Dem Mysterium dieses Songs lässt sich einfach ausweichen, so wie es Tom Doyle tut [1]: „Here a Victorian female ghost surfaces from the waters of the titular lake ‚like a poor, porcelain doll‘, before being reunited with her dog Snowflake in an apparition of her former home.“ Man genießt ein wunderbar melancholisches, fast hypnotisch anmutendes Stück Musik mit einer merkwürdigen Geschichte – eben typisch Kate Bush – ohne sich tiefere Gedanken zu machen.
Für dieses Song-ABC habe ich „Lake Tahoe“ mehrere Male hintereinander gehört, ich habe Musik und Text nebeneinander gelegt, beim nächsten Hören meine Eindrücke überprüft. Merkwürdiges ging dabei in mir vor. Mir war, als ob ich in einen Abgrund hineinschaue, vor dem sich Nebelschwaden langsam auflösen. Dieser Song hat neben dieser harmlosen Geschichte eine abgrundtief düstere zweite Ebene. Die folgenden Fragen haben mich misstrauisch gemacht, weil ich spontan keine Antwort auf sie hatte. Warum hat der Song diese epische Länge? Warum singt Kate Bush in zwei so unterschiedlichen Stimmfärbungen? Welche Rolle spielen die beiden Countertenorstimmen von Stefan Roberts und Michael Wood, die „über der Begleitung von Klavier und Streichern schweben“ [2].
Der Song hat seine Quelle in einer Geschichte, die ein Freund Kate Bush erzählte: „It was because a friend told me about the story that goes with Lake Tahoe so it had to be set there. Apparently people occasionally see a woman who fell into the lake in the Victorian era who rises up and then disappears again. It is an incredibly cold lake so the idea, as I understand it, is that she fell in and is still kind of preserved“ [3]. Geister habe Kate Bush schon früher beschäftigt – man denke an „Wuthering Heights“ oder an das Video zu „Experiment IV“. Es sind Geister, die Macht über Menschen gewinnen wollen. Die Verlockung des Wassers, Geschichten aus einer anderen Welt, Zeitphänomene, verirrte Seelen, die den Weg nach Hause suchen [2] – Geschichten die Kate Bush liebt, wiederkehrende Elemente in vielen Songs. Zur Länge des Songs gibt es eine einfache Erklärung von Kate Bush selbst: „I think one of the things I was playing with on the first three tracks was trying to allow the song structure to evolve the story telling process itself; so that it’s not just squashed into three or four minutes, so I could just let the story unfold.“ [3] Der Kern der Geschichte ist also geklärt, auch zur Länge des Songs gibt es eine Begründung. Aber was außer der Geistergeschichte will Kate Bush entfalten, mit was hat Kate Bush sie angereichert?
Die erste Erzählebene bilden die Countertenöre. Sie warnen vor dem Eiswasser des Lake Tahoe. Sie klingen wie fremdartige Frauenstimmen, unirdisch. Sind es warnende Geister über dem Wasser? Der Song beginnt mit ihren Worten „Lake Tahoe“, der See bekommt sein eigenes musikalisches Motiv. Er wird angesprochen wie eine Person, bekommt seine eigene Identität. Im Hintergrund ist eine liegende Streicherfläche zu hören, hohe Töne, leise, wie ein Nebel. Eine schimmernde Fläche, ein Glitzern über dem Wasser im Dunst, dazu Klaviertöne. Dieses Motiv verkörpert für mich die eisige und bedrohliche Stille des Sees. Der Sprechgesang der Countertenöre verfinstert sich plötzlich und kommt zu einem Haltepunkt bei „Just stand on the edge and look in there“. Ein eindeutiges Warnzeichen wird aufgestellt. Es ist, als ob jemand angehalten werden soll, der zögert, der aufmerksam geworden ist. Die Atmosphäre ändert sich.
Die zweite Erzählebene ist Kate Bush, die jetzt übernimmt. Sie ist die Protagonistin, die am See zögert. Sie ist es, die die Stimmen angeredet haben und gewarnt haben. Sie ist es, die hineinschaut in den See und die damit über die Grenze zur realen Welt hinausschaut. Es folgt beginnend mit „You might see“ die Schilderung der Geistererscheinung – als ob ein Märchen erzählt wird, das etwas seltsam oder schaurig ist. Diese Schilderung ist zuerst ganz leise, etwas jazzig, verziert. Es klingt, als ob etwas wirklich Erstaunliches und Nicht-Wirkliches beschrieben wird.
