Wild Man“ mag wie ein Popsong klingen, inhaltlich und gestalterisch ist er aber weit davon entfernt. Bisher hatte ich ihn nicht besonders beachtet, vielleicht lag das an seiner unspektakulären, ruhigen Art. Jetzt nach dieser näheren Beschäftigung mit diesem Song hat sich das geändert. „Wild Man“ ist genial gestaltete, wohl überlegte Schlichtheit. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.414
[2] https://genius.com/Kate-bush-wild-man-lyrics (gelesen 30.04.2020)
[3] https://www.tapatalk.com/groups/thehomegroundandkatebushnewsandinfoforum/wild-man-chord-progression-t20249-s20.html (gelesen 30.04.2020)
[4] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.78f (a-Moll), S.218 (e-Moll), S.263ff (E-Dur)
[5] John Doran: „A Demon In The Drift: Kate Bush Interviewed“. The Quietus. 13.11.2011
[6] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Andy_Fairweather_Low (gelesen 16.05.2020)
[7] Christoph Dallach: „Sängerin Kate Bush ‚Ich bin doch kein Yeti!‘“. Die Zeit. 25.11.2011
[8] Andy Gill: „Kate Bush: The ice queen of pop returns“. The Independent. 18.11.2011
[9] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Wild_Man_(Kate_Bush_song) (gelesen 16.05.2020)
[10] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Kangchendz%C3%B6nga (gelesen 16.05.2020)

Why Should I Love You?

wsily400
pks

Es gibt Songs, deren Entstehungsgeschichte nebst der Anekdoten, die sich um sie ranken, ein Traum für Analysten sind. Solch ein Song ist „Why Should I Love You?“. Einer der auffälligsten Momente auf dem Werk The Red Shoes – nicht zuletzt deshalb, da es sich hier um ein Teamwork zweier Alphatiere der Popmusik handelt. Und dies zu einem Zeitpunkt, in dem sie – Daisy Jones von VICE weist darauf hin1 – in völlig unterschiedlichen Lebensphasen steckten: Kate noch unter dem Eindruck des Todes ihres Gitarristen Alan Murphy, sowie der sich langsam abzeichnenden Trennung von Del Palmer, Prince in überschwänglicher Laune, nachdem er sich von der dunklen Phase des Black Album spirituell befreit hatte. Ob über Kates transatlantisches Tête-à-tête mit Prince nach dem frühen Tod des Querkopfs aus Minnesota noch ein paar Details mehr ans Licht kommen? Wir wissen ja schon eine Menge.
Aus direkter Quelle gibt es Infos darüber, wie es überhaupt zum Teamwork kam, denn Del Palmer selbst hat die Geschichte 1993 im Homeground-Fanzine2 zu The Red Shoes erzählt. Kate besuchte 1990 ein Prince-Konzert der „Nude Tour“ in der Wembley-Arena – nicht ganz uneigennützig, denn sie wollte abchecken, ob das Stadion auch für eines ihrer eigenen Konzerte taugen würde (!). Kurz vor Beginn des Konzerts überreichte ihr ein Bote des Prinzen einen Notizzettel, auf dem sich der Amerikaner als Fan zu erkennen gab. Die so Verehrte fing – kreatives – Feuer und versuchte Prince backstage abzupassen, aber seine Majestät war schon entwischt. Die Zusage für eine Zusammenarbeit gab es aber kurz darauf per Telefon.
Um die verschachtelte Genese des Songs nachvollziehen, betreten wir jetzt zunächst Kates Studio. Es ist ein Glücksfall, dass das Rohmaterial für den Song vor einiger Zeit geleakt wurde, und so wissen wir, welche Klänge Kate gen Paisley Park schickte3. Die fast siebenminütige Prima Materia unterscheidet sich ganz wesentlich vom Song der CD-Version: Nicht nur die Textstruktur ist noch eine ganz andere, es gibt auch einen Chorus, für den der rhythmische Unterbau wechselt und der sich dadurch hymnisch abhebt. Die Refraingestalt der CD-Fassung erklingt hier nur flüchtig von 5‘28“-5‘43“, wird aber für unsere Geschichte wesentlich werden. Wollte Kate Prince eine Spielwiese zum Austoben bieten? Oder ist das die Songlänge, wie sie sie ursprünglich zu veröffentlichen gedachte? Glaube ich nicht, aufgrund der vielen Wiederholungen. Was sie sich von Prince wünschte, darüber gibt es wiederum verschiedene Aussagen: Sie selbst äußerte lediglich, sie hätte an Gitarrenspuren gedacht.4 Paul Sinclair dagegen vermutet, sie hätte vorgesehen, dass er über den Textabschnitt „The fine purple…“ Vocals legen solle.
