Das Song-ABC: Top of the City

Der Song „Top of the City“ vom Album „The red Shoes“ ist einer dieser Songs, die unter dem Radar bleiben. Weder in Reviews noch bei den Biographen spielt er eine größere Rolle. Graeme Thomson spricht davon, dass er hart an der Grenze zu „quietschsauberer Hintergrundmusik“ [1] liegt. Was hat er da gehört?? Kate Bush hat in Interviews fast nichts zu diesem Song gesagt, jedenfalls finde ich kaum etwas. Aber sie hat ihn für „Director‘s Cut“ neu aufgenommen und in den „Before the Dawn“-Konzerten live gesungen. Er scheint daher für sie etwas Besonderes zu haben – allein das macht es spannend, genauer hinzuschauen. Und tut man es, dann entdeckt man ein poetisches Geheimnis.
Musikalisch kommt „Top of the City“ unspektakulär daher. Der Song steht in einem durchgehenden 4/4-Takt, ein einziger 2/4-Takt findet sich in der Coda. Die Tonart ist ein reines Cis-Moll [2]. Die Verwendung dieser Tonart macht zum ersten Mal aufmerksam. Es ist die Sehnsuchtstonart der klassischen Musik. Es ist eine warme Tonart der Melancholie, die nach Beckh [7] mit ihrer leuchtenden Schönheit in unserem Herzen die verborgenen Quellen der Sehnsucht öffnet. Kate Bush nutzt Cis-Moll oft, um tiefe Gefühle auszudrücken. Große Teile von „Aerial“ werden von ihr beherrscht, auch in „And dream of sheep“ findet sie sich.
Kate Bush sagt zwar nichts über die Bedeutung des Songs, aber sie gibt Auskunft über die Entstehungsweise. Er ist ganz klassisch am Piano entstanden.

„With the last three albums, I’ve been writing straight onto tape, but actually sitting and playing the piano without the technology all around me was really good. Top of the City was written like that.“ [3] In einem Interview mit ihrem langjährigen Partner und musikalischen Mitstreiter Del Palmer finden sich weitere Details. Offenbar ist der Song als einer der ersten des Albums entstanden, hat dann aber im Studio langwierige Metamorphosen durchlaufen: „The track was one of the first recorded for the album, but changed an awful lot during the studio sessions.“ [4]. Entstanden ist der Song spätestens 1990, da in diesem Jahr Nigel Kennedy den (kaum hörbaren) Violinpart des Songs aufgenommen hat: „Nigel Kennedy features on violin and his parts were recorded on analogue on 1990.“ [4]. Del Palmer lässt sich dann zumindest eine kleine Andeutung über den Inhalt des Songs entlocken: „The impression is of being high up in the clouds over a city, and originally there was more rhythm section, but a lot of it was taken off to emphasise the airiness of the track.“ [4]
Schaut man sich den Song an, dann bemerkt man eine differenzierte Feinstruktur. Den einzelnen Abschnitten sind dabei verschiedene Stimmen (oder Stimmungen) zugeordnet. Es sieht so aus, als ob es mehrere Erzählperspektiven gibt. In der folgenden Analyse orientiere ich mich bei der Bezeichnung der Songabschnitte an [9]. Damit man die Abschnitte in den Lyrics wiederfindet, gebe ich im Folgenden jeweils die erste Zeile des Abschnitts mit an.
Die Grundstruktur des Songs besteht aus einer Abfolge von vier Abschnitten. Es beginnt mit Chorus 1 – Verse 1 – Refrain 1 – Verse 2, dies wird dann wiederholt als Chorus 2 – Verse 3 – Refrain 2 – Verse 4. Es endet mit einer Art Epilog oder Abschluss aus der verkürzten Abfolge Chorus 3 – Verse 5. Den Chorus-, Refrain- und Verse-Abschnitten werden jeweils unterschiedliche Stimmen bzw. Stimmungen zugeordnet. Da ist eine „Erste Stimme“, sie ist freundlich und sanft, die Musik ist hier ruhig und balladenhaft. Sie singt die Chorus-Partien: Chorus 1 „One more step to the top of the city“, Chorus 2 „Take me up to the top of the city“ und Chorus 3 „Take me up to the top of the city“. In diesen Chorus-Partien geht es um das Aufsteigen (und den Wunsch danach) auf die Schulter des Engels, auf das Aufsteigen in eine Welt hoch über der Stadt.
