Das Song-ABC: Coffee Homeground

„Coffee Homeground“ vom Album „Lionheart“ – einer der wenigen Songs, die für das Album neu entstanden waren [1] – ist unter den Songs von Kate Bush eine Besonderheit. Ron Moy [2] sagt es vielleicht am treffendsten, indem er feststellt, dass dieser Song ein amüsantes Gothic-Flair besitzt und dass er mit fast allem im populären Musikkanon der letzten hundert Jahre wenig zu tun hat. Ron Moy ergänzt, dass dies seine Attraktivität stark erhöht. Ich stimme zu. Andere Analytiker und Hörer waren eher verwirrt und konnten den Song nicht recht einordnen. Graeme Thomson sieht in ihm ein Mischung aus Krimi und Brecht-Parodie [1]. Rob Jovanovic meint, dass er von der Musik her die Begleitung für einen Jongleur oder Hochseilartisten im Zirkus sein könnte [3]. Paul Kerton nennt ihn einen fröhlichen Energieausbruch und stellt Anklänge an Marlene Dietrich fest [4]. Ron Moy stimmt dem zu und vermeint die jüngere Schwester von Marlene Dietrich zu hören [2].

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Worum geht es in diesem Song? „Coffee Homeground“ ist aus der Sicht eines vermutlich paranoiden Mannes verfasst, der zu Besuch bei einer Frau ist, die er für eine Giftmörderin hält. Er lehnt unter Vorwänden alle möglichen Getränke ab, weil er in ihnen Gift vermutet (Bitter Almond – Bittermandel, Belladonna – Tollkirsche, Hemlock – Schierling). Er fragt sich, wo die Klempner geblieben sind, die vor kurzem dort noch arbeiteten. Er fürchtet abgehört zu werden. In Bildern an der Wand meint er den in England berüchtigten Mörder Crippen zu erkennen. Crippen ging in die Geschichte ein als erster Verbrecher, der dank Funktelegrafie gefasst wurde, als er über den Atlantik in die USA entkommen wollte [12].
Kate Bush wurde zu diesem Song inspiriert durch einen etwas merkwürdigen Taxifahrer, der offenbar unter Verfolgungswahn litt. „[Coffee Homeground] was in fact inspired directly from a cab driver that I met who was in fact a bit nutty. And it’s just a song about someone who thinks they’re being poisoned by another person, they think that there’s Belladonna in their tea and that whenever they offer them something to eat, it’s got poison in it. And it’s just a humorous aspect of paranoia […].“ [6]
Diese dunkle Geschichte von Paranoia, Mord, Gift und Intrige ist gestaltet wie eine Moritat, die in einem dunklen Hinterhof zu einer Drehorgel gespielt wird. Es gibt Passagen mit beinahe volkstümlich anmutender Blasmusik, Kate imitiert sogar einen pseudo-bayerischen Akzent, es herrscht Rummelplatzatmosphäre [4]. Der Song nimmt damit den Theaterfaden der ersten Seite des Albums wieder auf [3]. Faszinierend ist, wie die einzelnen Rollen des Songs voneinander abgesetzt werden. Angerissene, verschliffene Töne mit starkem deutschen Akzent in den Strophen, die Silben gleiten zwischen den Tönen – dies ist der männliche, paranoide Protagonist. Diese Übernahme einer andersgeschlechtlichen Rolle in der Geschichte war damals für Kate Bushs Publikum noch ungewohnt. „It would have been very difficult to make people understand I was singing as a man in that scene. That’s a problem sometimes. A lot of people don’t realise I’m a little boy in ‚Peter Pan’ and a male who a female is trying to poison in ‚Coffee Homeground‘.“ [9]
Der erste Teil des Chorus („Pictures of Crippen / Lipstick-smeared. / Torn wallpaper. / Have the walls got ears here?“) wird im Gegensatz dazu von einer hohen Stimme gesungen, ohne deutschen Akzent. Das ist offenbar die Giftmischerin. Im zweiten Teil des Chorus („Well, you won’t get me with your Belladonna–in the coffee / […] with your hemlock / On the rocks.“) kommt es zu einem Wechselsang zwischen den beiden Stimmen. Die giftigen Kredenzen („in the coffee“, „in a cup of tea“, „with your hemlock“) werden von der hohen Stimme der Giftmischerin gesungen. Da sie hier „your“ singt, scheint es sich nicht um eine reale Person zu handeln. Ist es vielleicht eine eingebildete Stimme im Kopf des Protagonisten?