Del Palmer im „Homeground“ wiederum ist es zu verdanken, dass wir über die weiteren Ereignisse des kreativen Austauschs Kenntnis haben: Vom anfänglichen Entsetzen darüber, dass zunächst nur das unberührte Demoband aus Paisley Park zurückkam, bis zum Enthusiasmus über das später eintreffende Paket mit Princes kreativen Früchten. Die „Fine Purple“-Passage ließ er unberührt. Vielleicht, weil ihm das in Hinsicht auf die Textnähe seines eigenen Hits „Purple Rain“ zu offensichtlich gewesen wäre? Herausgepickt hat er sich offensichtlich nur den oben erwähnten Schnipsel der Demoversion ab 5‘28“, und ihn mit Spuren aus Vocals, Keyboards, Gitarren und Bässen vollgeschichtet. Wie sich die Vollversion seines Materials anhörte, darüber lässt sich bisher nur mutmaßen. Kate selbst bat laut Princes Toningenieur Michael Koppelman die Amerikaner darum, das Material zu vernichten6 . Aber ob sie das auch taten? Einiges über den problematischen Charakter von Prince enthüllen die amüsanten Anekdoten auf Koppelmans Blog von 2005, inklusive der diebischen Freude des Engineers über die Fehler seiner Majestät beim Einsingen der Vocals. Denn es heißt ja tatsächlich: „of all the people in the world“ statt „All of the people…“
In einer letzten Etappe, die allerdings zwei Jahre dauern sollte, wurden Kates Anfangsideen zusammen mit Princes neuen Zutaten zurückgebastelt zu einem Kate Bush-Song. So zumindest beurteilt das Del Palmer. Eigentlich ist aber nur das Intro vom ursprünglichen Charakter übriggeblieben. Nach einer Minute herrscht der Discofunk Princescher Prägung, der allerdings wie ein genialer Geistesblitz ohne Vorankündigung – denn das Wort „LOVE“ ist ja noch nicht einmal zu Ende buchstabiert – über den Hörer hereinbricht. Wie sich Princes und Kates Vocals allein im „of“ der ersten Zeile melismatisch verzwirbeln: Das ist zum Niederknien. Unterfüttert ist ab jetzt alles von einem grandiosen E-Bass-Lauf, den Kate zum Ostinato für das ganze Stück erkoren hat. Princes immer wieder von neuem anrollende E-Gitarren-Passagen sind voll feiner Kantigkeit, seine Chöre von samtener Soulfarbe. Dass Kate für die „Finest Purple“-Passage einen schwarzen Sänger ersehnt hatte, darauf deutet dann doch hin, dass sie letztendlich den britischen Komiker Lenny Henry ins Studio bat: Sein Gesang ist aber nur ein matter Abglanz dessen, was bei Prince möglich gewesen wäre.
Nach all diesen genealogischen Details des Songs nun eine abschließende Betrachtung: Kates erste, introartige Strophe mit den warmen Vokalpassagen des Trio Bulgarka gehört für mich zu den intensivsten Stellen auf The Red Shoes. Mit der Orgel und den sanften Drums bekommt es etwas Weihevolles. Textlich knüpft sie hier an „Song Of Solomon“ an: Eine fast religiöse Überhöhung der Liebe und des Geliebten, die in der zweiten Strophe durch die Jesus-Zeilen verstärkt wird. Warum sollte ich von allen Menschen auf der Welt gerade dich lieben? Letztendlich lässt es sich nicht erklären, warum man sich oft gegen alle Vernunft für jemanden entscheidet. „There‘s just something ‘bout you“, kann man da vielleicht nur stammeln. Und die edelsten Metaphern wie „fine purple“, „purest gold“ hervorholen, um die Gefühle zu beschreiben. Kate selbst hat den Song in seiner Urform als „R&B type“ beschrieben. Ich würde sogar noch weiter gehen: Es ist ihre Art von Gospel – und guter Gospel hebt die Trennlinie zwischen irdischer und himmlischer Liebe auf.
Aber dann – nachdem sich die anfängliche Faszination über den hineinstürzenden Funk à la Prince gelegt hat, nachdem die zweite Strophe nochmals die heilige Atmosphäre beschwört hat – dreht der Song immer mehr in den Leerlauf, entwickelt sich nicht mehr weiter. Es ist einfach ein – zugegeben großartiger – Showcase für die Multitracking-Spleens zweier Genies, die aber nie ihre befruchtende Kreativität miteinander im Studio gespürt haben. Man merkt überdeutlich, dass hier nicht kommuniziert, sondern konstruiert wurde, und zwar ein wundersames Klanggebilde zwischen Minneapolis, London und Sofia. Randnotiz: Homogener hört sich Kates Sidewoman-Revanche an, im Song „My Computer“ für das Prince-Album Emancipation (1996) – sicherlich gerade deshalb, weil sie sich von vorneherein auf Background Vocals beschränkte.
Noch einmal eine ganz andere Welt aus „Why Should I Love You“ hat Mike Scott gebaut: eine Rockhymne mit einer sich allmählich entfaltenden, dramatischen Strahlkraft, als Beitrag zur Kompilation Come Again (1997)7. Keine Frage, ich verehre Kate und ich habe den größten Respekt vor Prince. Aber wenn ich ganz ehrlich bin: Als Song im klassischen Sinne berührt mich die Version des Waterboys-Chefs tatsächlich mehr. (Stefan)

