„The Red Shoes“, der Titeltrack des gleichnamigen Albums, wird aus mir nicht verständlichen Gründen gern übersehen. Die Biographen widmen ihm nur einen flüchtigen Blick. Rob Jovanovic verspürt „mehr als nur ein Hauch irischen Flairs“ [1], für Graeme Thomson ist es ein „herrlich wilder Wahn“ [2]. Ein tiefer gehender Blick ist das nicht. Dabei lohnt es sich hier wieder, genauer hinzusehen.
Die Geschichte beruht auf dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian Andersen [6]. Ein kleines Waisenmädchen hat als letztes Geschenk ihrer Mutter ein paar rote Schuhe bekommen. Sie wächst bei einer alten, reichen Frau auf, die ihr alles gibt, ihr aber die zerschlissenen Schuhe weggenommen hat. Sie nutzt die Farbenblindheit der Frau aus, um sich wieder ein paar rote Schuhe zu erbitten. Sie liebt diese so sehr, dass sie sie zu allen Gelegenheiten trägt, auch zu ganz unpassenden. Ein Soldat verflucht ihre Schuhe, die Schuhe beginnen zu tanzen, ob das Mädchen will oder nicht. Schließlich lassen sie sich sogar nicht mehr abnehmen. Das Mädchen kann erst Erlösung finden, als sie sich die Füße abhacken lässt. Soweit das Märchen, das Kate Bush als Grundstruktur für ihren Song übernimmt: Die Protagonistin bekommt die ersehnten (Wunscherfüllungs)Schuhe geschenkt und wird sie nicht mehr los.
Diese Geschichte wurde auch in dem Film „Die roten Schuhe“ von Michael Powell und Emeric Pressburger als Grundlage verwendet. Hier wird eine Tänzerin zerrissen zwischen ihrer Kunst und der Liebe, auch hier endet diese Geschichte mit dem Tod der Protagonistin [4]. Genau wie im Märchen tanzt die Hauptdarstellerin unaufhaltsam auf ihren eigenen Abgrund zu [7]. Dieser Film hat das Album ingesamt beeinflusst, insbesondere den Song „Moments of Pleasure“ [3]. Der Song „The Red Shoes“ aber geht nach Kate Bushs Aussage primär auf das Märchen zurück.
„It’s not really to do with his film but rather the story from which he took his film. You have these red shoes that just want to dance and don’t want to stop, and the story that I’m aware of is that there’s this girl who goes to sleep in the fairy story and they can’t work out why she’s so tired. Every morning, she’s more pale and tired, so they follow her one night and what’s happening is these shoes… she’s putting these shoes on at night before she goes to bed and they whisk her off to dance with the fairies.“ [3].
Kate Bush hatte die Idee zu diesem Song, als sie am Piano saß und auf einmal die Musik wie von selbst und ohne ihr Zutun zu laufen begann. „The image in her mind ‚was like horses galloping and running away, with the horses turned into running feet, and then shoes galloping away with themselves‘. Which corresponded, conveniently enough, with the key fairy-tale element in the Powell film: the red pumps worn by the tragic ballerina, which are imbued with a magic that carries their wearer off in a terrible outpouring of expressiveness.“ [4]
Die roten Schuhe im Märchen und im Film thematisieren den Zwiespalt, vor dem die beiden Hauptcharaktere stehen. Sie sind zwischen „erwarteter Angepasstheit und Sehnsüchten andererseits hin und her gerissen“ [7]. Sowohl im Märchen als auch im Film sind die Mädchen/Frauen dem nicht gewachsen. Sie verlieren die Kontrolle über ihr Leben.
Es gibt allerdings auch die Geschichte „Der Zauberer von Oz“, wo das Geschehen um die roten Schuhe für die Protagonistin gut ausgeht [12]. Dorothy erschlägt bei der Ankunft in Oz im Wirbelsturm mit ihrem Haus die böse Hexe des Ostens. Deren magische rote Halbschuhe sind ab da an den Füßen von Dorothy und ihr zu Diensten. Die Gefahr ist, dass die böse Hexe des Westens sich versuchen wird zu rächen und Dorothy die Schuhe wieder abnimmt.