Aus ganz weiter Ferne erklingt der Ruf nach dem Hund: „Snowflake“. Ist dies der Geist, der ruft (so sagt es der Text)? Oder ruft jemand anderes irgendwo am See? Ist dies ein Wiederhall des ersten Songs („Snowflake“) des Albums. in dem es auch um ein sich Finden geht? Realität und Irrealität vermischen sich.
Die Countertenöre mischen sich dazu und sprechen eine zweite Warnung aus – diesmal vor dem Geist selbst: „Tumbling like a cloud that has drowned in the lake“. Im Hintergrund ist wieder das „Lake Tahoe“-Motiv zu hören.
Nach „like a poor, porcelain doll“ gibt es bei 3:20 eine lange Pause, in der die Musik hinein verklingt. Fast zehn Sekunden lang ist diese Pause. Krähenrufe wie aus der Ferne über dem See klingen hinein in diese Stille. Krähenrufe sind für mich persönlich ein Bild des kalten Winters, diese Vögel sind aber auch die Totkünder der Märchen, die Boten des Mysteriums [4].
Nach diesem Innehalten wird die Wiedererzählung der Geistergeschichte (ein Märchen, dass man kleinen Kindern erzählt) abgelöst durch die Schilderung des Geistes selbst. Die Erzählerin erlebt es als real, sie sieht die Erscheinung. Die Musik ändert sich allmählich. Der Song wird dunkler, bluesiger und „wird zu einem langsamen, bedrohlich wirkenden Bolero, getragen von Kate Bushs Piano und Steve Gadds beständig rollendem Rhythmus“ [2]. Dieser Rhythmus klingt, als ob die Wellen an das Ufer schlagen, langsam und hypnotisierend. Es sind die Wellen, die die Geistererscheinung im See begleiten. Dazu erklingt das Klavier, leise liegende Streicher tauchen auf, wie Nebel über dem See. Ist der Geist eine Inkarnation des eiskalten Sees?
Die Perspektive wechselt langsam in die des Geistes hinein, die Perspektive der Erzählerin wird immer mehr überlagert von dessen Perspektive. Der Geist sieht das leere Haus, das einmal eine Heimat war. Er sieht seinen jetzt alten Hund, der davon träumt, zu seiner Herrin zu laufen. Nach „He runs“ nehmen summende Stimmen die rollenden Harmonien auf und singen sie mit. Für einen Moment ist auch die Sicht des Hundes als Erzählebene da. Ganz langsam verschieben sich die Ebenen immer mehr – nach „It’s a woman“ wechselt die Perspektive ganz zu der des Geistes. Die Erscheinung ruft nach ihrem Hund: „Here boy, here boy“. Das erste dieser Rufe klingt in der Melodieführung sehr ähnlich der Melodie, die beim Fallen des Kruges in „A coral room“ vorkommt. Dort war es mit der Erinnerung an Tote verbunden. Die Stimme ist hier ganz anders als die Stimme der Protagonistin am See: fahl, wie von fern – so als ob der Geist nur zu kurzen Ausrufen fähig ist, für die er seine ganze Energie benötigt. Im Hintergrund ist mehrmals (z. B. bei 8:30) ein leises Klappern zu hören, das entfernt an Kastagnetten erinnert. Ist es das Klappern von Knochen oder das Knacken von Eis? So ein Brechen wie von Eis ist auch zu Beginn dieser Passage zu hören. Graeme Thomson sagt es sehr treffend und poetisch [2]: „Hier und da erscheinen wunderbar kurze Farbtupfer aus dem Nebel über dem Wasser: ein zum Reißen gespannter Streicherton, ein kurzes Holzbläsermotiv, ein arabisch anmutender Melodiebogen, das düstere Klappern des Todes.“ Immer wieder tönen dazu im Hintergrund diese hohen, leisen Liegetöne in den Streichern, die die bedrohliche Atmosphäre verstärken.