1 http://noisey.vice.com/blog/how-prince-met-kate-bush-and-made-why-should-i-love-you
2 Cloning Made Easy – recollections of The Red Shoes by Del Palmer, S.10 – Homeground Fanzine 1993, Novercia Ltd./Kindlight
3 https://www.youtube.com/watch?v=IbP-dapt09Q
4 Kates Notizen zu den Albumsongs im Homeground Fanzine 1993, Novercia Ltd./Kindlight, S.2-6
5 http://www.superdeluxeedition.com/feature/when-prince-worked-with-kate-bush/
6 https://lolife.com/2005/02/15/kate-bush/
7 https://www.youtube.com/watch?v=GeXr72TW-WQ

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Wow

„Wow“ ist eines der Highlights auf „Lionheart“, dem zweiten Studioalbum von Kate Bush. Ganz leise und sehr stimmungsvoll beginnt es, wie die Musik zu einem Bühnenauftritt. Der Vorhang öffnet sich und die Spannung steigt auf das, was nun kommt. „We’re all alone on the stage tonight“ – Träume werden wahr, die Kindheit ist vorbei und plötzlich steht man allein und zitternd auf der Bühne. Die Strophen sind ruhig und balladenhaft gehalten. Sie enden mit Zeilen, die mit „Oh yeah you’re amazing!“ beginnen, diese Strophenteile sind mit Zuspruch gesungen, fast sogar mit etwas Bewunderung in der Stimme. Der Chorus besteht fast nur aus einem wiederholt gesungenen „Wow“ – das letzte Wow geht beim ersten Durchgang ganz in die Höhe, beim zweiten Durchgang ganz nach unten. Das ist fast ein bisschen karikierend.
Das ganze Lied ist eine Einheit, es gibt keine Brüche in der Stimmung. Es ist aufgebaut wie ein Theaterstück mit Einleitung, Geschichte und Schluss. Es endet mit einem „We‘re all alone on the stage tonight“, danach ertönen Töne bzw. Vokalisen, die an das „Wow“ erinnern. Ganz zum Schluss schließen Vokalisen als Abschluss und Ausklang den Vorhang. Der Song ist voller dramatischer Wucht [1] und ein Kaleidoskop aus Verweisen auf die Bühne und auf das Showbusiness. Die erste Zeile handelt davon, allein auf der Bühne zu stehen, es geht weiter mit einem Verweis auf einen homosexuellen Schauspieler, der es nicht in die britische Krimiserie „The Sweeney“ (Fernsehserie aus den Siebzigern [6]) schafft. Ein Hinweis auf das  Showbusiness jagt den nächsten. Kate Bush hat das so erläutert: „Wow is a song about the music business – not just rock music but show business in general, including acting and theatre. People say that the music business is about rip-offs, the rat race, competition, strain, people trying to cut you down and so on, and though that’s all there, there’s also the magic.“ [5]
Die Biographen beschäftigen sich recht intensiv mit diesem Song, z.B Graeme Thomson: „Der Text nimmt die Eitelkeiten des Theaterbetriebs mit spitzer Zunge aufs Korn, und sie erlaubt sich einen herrlich anzüglichen Scherz, den sie im Video noch betont, wenn sie zu der Zeile „He‘s too busy hitting the vaseline“ ihr Hinterteil herausstreckt und ihm einen satten Klaps gibt“ [2]. Hinzuzufügen ist noch, dass sie bei der Erwähnung der Krimiserie „The Sweeney“ eine abfeuernde Pistole markiert. Später schien sie sich mit „derart ungeschminkten Zweideutigkeiten“ [2] nicht mehr wohlzufühlen. Als sie 1986 die Videosammlung „The whole story“ veröffentlichte, unterlegte sie den Song anstelle des Promo-Videos mit einer Collage aus Szenen ihrer Liveauftritte [2].
Der Text ist auch in anderer Hinsicht etwas frech. Ausgiebig und ironisch werden im Text Lieblingsworte von Kate wie „amazing“, “ooh yeah“, „incredible”, „fantastic“, „wow“, „unbelievable“ benutzt. Journalisten hatten sich wiederholt über den ausgiebigen Gebrauch solche Worte in Interviews lustig gemacht. Eingespielt wurde der Song von der KT Bush Band mit Charlie Morgan, Del Palmer und Brian Bath [1]. Er war bereits vor den Arbeiten zum Album „Lionheart“ geschrieben und schon in die engere Auswahl für „The kick inside“ gekommen. Er kam nicht auf das Debutalbum, weil er offenbar nicht richtig dazu gepasst hatte [2].