Rote Schuhe sind magisch und von Menschen kaum beherrschbar, sie gehören eigentlich den bösen Hexen. Sie übererfüllen Wünsche. Sie symbolisieren die Besessenheit – von Wünschen, von Sehnsüchten, von der Verwirklichung in der Kunst. Es liegt nicht fern, das mit der akribischen, perfektionistischen Arbeitsweise von Kate Bush in Verbindung zu bringen.
Musikalisch ist „The Red Shoes“ von einem pulsierenden, vorantreibenden Rhythmus bestimmt, es wirkt wie ein schwereloser Tanz. Ganz im Sinne der Geschichte – die Protagonistin bekommt die ersehnten Wunscherfüllungsschuhe geschenkt und wird sie nicht mehr los – könnte dieser Rhythmus ewig weiterlaufen. Es gibt drei Stimmebenen im Song (in der Bezeichnung der Songabschnitte orientiere ich mich an [13]) – eine fast kindlich hohe Singstimme, eine Singstimme in Mittellage und ein Chor aus Männerstimmen. Dieser Wechsel der Perspektiven allein macht aus dem Song ein hochkomplexes Gebilde. Die hohe Singstimme wird benutzt im Vers 1 („Oh, she move like the Diva do“), im Chorus 1 („Oh it’s gonna be the way you always thought it would be“), im Vers 2 („Oh, the minute I put them on / I knew I had done something wrong“) und in der Bridge („Feel your hair come tumbling down / Feel your feet start kissing the ground“). Es ist die Stimme der kindlich-naiven Protagonistin.
Die Singstimme in der Mittellage kommt im Pre-Chorus 1 („With no words, with no song / You can dance the dream with your body on“), im Pre-Chorus 2 („And this curve, is your smile / And this cross, is your heart / And this line, is your path“), im Pre-Chorus 3 („With no words, with no song / I’m gonna dance the dream / And make the dream come true“) und im Outro („You gotta dance“) zum Einsatz. Es ist die Stimme der Hexe, von der die Protagonistin die Schuhe bekommt.
Der Chor hat seinen Einsatz im Chorus 2: „She gotta dance, she gotta dance / And she can’t stop ‚till them shoes come off“. Es sind zuschauende Menschen, die das Geschehen kommentieren. Alle drei Stimmen erzählen dabei ihren Teil der Geschichte aus der Ich-Perspektive. Das letzte Wort hat die Hexe („You gotta dance“ im Outro), die Geschichte geht nicht gut aus.
Zur musikalischen Analyse ist ein Blick in die Noten hilfreich [8]. Der Song ist durch einen durchgehenden 12/8-Takt geprägt, es ist ein unablässig pulsierender Rhythmus, sehr tänzerisch. Die Gesangsstimme setzt sich über die Taktschwerpunkte hinweg, dadurch entsteht ein schwebender Eindruck. Die Tonart ist ein reines G-Dur, die allein vorkommenden Akkorde sind G-Dur (Tonika) und Abwandlungen des D-Dur-Akkords, der Dominante (insbesondere der Dominantseptakkord). Die Struktur ist stark angelegt an madagassische Musik, sie ist der Struktur von „Eat the Music“ sehr ähnlich [9]. Del Palmer hat diesen Einfluss der afrikanischen Musik in einem Interview auch bestätigt [5].
„The album’s title track seems to have an Irish folk music influence, with a big bass drum sound and an unusual legato bass part, but again this stems from the music of Madagascar. It’s fascinating how music from different parts of the world can have these similarities. All the mandarins and mandolas are played by Paddy, who has really gone into this sort of music, and he also plays all the various whistles and flutes on the track“. [5] Wie schon bei „Eat the Music“ spielt der Madagasse Justin Vali die Valiha, das madagassische Nationalinstrument.