Bei 8:45 gibt es eine kleine Lücke in der Klavierspur. Sie wird zum Teil durch einen „hingehauchten Seufzer von Kate Bush überlagert […], als wäre die Erzählerin für einen kurzen Moment mit einem Bein durch das Eis gebrochen.“ [2] Es klingt wie ein fast schon erschrockenes Atmen, so als ob man in kaltes Wasser hineingeht. Zu dieser Lücke gibt es eine sachliche Erklärung. Die Klavierspur wurde in langen Live-Takes aufgenommen – zum Schluss soll dabei Kate Bush ein Finger von der Taste gerutscht sein, so dass eine kleine Lücke der Stille entstand. Dieser Fehler blieb erhalten. Es zeugt nach Graeme Thomsom „von einem tief empfundenen, neuen Verlangen, die Stimmung des Moments zu bewahren“ [2]. Das mag sein, für mich passt dieser Moment aber fast zu gut in die sich entfaltende Geschichte, um nicht Absicht zu sein.
Der Rhythmus rollt weiter, ab 10:00 wird er intensiver, die Streicher werden stärker. Der Geist und der See gewinnen an Macht. Der Song steigert sich bis zu einem Höhepunkt, wird schwerer und drängender. „Dieser ergreifende Höhepunkt ist mit der Zeile ‚You’ve come home‘ erreicht und Kate Bush heult im Nebel auf, ehe sie erschöpft niedersinkt“ [2]. Dieses „You’ve come home“ ertönt mehrfach in immer höheren Tönen. Es klingt nicht freudig, es klingt fast verzweifelt und erschrocken. Kommt der Geist heim und bemächtigt sich der Frau? Richtet sich das „You’ve come home“ an den Geist – ist es ein Schrei der Verzweiflung der Protagonistin? Ist das „home“ die Protagonistin? Drei Fragen, die ich für mich mit „ja“ beantworte – und mich schaudert es dabei.
Ab 10:30 gibt es zwei „schluckende“ Töne, wie als ob Wasser in einen Mund dringt. Die Frau versinkt. Dann hört der Rhythmus der Wellen auf, der Geist verschwindet, seine Aufgabe ist getan. Der Song endet beinahe abrupt, es ist musikalisch wie ein Verdämmern, ein Verschwinden in der Tiefe. Die herabsinkende Stimme hier ist wieder die der Protagonistin (klar gesungen, Arabesken) und nicht mehr die des Geistes (wie von fern, eingebettet in das Rollen, verzweifelter Unterton). Die Erscheinung ist vorbei, der See hat sein neues Opfer mitgenommen. Der See ist die eigentliche zentrale Figur des Songs und daher ist sein Name der Titel.
Dieses ist meine Interpretation. Unter meinen Füßen hat sich das sichere Fundament über 10 Minuten ganz allmählich aufgelöst. Zieht der See die Protagonistin in die Tiefe oder befreit sie sich in den Schlusssekunden? Es bleibt offen.
Der Song lässt sich aber auch genießen, ohne sich diese abgründigen Gedanken zu machen. Die Musik selbst ist auch ohne zweite Deutungsebene von äußerster Raffinesse. Selbst der sonst erfrischend kritische Graeme Thomson ist hingerissen [2]: „Man wird dieses Stück sicher einmal als eines ihrer größten Werke betrachten“. „Lake Tahoe“ ist für mich ein Meisterstück weit über die Popmusik hinaus.
(© Achim/aHAJ)
[1] Tom Doyle: Lake Tahoe. Mojo 10/2014, S. 70
[2] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.407-413
[3] John Doran: A Demon In The Drift: Kate Bush Interviewed. The Quietus. 10.11.2011
[4] Clemens Zerling, Wolfgang Bauer: Lexikon der Tiersymbolik. München 2003. Kösel-Verlag. S.164ff
1 Kommentar
Hi Achim,
Kompliment für deine Analyse.
Interessant, dass du Graeme Thomson widersprichst bei seiner Meinung, dass bei 8:45 ein Abrutscher von den Tasten passiert ist. Klingt auch für mich viel zu kalkuliert und passt ja auch als Stilmittel in die Dramaturgie. Ich würde sogar so weit gehen, dass auch der „Verspieler“ am Anfang von „Among Angels“ auf dem gleichen Album gewollt ist. Ein inszenierter Fehler von der Perfektionistin Kate.
Grüße,
Stefan