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Ganz zum Schluss sind dann einige deutsche Worte in die Coda eingebettet („With your hemlock on the rocks. / Noch ein Glas, mein Liebchen? / With your hemlock on the rocks / Es schmeckt wunderbar! / With your hemlock on the rocks. / Und?“ Dies findet sich leider nicht im Booklet, sondern nur in transkribierten Texten [5].  Dies – obwohl die Perspektive der Giftmischerin – wird wieder von der tiefen Stimme gesungen. Wer singt eigentlich? Wie viele Personen sind es? Die Ebenen verschwimmen. Für mich sind das keine realen Personen, sondern Stimmen im Kopf des Protagonisten, der irgendwo in einem kleinen Café sitzt, der von einer Kellnerin seine Getränke serviert bekommt und den seine Paranoia übermannt. Homeground, das ist der „home ground“, der eigene Platz, das vertraute Gelände – aber es fühlt sich nicht sicher an.
Die Tonart des Songs ist ein Ges-Dur und damit mit fünf b ganz weit weg von klaren, nüchternen Tonarten mit wenigen Vorzeichen [7]. Es gibt viele chromatische Abtönungen, die es noch romantisch-märchenhafter machen. Insbesondere im Chorus („Pictures of Crippen / Lipstick-smeared. / Torn wallpaper. / Have the walls got ears here?“) ist die Chromatik extrem [7], was sehr viel zum Spannungsaufbau und zur paranoiden Atmosphäre beiträgt. Ges-Dur ist nach Beckh [8] die Schwellentonart, der „Übergang, der über die Schwelle führt, die Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Tagesansicht und Nachtansicht der Welt, Sinnenwelt und geistige Welt voneinander trennt.“ Die Tonart spiegelt die Stimmung des Songs wieder, setzt sie um.
Der Song war einer derer, bei denen Text und Musik zugleich entstanden, wie Kate Bush in einem Interview sagte. „Well, Coffee Homeground would have been a song where the words and the music were coming together probably at exactly the same time. Actually, that’s the only song which I wrote when I visited America […]. Which is quite interesting, as it’s not at all American…“ [11] Im gleichen Interview wies ihr Bruder Paddy auf Bertold Brecht als Inspiration hin. Bertolt Brecht war zwar kein Komponist, aber Librettist. Eine Verwandtschaft des Songs zur von Kurt Weill vertonten „Dreigroschenoper“ mit Liedern wie der „Moritat von Mackie Messer“ ist auch zweifellos erkennbar [10]. Paddy Bush erläuterte, dass dieses Brecht-Flair entstand, als Kate Bush die Idee mit dem deutschen Akzent hatte. „As a matter of fact, Coffee Homeground vibrantly mutated. When the very first demos of it were done, it had a decidedly different flavour. The Brechtian treatment didn’t appear until much later on, that only took shape when Kate got the idea of treating the song with a slightly German sort of flavour.“ [11]
Je weiter der Aufnahmeprozess fortschritt, desto mehr verstärkte sich dies noch gemäß Paddy Bush. „The Brechtian feel is something that appeared only gradually, during the actual recording, and became more definite as time went on.“ [11] All dies hat dazu geführt, dass „Coffee Homeground“ ein außergewöhnlicher und origineller Song geworden ist. Er erinnert wunderbar an vergangene Zeiten der Zwanziger und an die Moritaten von Weill und Brecht. Perfekt wird dies insbesondere im Chorus mit zeitgenössisch anmutenden Vokallinien verknüpft. Der Song bildet eine Brücke zwischen den Zeiten, er verbindet und verschmilzt die paranoiden Details der Geschichte zu einer außergewöhnlichen und liebevollen Einheit. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.142 und 153
[2] Ron Moy: Kate Bush and Hounds of Love. Aldershot. Ashgate Publishing Limited. 2007. S.22
[3] Rob Jovanovic: Kate Bush. Die Biographie. Höfen. Koch International GmbH/Hannibal. 2006. S.95
[4] Paul Kerton: Kate Bush. Bergisch-Gladbach. Gustav Lübbe Verlag GmbH. 1981. S.91
[5] https://www.songtexte.com/songtext/kate-bush/coffee-homeground-7bd3fecc.html (gelesen 02.05.2019)
[6] Lionheart Promo Cassette. EMI Canada
[7] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.72f
[8] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.102
[9] Phil Sutcliffe: „Labushka“. Sounds 30.08.1980
[10] https://prlbr.de/2017/kate/coffee-homeground/ (gelesen 15.05.2019)
[11] http://gaffa.org/reaching/i85_swa.html (gelesen 15.05.2019)
[12] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Hawley_Crippen (gelesen 04.05.2019)

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