Dann gibt es eine „Zweite Stimme“. Sie klingt ähnlich wie die erste Stimme – es ist jetzt aber eine andere Stimmung da, es klingt etwas heimlich, flüsternd. Diese Stimme singt die Refrain-Partien: Refrain 1 „It’s no good for you baby“ und Refrain 2 „She’s no good for you baby“. Diese Refrain-Partien sind Ratschläge, Einflüsterungen. Die „Dritte Stimme“ ist ganz anders, sie ist fast schreiend, es klingt bedrängt. Auch die Musik ist hier nicht verträumt und innehaltend, hier klingt es nach dem Discogetöse einer Großstadt. Diese Stimme ist für die Verse-Partien zuständig: Verse 1 „I don’t know if I’m closer to heaven but“, Verse 2 „I don’t know if you’ll love me for it“, Verse 3 „See how that building there is nearly built“, Verse 4 „I don’t know if you love me or not“ und Verse 5 „And I don’t mind if it’s dangerous“. In den Versen gibt es noch kleinere Abstufungen. Die Verse 2 und 4 klingen näher, weniger laut, intimer, der Großstadtlärm ist etwas herabgedämpft.
In der Abfolge der Abschnitte ist es so, dass die flüsternde „Zweite Stimme“ der Refrains jeweils auf die lauten Großstadtbeobachtungen der „Dritten Stimme“ (Verse 1 und 3) antwortet. Die ruhigeren Verse 2 und 4 der „Dritten Stimme“ antworten dann jeweils auf die Refrains. Sie ziehen aus derem „Rat“ ein Fazit, sie enden jeweils mit „But I don’t think we should suffer this / There’s just one thing we can do about it“. Was danach passiert, wird nicht aufgedeckt im Song. Für mich persönlich klingt das nach einer Selbstmordankündigung.
Wie kann dieses komplexe Geschehen gedeutet werden? Sind diese unterschiedlichen Erzählperspektiven unterschiedliche Personen? Was für eine Geschichte steht hier im Hintergrund? Der Text ist auch auf den zweiten Blick rätselhaft. Es finden sich aber nach intensiver Suche ein paar Hinweise, die eine nähere Betrachtung lohnen und die dann unvermittelt Sinn ergeben.

Zur Zeile „Put me up on the angel‘s shoulders“ schreibt ein User „dominicvine“, dass ihn diese Zeile an den Film „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders denken lässt. Es ist ein Film über „angels who watch the people of Berlin… and often sit on top of the shoulders of a huge golden angel (the victory column in the Tiergarten) and listen to the suffering of all the people down below… many of the lyrics seem to refer to this scenario. and the movie had recently come out. it is something she would have seen…“ [5]. „Der Himmel über Berlin“ hatte im Oktober 1987 Premiere [6], die Filmliebhaberin Kate Bush könnte ihn also durchaus gekannt haben. Dieser Interpretationsansatz findet sich auch in einer anderen Quelle [8], dort gibt es auch ein Foto von Kate Bush auf der Schulter des Engels der Siegessäule. Die Quelle dieses Fotos habe ich nicht auffinden können. Wahrscheinlich ist das Foto eine Fälschung, das Original scheint ein Foto für „Eat the music“ zu sein mit einem anderen Hintergrund [12].