Kate Bush hatte mit diesem Song auch musikalische Ideen, die von der Öffentlichkeit aber kaum bemerkt wurden: „It was sparked off when I sat down to try and write a ‪Pink Floyd song, something spacey; though I’m not surprised no-one has picked that up, it’s not really recognisable as that“ [5] Auch zur Aufnahme des Songs gibt es Aussagen von Kate Bush. Sie deuten darauf hin, dass hier schon der Perfektionismus der Künstlerin durchgeschlagen hat. „I’ve really enjoyed recording ‚Wow‘. I’m very, very pleased with my vocal performance on that, because we did it a few times, and although it was all in tune and it was okay, there was just something missing. And we went back and did it again and it just happened, and I’ve really pleased with that, it was very satisfying.“ [7] Das „a few times“ ist wahrscheinlich ein Euphemismus für „immer wieder“.
Der Song ist im 4/4-Takt gehalten, mit sehr kurzen Einschüben von 2/4 vor dem Chorus. Die Tonart ist ein a-Moll, der Chorus wird von C-Dur-Akkorden begleitet („Wow …. unbelievable“). C-Dur ist die Dur-Parallele zu a-Moll [3]. Wie so oft bei Kate Bush sagen die Tonarten viel über den Song aus und oft geben sie den Textzeilen eine zusätzliche, hintergründige Bedeutung. Nach Beckh [4] ist a-Moll schwermütig, poetisch, elegisch, es ist eine Sehnsuchtstonart. Das passt gut zur (vergeblichen) Sehnsucht nach Anerkennung, die thematisiert wird. C-Dur ist das klare Licht, die nüchterne Klarheit [4]. Es kann aber auch feurig und temperamentvoll sein. Die Wow-Ausrufe des Chorus sind also ehrlich gemeint, es sind temperamentvolle Feststellungen mit nüchterner Bedeutung.
Zu den Strophenteilen „Oh yeah you‘re amazing ….. But still we don‘t head the bill“ und „Oh yeah you‘re amazing …. But you‘d have to play the fool“ gibt es einen Tonartwechsel. Es treten hier die Akkorde B-Dur, g-Moll, As-Dur und F-Moll auf, diese Akkordkette wird jeweils zweimal wiederholt. Das kann Es-Dur oder c-Moll sein [3]. Beide Tonarten stehen für das Kämpferische und Heroische [4]. C-Moll ist die Tonart, die am festesten auf dem Boden, am stärksten auf der Erde steht, sie ist das Fundament für die eigene Kraft und Stärke [4]. Die Verwendung von c-Moll / Es-Dur ist für mich – in Kenntnis weiterer, späterer Songs – sehr bemerkenswert. Eine Akkordgestaltung aus diesen Tonarten findet sich auch in „The Fog“ und „Lily“. Dort steht c-Moll für die Sicherheit, die der Vater bzw. die Heilerin gibt und Es-Dur ebenfalls für das Herauskämpfen aus einer schwierigen Situation. In „Running up that hill“ wird c-Moll im Zusammenhang mit einer Anrufung der positiven Mächte benutzt. Auch in „Never be mine“ wird c-Moll benutzt. Bei Kate Bush ist c-Moll die Klangwelt der Ratgeber, der Wissenden, der „guten Mächte“. Es ist die Sicherheit und der Schutz, der feste Grund unter den Füßen. Interpretiert man es so, dann sind diese Strophenteile ein Zuspruch, eine Unterstützung, eine Aufmunterung.
Auf den ersten Blick scheint der Text sich über die Personen und ihre Situation lustig zu machen. Die Tonarten sagen etwas anderes – glaube an Dich, tue es, gib nicht auf, wir stehen zu Dir. Die Biographen sind sich in der Bewertung diesmal einig. Jovanovic bewundert die schlichte, aber effektive Struktur, die herausragende Komposition und hält „Wow“ für einen ihrer ausgereiftesten Songs überhaupt [1]. Für Thomson ist „Wow“ ein geradezu klassischer Popsong mit zurückgenommenen Strophen, einem Refrain, der abhebt, und ausdrucksstarkem Gesang [2]. Diesmal habe ich keinen Grund, den beiden Biographen zu widersprechen, es stimmt einfach. Wegen seiner eingängigen Qualitäten erschien der Song im März 1979 als Single und erreichte zurecht in Großbritannien Platz 14 der Single-Charts [2]. © Achim/aHAJ