Musikalisch gesehen sind den Songteilen der Protagonistin und der bösen Hexe leicht abweichende Akkordfolgen zugeordnet. Für die Protagonistin steht eine Kombination aus D7, D7sus4 und Gadd4/D, für die Hexe eine Kombination aus D7 und G/D [8]. Immer wenn die Hexe gesungen hat, dann greift ihre Akkordfolge auf die darauffolgenden Gesangspassagen der Protagonistin über. Der Zauber wirkt. Zum Schluss „gewinnt“ dann die Akkordfolge der Hexe. Die beiden Akkordfolgen sind sich sehr ähnlich, sie unterscheiden sich nur in Nuancen. Protagonistin und Hexe sind daher wahrscheinlich zwei Seiten einer Persönlichkeit.
Die Tonart G-Dur ist gemäß Beckh [10] eine zwiespältige Tonart, was zu der gespaltenen Persönlichkeit Protagonistin/Hexe passen könnte. In reiner Form symbolisiert sie „die sprießende Blütenfülle der Maienzeit, die Liebesoffenbarung im Werden der Natur“, sie steht für das Anmutige, Liebliche, Bescheidene, Innige, Kindliche, Unschuldige. Diese Unschuld findet sich in der naiven Protagonistin wieder. In negativer Form ist G-Dur die Tonart des Sinnenrauschs, sie steht für eine vorgetäuschte Innigkeit, sie ist sinnlich verführerisch und berückend. Was könnte besser zur Hexe passen, welche die Protagonistin verführt?
Beckh weist darauf hin, dass G-Dur in seiner negativen Form die einschmeichelnde, verführerische, versucherische Tonart der Botin (Hexe?) Kundry aus Richard Wagners „Parsifal“ ist. Mit Kundry als Werkzeug will dort der Bösewicht Klingsor dem Toren Parsifal die Unschuld rauben, so wie vielen Gralsrittern zuvor. Erlösung kann sie nur erlangen, wenn ein Mann ihrer Verführung widersteht [11]. Auch dieser Mythos findet sich für mich im Song verarbeitet wieder, an Zufall kann ich nicht recht glauben. Anklänge an Mythen, Märchen und Geschichten aller Art legen sich somit im Song „The Red Shoes“ übereinander. Auch musikalisch ist das vielschichtig und faszinierend umgesetzt. Man kann diesen Song in kurzen Sätzen abhandeln, wie es Thomson und Jovanovic tun – aber dann sieht man nicht die ganzen Feinheiten. Aber das Album „The Red Shoes“ wird ja gern mißachtet, vielleicht ist das mit eine Ursache dafür. Ich teile das nicht. Der Song ist es wert, dass man genauer hinschaut. © Achim/aHAJ
[1] Rob Jovanovic: Kate Bush. Die Biographie. Höfen. Koch International GmbH/Hannibal. 2006. S.183
[2] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.318
[3] Marianne Jensen: „Rubber Souls“. Vox. November 1993.
[4] Nick Coleman: „Daft As A Bush“. Time Out. November 1993.
[5] N.N.: „Well red“. Interview mit Del Palmer. Future Music. November 1993.
[6] https://hekaya.de/maerchen/die-roten-schuhe–andersen_72.html (gelesen 01.01.2020)
[7] https://babyduda.com/hans-christian-andersen-die-roten-schuhe/?cn-reloaded=1 (gelesen 30.03.2020)
[8] Kate Bush: The red shoes (Songbook). Woodford Green. International Music publications Limited. 1994. S.53ff
[9] http://morningfog.de/?page_id=2608#etm (gelesen 01.01.2020)
[10] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.222ff
[11] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Parsifal (gelesen 01.01.2020)
[12] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Der_Zauberer_von_Oz_(1939) (gelesen 02.04.2020)
[13] https://genius.com/Kate-bush-the-red-shoes-lyrics (gelesen 01.04.2020)
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