[1] Rob Jovanovic: Kate Bush. Die Biographie. Höfen. Koch International GmbH/Hannibal. 2006. S.92f
[2] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.113f und 152ff
[3] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987.  S.172f
[4] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S.78f (a-Moll), S.71f (C-Dur), S.124f (Es-Dur bzw. c-Moll)
[5] Kate Bush: „Hello Everybody“ & Interview . KBC Issue 2 (Sommer 1979).
[6] https://en.m.wikipedia.org/wiki/The_Sweeney (gelesen 24.10.2018) [7] https://www.katebushencyclopedia.com/wow (gelesen 16.10.2018)

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Wuthering Heights

wh400

“Wuthering Heights” – ein Donnerschlag von einem Lied. “Wuthering Heights” – der Raketenstart für die Karriere von Kate Bush. Was soll ich über ein Lied schreiben, das etwas so Besonderes ist? Die sachliche Annäherung fällt schwer, wenn etwas so in eine Aura von Größe eingehüllt ist. Aber man muss ja nicht immer nur sachlich sein.
Bei jedem Wiederhören überrascht mich die wilde Originalität. “Wuthering Heights” war damals so anders, so verquer, so besonders – das hat mich vom ersten Hören an beeindruckt. Selbst nach 35 Jahren klingt dieses Lied „neu“. Es würde heute noch genauso viel Aufsehen erregen wie damals. Es ist ein Titel, der sich ganz vehement allem entgegenstellte, was zu dieser Zeit angesagt war (1).
Der Song bezieht sich auf den Roman “Wuthering Heights” von Emily Brontë. Das Findelkind Heathcliff wächst bei der Familie Earnshaw auf dem Gutshof Wuthering Heights auf, der auf einer windgepeitschten Anhöhe im Hochmoor von Yorkshire liegt. Als Jugendlicher verliebt sich Heathcliff in seine Ziehschwester Cathy. Cathy heiratet jedoch den wohlhabenden Edgar Linton, der das feudalere, im fruchtbaren Tal gelegene Herrenhaus Thrushcross Grange bewohnt. Tief gekränkt läuft der Junge davon. Nach drei Jahren kehrt Heathcliff als gut aussehender und reicher junger Mann zurück und versucht, Cathy wieder für sich zu gewinnen. Ihre alte Liebe zu Heathcliff flammt wieder auf. Doch Cathy ist schwanger und nicht zu einer Aufgabe ihrer Ehe bereit. Sie wünscht sich Heathcliff als Freund und Vertrauten, den auch Edgar akzeptieren soll. Aus Zorn und Frustration nimmt Heathcliff Rache an den Earnshaws und Lintons, indem er beide Familien terrorisiert und in den Ruin treibt. Zuerst heiratet er gegen Edgars Willen dessen Schwester und misshandelt sie in der Ehe. An dem daraus folgenden Konflikt zwischen Edgar und Heathcliff zerbricht Cathy. Sie stirbt im Kindbett; ihre Tochter, die ebenfalls den Namen Catherine trägt, überlebt. Am Schluss ist Heathcliff Herr über beide Häuser. Aus Geiz vermietet er Thrushcross Grange, welches er eigentlich aus Rache abreißen lassen wollte, an den jungen Lockwood. Als dieser Mieter bei seinem Begrüßungsbesuch eine Nacht auf Wuthering Heights verbringt, hat er eine mysteriöse Vision: der Geist Cathy Earnshaws erscheint ihm des Nachts am Fenster und fleht um Einlass. Heathcliff erleidet einen Schock durch diesen Bericht, der eine plötzliche, drastische Wende in seiner Person hervorruft. Seine Energie ist verbraucht. Er kann vor Entkräftung nicht mehr essen, trinken und schlafen. Am Ende verfällt er einer nicht erklärten Verzückung und stirbt eines Nachts im Zustand der Ekstase. Das Fenster an seinem Bett steht offen. (2)(3)
Inspiration für den Song waren die letzten Minuten einer Verfilmung des Romans. Welche Verfilmung es war ist unklar, die Quellen widersprechen sich. Die meisten der Verfilmungen beschränken sich auf die erste Hälfte des Romans bis zu Cathy Earnshaws Tod. Am wahrscheinlichsten ist daher eine BBC-Miniserie von 1967, da sie das Ende des Romans werkgetreu abbildet. Kate Bush war von dieser Schlussszene sofort fasziniert (4): “Ich hatte nur noch das Ende des Films mitbekommen. Es war wirklich gruselig, denn es gibt da diese Hand, die durch das Fenster kommt und dieses Geflüster. So etwas mochte ich schon immer, wissen Sie. Es ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Ich musste einfach einen Song darüber schreiben.” Mitgespielt haben hier wohl auch zwei persönliche Bezüge. Der Vorname der Romanheldin ist auch der Vorname von Kate (eigentlich Catherine) Bush. Zudem hat die Sängerin den Geburtstag 30.Juli mit Emily Brontë gemeinsam.
Entstanden ist der Song im Schein des Vollmonds in einer Sommernacht 1977. Kate Bush las den Roman und schrieb den Song, bevor sie das Buch ganz zu Ende gelesen hatte. Sie macht sich die Leidenschaft, die Gewalttätigkeit, die Abgründe der Romanheldin zu Eigen (4). Der Song fasst die Essenz des Romans in vier Minuten zusammen, besser als es jede Verfilmung bisher geschafft hat. Zu Beginn erklingt in der Introduktion neben dem Klavier die Celesta. Ein gläserner Klang, das Klopfen an das Fenster. Das ist himmlische Musik – die Celesta dient in der klassischen Musik oft zur Symbolisierung überirdischer Situationen. Es öffnet sich ein Fenster in eine Gegenwelt. Dann setzt die Stimme ein, ganz hoch, schrill, irreal – die Protagonistin des Romans kehrt als Geist wieder.
Der Text der ersten Strophe ist voller Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit. “Out on the wiley, windy Moors we’d roll and fall in green” beschreibt die Kindheit der beiden, das Spielen im Moor. Cathy und Heathcliff sind seelenverwandt, wild. eifersüchtig, lebensgierig: “You had a temper like my jealousy, too hot too greedy.”. Liebe verwandelt sich in Hass und ist von ihr doch nicht zu trennen: “How could you leave me, When I needed to possess you? I hated you. I loved you, too.”. (2) Komponiert ist dies in A-Dur, der Tonart des Lichten, Überirdischen, der Tonart der “lichten Höhen”, die “von allem Zauber der Romantik umwoben” ist (5).
“I’m coming back, love, cruel Heathcliff, my one dream, my only master.” Im Tod bekennt sich Cathy zu ihrer wirklichen Liebe Heathcliff. Sie ist nach Hause, nach Wuthering Heights, zurückgekehrt und bittet am Fenster um Einlass: “Heathcliff, it’s me, Cathy, I’ve come home. I’m so cold, let me in-a-your window.”. Die Welt der Toten ist dunkel und kalt ohne die wahre Liebe: “Ooh, it gets dark! It gets lonely, on the other side from you.”. Darum holt sie seine Seele zu sich. “Ooh! Let me have it. Let me grab your soul away. You know it’s me–Cathy!” (2) Diese Zeilen stehen in b-Moll, das als die “Todestonart, als Tonart des Sterbens” gilt. B-Moll, das sind “Todesgedanken, Todesempfindungen”, es ist die “eigentliche Tonart des Sterbens, des harten Todeskampfes” (6). Heathcliff erkennt Cathy und stirbt in Verzückung über die letztliche Vereinigung mit ihr. Dieser Kontrast A-Dur zu b-Moll bestimmt auch den Schluss von Richard Wagners Lohengrin, in dem eine große Liebe tragisch endet. Ganz allmählich blendet sich der Song schließlich aus, verdämmert in der Ferne. Beide Seelen entschwinden.
Es gibt viele Taktwechsel, besonders im Chorus (2/4, 3/4, sonst 4/4, 2/4). Dadurch entsteht ein Rhythmus, zu dem man nicht richtig tanzen kann, es ist unwirklich, neben der Welt. Die Melodie springt über zwei Oktaven hin und her, ohne Fixpunkt, ohne richtigen tonalen Schwerpunkt. Diese Gestaltung sprengt den Rahmen der Konvention genauso wie es die Liebe zwischen Cathy und Heathcliff tut. Passiert hier in “Wuthering Heights” also etwas Unheimliches – wie die Geistererzählung nahelegt – oder geschieht hier ein Geraderücken einer gestörten Ordnung?
Im Wikipedia-Artikel über den Roman (3) finden sich dazu aufschlussreiche Informationen. Cathy sagt als junges Mädchen: „Ich bin Heathcliff“. Zwischen ihr und Heathcliff, so glauben beide, besteht eine unzerstörbare Einheit. Diese Beziehung ist erwachsen aus der Seelenverwandtschaft der wilden Kinder im gemeinsamen Erleben der ungebändigten Natur von Wuthering Heights, dem gemeinsamen Kampf gegen die Unterdrückung durch den Bruder von Cathy und der Verachtung der verfeinerten Lebensform auf Thrushcross Grange. Durch ihre Heirat mit Edgar und abfällige Worte über Heathcliff hat Cathy Verrat begangen und dieses Band zerrissen. Damit hat sie gleichsam ein ewiges Naturgesetz verletzt. Die schreckliche Rache Heathcliffs an den Familien Earnshaw und Linton nach dem Tode Cathys kann daher als ein Unheil interpretiert werden, das durch die Verletzung dieser natürlichen Ordnung entsteht. Heathcliff ist zum Ende immer mehr der Gehetzte und Gejagte, die verstorbene Cathy bestimmt als für ihn spürbare, jedoch unsichtbare Geistererscheinung sein Handeln mit. So erzählt er in einem Kapitel des Romans, dass diese Erscheinungen nicht seiner Fantasie entspringen, sondern – im Sinne der Realität des Romans – „real“ sind. Bezeugt werden die Erlebnisse durch den Rationalisten Lockwood.
Die Wandlung Heathcliffs vor seinem Tode im Roman und die Nutzung der Tonarten im Lied deuten für mich eindeutig auf ein positives Ende hin. Die Liebe zwischen den Kindern der nächsten Generation erinnert Heathcliff an seine Beziehung zu Cathy. “Sie lässt die harmonische Einheit, die durch den Verrat Cathys zerstört worden war, erneut aufleben und besänftigt gewissermaßen die Rachegeister. Möglich ist die Interpretation, dass es so auch zu einer Versöhnung mit dem Geist der verstorbenen Cathy kommt. Das offene Fenster an seinem Bett und Heathcliffs triumphierender, glückseliger Gesichtsausdruck im Tod weisen darauf hin, dass er schließlich Cathys Geist erblickte, als sie seine Seele ins Jenseits holte.” (3) Zusammen mit Edgar findet Heathcliff seine letzte Ruhestätte im Grab neben Cathy. Die Toten, so wird im Roman gesagt, sind zur Ruhe gekommen. Es geht um Liebe – der ganze Text ist mit Zärtlichkeit gesungen (ein böser, rächender Geist würde anders singen). Die Liebe im Zauber von A-Dur erfüllt sich im Sterben in b-Moll. Der ganze Song ist eine Vision Heathcliffs in den letzten Minuten seines Lebens. Ein Bruch in der Natur wird endlich geschlossen. Sowohl Cathy als auch Heathcliff finden Frieden.
Alle so typischen Elemente von Bush-Songs sind hier schon enthalten. Inspirationen aus Romanen oder Filmen dienen als Zündfunke, komplizierte und nicht eindeutige Liebesbeziehungen werden thematisiert, das Geschehen ist mysteriös und auf den ersten Blick nicht erklärlich. Ein Schleier des Geheimnisses liegt über allem. Ins Herz treffend intuitiv werden die Tonarten verwendet. Die Emotionen brennen sich beim Zuhörer ein und lassen ihn nicht los.
Die Single wurde von der Plattenfirma EMI am 20. Januar 1978 in Großbritannien veröffentlicht und erreichte am 11. März die Position 1, die sie vier Wochen lang halten konnte. Kate Bush war damit die erste Frau, der es gelang, mit einer Eigenkomposition auf die Nummer-eins-Position in Großbritannien zu kommen (2). Ich kann es bis heute nicht richtig begreifen – wie kann so ein Lied ein Hit werden? Es ist noch heute ein Schlag in das Gesicht jeder Mainstream-Popmusik und zeigt zugleich, was sich Popmusik trauen kann. Es lässt noch heute das Herz erschauern. Vielleicht beruht genau darauf seine immense Wirkung.
Achim/aHAJ)

(1) Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.68
(2) https://de.m.wikipedia.org/wiki/Wuthering_Heights_(Lied) (gelesen 09.08.2015)
(3) https://de.m.wikipedia.org/wiki/Sturmhöhe (gelesen 09.08.2015)
(4) Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 118
(5) Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.136ff
(6) Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.231ff
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You’re The One

„You‘re the one“ ist der letzte Song auf dem Album „The red shoes“. Danach mussten wir zwölf Jahre auf das nächste Album von Kate Bush warten. Ich fand  in dieser Zeit die Vorstellung immer ganz entsetzlich, dass dieses traurige und irgendwie hoffnungslose Lied vielleicht das letzte musikalische Lebenszeichen von Kate Bush sein könnte.
Der Song klingt wie ein besinnliches, etwas melancholisches Liebeslied. Über einem ruhigen Untergrund erhebt sich die hohe, traurige Stimme von Kate Bush, ganz zärtlich. Die Protagonistin hat sich von ihrem Freund getrennt, offenbar im Guten. Sie will ihre Sachen aus der Wohnung holen, wenn der Ex nicht da ist. Aber alles erinnert an ihn, der neue Freund kann irgendwie nicht konkurrieren. Der Text fängt diese Stimmung ein, man macht ein tapferes Gesicht, redet taff und erwachsen – aber das kann den tiefen Schmerz nicht verdecken. Die Textzeilen „I’ve got everything I need / I’ve got petrol in the car / I’ve got some money with me / There’s just one problem / You’re the only one I want“ fassen dies ganz unsentimental, fast nüchtern zusammen.
Es ist ein eher konventioneller Text, der den Zuhörer direkt anspricht, ohne eine zweite Ebene. Es fehlt die mysteriöse Komponente. Ironischerweise wurde das Kate Bush dann auch zum Vorwurf gemacht, die sonst oft zu hören bekam, ihre Texte seien zu esoterisch. Graeme Thomson [1] meint, das „einzig Ungewöhnliche an diesem Stück ist, dass es für einen Kate-Bush-Song so sehr gewöhnlich ist: eine rumpelnde, nachdenkliche Rockballade mit einem künstlerisch anspruchslosen, eindimensionalen Text, der […] ungeschönt autobiografisch ist.“ Kate Bush hatte sich während der Entstehungszeit des Albums von ihrem Freund Del Palmer getrennt. Kate Bush spricht mit dem Text den Zuhörer wirklich direkt an, unverstellt – etwas, was irgendwie ein Kennzeichen des Albums „The red shoes“ zu sein scheint. Überall auf diesem Album geht es um Verlust, Schmerz, Unsicherheit.
Musikalisch ist der Song interessant gestaltet. Zuerst fällt die Zahl der prominenten Gastmusiker auf. Das Trio Bulgarka gibt eine exotische Färbung. Gary Brooker (Procul Harum) spielt die Hammondorgel – dieses Instrument trägt zur melancholischen Färbung bei. Jeff Beck spielt die Gitarre. Es ist so, als ob eine Musik einen sicheren Halt an Konstanten der Umgebung sucht, die dauernd durch tiefe Bassakkorde ins Dunkle gezogen wird.
Der Song ist im 4/4-Takt geschrieben, nur zwei Takte stehen im 2/4-Takt [2]. Notiert ist er in A-Dur. Es kommen nur die zu A-Dur passenden Akkorde cis-Moll, D-Dur, E-Dur und A-Dur vor (Tonikagegenklang III, Subdominante IV, Dominante V, Tonika I), die Harmonik verlässt nie diesen Rahmen. Auch hier ist der Song konventioneller als normalerweise bei Kate Bush üblich. Das alles müsste eigentlich wegen der vielen Dur-Dreiklänge fröhlich klingen, tut es aber nicht. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Akkord cis-Moll, die Harmonik wird eingetrübt und in Richtung cis-Moll verschoben. A-Dur ist nur schwer als Tonart zu erkennen.
Dieses Schwanken zwischen A-Dur und cis-Moll gibt dem Song nun eine tiefere Ebene, wenn man sich an die Tonartencharakteristik von Beckh [3] hält. A-Dur gilt als leicht, licht, schwebend. Cis-Moll steht für Schwermut und Sehnsucht, es ist die Sehnsuchtstonart schlechthin. Die Protagonistin zeigt nach außen die selbstsichere, gefasste, zukunftsorientierte Fassade – aber dahinter ist alles voller Sehnsucht. „You‘re the one“ beginnt mit dem cis-Moll-Akkord, der A-Dur-Akkord erscheint zum ersten Mal bei „I’ve got everything I need“ – als ob die Protagonistin hier sagen will „ja, alles okay, alles super, alles licht“. Gleich danach wandelt es sich wieder ins Moll. Auf dem „want“ in „You’re the only one I want“ erklingt jedesmal der A-Dur-Akkord – das ist es eigentlich, was für die Protagonistin das Leichte, Lichte, Erstrebenswerte ist. Zum Schluss des Songs treten dann diese beiden widerstreitenden Akkorde in Kombination auf – es endet ohne (musikalisch harmonische) Lösung zwischen ihnen.
Ist „You‘re the one“ eine Art Antwort auf „Nothing Compares 2 U“ von Prince, mit dem sie ja auf dem Album kurz zusammengearbeitet hat? „Nothing Compares 2 U“ wurde 1985 auf dem Album „The Family“ der gleichnamigen Band veröffentlicht, 1990 gab es eine sehr erfolgreiche Coverversion von Sinead O‘Connor, 1993 wurde der Song auch von Prince selbst veröffentlicht [4]. Beide Lieder haben eine ähnliche Grundthematik, wobei „You‘re the one“ der realistischere, nüchternere Song ist. Ihm fehlt die latente Weinerlichkeit, die den Prince-Song in meinen Augen kennzeichnet.
„You’re the one“ würde sich wegen seiner Direktheit sehr gut für Coverversionen eignen und ich wundere mich ein bißchen, dass das bisher nicht sehr genutzt worden ist. Es gibt allerdings eine wunderbare Fassung für Bigband der Göteborgs Symfoniker [5], die die Emotionalität hymnisch herausstellt und sich damit in der Stimmung „Nothing Compares 2 U“ annähert (was der Song verträgt).
„Ein leicht souliger Song mit dem Flair einer Klassenfetenkuschelnummer, den nur das Trio Bulgarka und Gary Brookers Hammondorgelkünste retteten.“ – das meint Rob Jovanovic [6] über den Song. Das kann man natürlich so sehen, aber meiner Meinung nach verkennt man damit den Song. Ich hoffe, meine Analyse konnte dazu beitragen, diesen auch in Fan-Kreisen sehr vernachlässigten Song neu zu bewerten.
© Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.324
[2] „The red shoes“ (Songbook). International Music Publications Limited. Woodford Green. 1994. S.97ff
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S.136 (A-Dur) und S.268 (cis-Moll)
[4] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Nothing_Compares_2_U (gelesen 01.10.2018)
[5] https://vimeo.com/269167293 – ab Minute 1:25.30 (gelesen 01.10.2028]
[6] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.185

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You Want Alchemy

Dieser Song gehört zu den unbekannteren Werken von Kate Bush. Geschrieben und aufgenommen wurde er nach dem Abschluss der Arbeiten zum Album „The red shoes“ und zum Film „The line, the cross and the curve“ [1]. Er wurde nur auf den in Europa und Australien erschienenen CD-Singles von „Eat the music“ veröffentlicht [1]. Jetzt ist er auf der Compilation „The other sides 1“ endlich nicht nur für Sammler verfügbar. Der Song handelt von einem Ausflug, den die Protagonistin mit einer Gruppe von nicht näher definierten Personen macht („What a lovely afternoon / On a cloudbusting-kind-of day / We took our own ‚Mystery Tour‘ / And got completely lost somewhere up in the hills.“). Irgendwo in dieser ländlichen Einsamkeit treffen sie auf einen Imker. Er erzählt von seiner Ehrfurcht und seiner Verehrung für Bienen, die für ihn ein Schlüssel zur Welt sind („They got alchemy! / They turn the roses into gold! / They turn the lilac into honey /They’re making love for the peaches“). Zuerst hält ihn die Protagonistin für einen Spinner, sie versteht seine Faszination für die Bienen nicht. Aber allmählich wagt sie einen vorsichtigen Schritt in die private Welt dieses Mannes. Es gelingt ihr sich zu öffnen und die Freuden dieses einsamen Mannes zu spüren und zu respektieren. Sie nähert sich mit Sympathie und für einen kurzen Moment kann sie seine Vision teilen. Sie kann die Alchemie sehen. Zu diesem Song findet sich nichts in den Biographien von Johanovic und Thomson, wir sind also auf eine ganz eigene Interpretation angewiesen.

Der Song beginnt ruhig. Eine bekannte Melodie fällt auf: eingewoben in den Teppich der Streicher ist der Beginn des „Claire de lune“ von Claude Debussy (u.a. zu „What a lovely afternoon / On a cloudbusting-kind-of day“ gleich zu Beginn). Es ist eine zärtliches, träumerisches Melodiefragment, das immer wieder im Song auftaucht. Im Refrain („You want alchemy! […]“) wechselt die Perspektive zum Imker. Wie so oft bei Kate Bush wechselt mit der Perspektive auch die Musiksprache. Nun ist das eher ein Sprechgesang, ohne richtige Melodie, heftiger im Ton. Es klingt so, als ob hier jemand seine Gefühle ausdrückt, der selten mit anderen Menschen redet und des Singens in Melodien nicht so mächtig ist. Es ist eine Art gestammelte Anbetung der Natur.
In der zweiten Strophe ist das „Claire de lune“ wieder mit der Natur, den Bienen verbunden. Auch im zweiten Refrain taucht diese Melodie nun im Hintergrund auf. In der dritten Strophe vermischen sich die Gesangsstile der Protagonistin und des Imkers. Beide haben zu einer gemeinsamen Harmonie gefunden. Ganz zum Schluss des Songs „gewinnt“ das „Claire de lune“-Thema, wie eine Hymne an die Natur und ihre Geheimnisse erhebt es sich über dem Hintergrund. Es kommen Einwürfe eines Chores dazu („what they gonna do…?“), das erinnert an die den Sonnenaufgang ankündigenden Chöre in „Nocturne“ (auch dies eine Anbetung der Natur).
Der Song ist voller Querbeziehungen, hervorstechend ist natürlich das „Claire de lune“. Dies ist der 3. Satz der „Suite bergamasque“ von Claude Debussy aus dem Jahr 1890, übersetzt bedeutet der Titel Mondglanz oder Mondschein [2]. Es ist ein komplexes und faszinierendes Stück, das Einflüsse aus der Lyrik, der Barockmusik und des Impressionismus miteinander vermischt. Es ist ein Mittler zwischen den Welten. Der Titel des Stückes wurde kurz vor der Veröffentlichung hinzugefügt, er beruht auf dem Titel eines Gedichts des Symbolisten Paul Verlaine. Das Gedicht spricht von “au calme clair de lune triste et beau” – dem stillen Mondlicht, traurig und schön [3]. Der geplante Originaltitel war aber „Promenade sentimentale“ und griff damit ein Gedicht von Verlaine aus dessen 1866 veröffentlichter Sammlung „Paysages tristes“ (traurige Landschaften) auf [3]. Dieses Gedicht war wahrscheinlich die Inspiration, die Debussy brauchte. Die Eröffnungszeilen („Le couchant dardait ses rayons suprêmes / Et le vent berçait les nénuphars blêmes”), in denen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne und die sich wiegenden Seerosenfelder beschrieben werden, sind mit großer Schönheit in den Anfangstakten von „Claire de lune“ umgesetzt [3]. Das Stück von Debussy steht für die Natur, ihre Geheimnisse und ihre Schönheiten – genau dafür wird es auch im Song von Kate Bush als musikalisches Zeichen benutzt. Die Natur ist etwas Ewiges, sie wurde in der Musik aller Zeiten beschworen. Durch die Verwendung des Debussy-Fragments stellt sich Kate Bush ganz bewusst in diese Tradition.

Neben der Verwendung des „Claire de Lune“ gibt es weitere direkte Verweise in den ersten drei Textzeilen. „What a lovely afternoon“ – diese Textzeile wird sich später auf der Sky-Seite des Albums „Aerial“ wiederfinden. „On a cloudbusting-kind-of day“ – das verweist auf den Song „Cloudbusting“. „We took our own ‚Mystery Tour’“ – das zitiert die gleichnamige EP und den gleichnamigen Film der Beatles. „Magical Mystery Tour“ (englisch ‚Magisch geheimnisvolle Fahrt‘) ist der Soundtrack zum gleichnamigen Fernsehfilm der Beatles. Auf der Doppel-EP ist auch das Instrumentalstück „Flying“ enthalten, das zur Zeit der Komposition noch den Arbeitstitel „Aerial Tour Instrumental“ trug [4]. Das hier über die Beatles auf das Album „Aerial“ verwiesen wird so wie es auch die erste Textzeile tut, das ist wahrscheinlich Zufall, vielleicht aber auch nicht. Eine magische, geheimnisvolle Reise – das ist es aber, was die Protagonistin in „You want alchemy“ durchmacht, vordergründig in die Natur, aber auch in die Seele eines anderen Menschen.
Von „You Want Alchemy“ gehen Verbindungen aus in ganz unterschiedliche Richtungen, Altes und Neues scheinen zusammenzuhängen. Echos aus der Vergangenheit treffen auf Visionen der Zukunft, Natur spiegelt sich in der Seele.  „You want alchemy“ ist die Brücke über die Jahre des Verstummens zwischen den Alben „The red shoes“ und „Aerial“. Der Song nimmt zentrale Motive von „Aerial“ vorweg. Mir erscheint er wie eine Keimzelle. Es finden sich ähnliche Bilder, ähnliche Worte. Auf dem Album ist aus dem Samenkorn einer Idee eine volle Blume geworden. © Achim/aHAJ

[1] https://www.katebushencyclopedia.com/you-want-alchemy (gelesen 13.10.2018)
[2] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Suite_bergamasque (gelesen 21.02.2019)
[3] http://theconversation.com/decoding-the-music-masterpieces-debussys-clair-de-lune-79765 (gelesen 21.02.2019)
[4] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Magical_Mystery_Tour_(Album) (gelesen 21.02.2019)

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