Der Film ist sehr poetisch und auch traurig. Die Engel dort können nicht in das Leben der Menschen eingreifen. Sie können sich ihnen auch nicht zu erkennen geben, aber sie können ihnen neuen Lebensmut einflößen. Der Wunsch eines der Engel, am Leben der Menschen teilzuhaben, wird schließlich so groß, dass er dafür bereit ist, auf seine Unsterblichkeit zu verzichten [6]. Interessant für die Deutung des Songs ist nun, dass es drei Gruppen von Personen in diesem Film gibt [10]. Es gibt die Kinder, nur sie können die Engel sehen. Es gibt die Engel, sie beobachten, hören die Gedanken der Menschen, lächeln ihnen zu, trösten Sterbende, können aber nicht eingreifen und weder Tod noch Selbstmord verhindern. Und es gibt im Film die Menschen, deren Gedanken die Engel hören können. Die Menschen sind traurig, froh, einsam, müde, verzweifelt, haben Sorgen und Gefühle, gehen ihren Alltagsgeschäften nach und nehmen die Gegenwart der Engel nicht wahr [10]. Diese drei Personengruppen des Films passen nun sehr gut zu den drei Stimmen des Songs. Die „Erste Stimme“ der Chorus-Partien ist die Stimme der Kinder, die die Engels sehen können, die sich wünschen, bei ihnen zu sein. Die „Zweite Stimme“ ist die Stimme der Engel, die Rat geben, die trösten. Die „Dritte Stimme“ sind die Gedanken der Menschen in den Straßen.
Auch die zweimal auftretende Abfolge Chorus – Verse – Refrain – Verse ergibt nun einen Sinn. Ein Kind sieht einen Engel, wünscht sich bei ihm dort oben zu sein (Chorus). Der Engel hört die Gedanken eines Menschen (Verse). Der Engel flüstert ihm etwas in die Seele (Refrain). Der Mensch reagiert und der Engel hört dies (Verse). Verse 5 endet mit „Take me up to the top of the city“ – der Mensch hat den Engel nun auch wahrgenommen. Die Welten kommen zusammen. Auch die Sehnsuchtstonart Cis-Moll ergibt nun einen Sinn. Alle hier im Song sehnen sich nach etwas, nach den Engeln, nach Erlösung, nach echtem Leben.

Vielleicht hat der Besuch von Kate Bush in New York bei Michael Powell, dem Regisseur des Films „The red Shoes“ die Erinnerung an diesen Film ausgelöst [13]. New York ist voller Hochhäuser, voller Hektik, voller Menschen mit ihren Gedanken. In der Anfangssequenz des Films und im Trailer zum Film ist dies alles sehr schön zu sehen [11]. Das sieht aus wie eine Bebilderung des Songs. Sogar Del Palmers „The impression is of being high up in the clouds over a city“ [4] findet sich wieder. Auch ein Selbstmord kommt vor, den der Engel nicht verhindern kann.  In der Filmmusik spielt offenbar auch die Solovioline eine wichtige Rolle, damit gibt es auch zum Einsatz von Nigel Kennedy eine Erklärung.
Für mich habe ich damit eine Deutung des Songs gefunden und „Top of the City“ mit seinen drei Erzählperspektiven ergibt für mich nun Sinn. Bemerkenswert ist für mich zudem, dass das Album „The red Shoes“ mehrere dieser Songs mit wechselnden Erzählperspektiven enthält, z.B. verwenden auch neben „Top of the City“ die Songs „The red Shoes“ und „Constellation of the heart“ dieses Stilmittel. Ein „mehrere Seelen sind in meiner Brust“ muss Kate Bush damals sehr beschäftigt haben.
Es gibt zwei weitere Fassungen des Songs, aber sie tragen zum Verständnis des Songs nichts weiter bei. Die Fassung auf „Director‘s Cut“ klingt dumpfer, das gefällt mir weniger. Die Fassung auf „Before the dawn“ ist ruhiger, das gefällt mir wieder ganz gut. Das Thema Engel passt im Rahmen von „Before the Dawn“ zum Abschluss mit „Among Angels“, es spannt einen Bogen.
„Top of the City“ ist ein Song, der einen auf den ersten Blick ratlos macht. Seine Bedeutungen erschließen sich nicht auf Anhieb. Aber er ist eine Reaktion auf die Frage nach dem Sinn der Existenz und (jedenfalls in meiner Interpretation) eine tiefsinnige Reaktion auf einen philosophisch angehauchten Film. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.325
[2] Kate Bush: The red shoes (Songbook). Woodford Green. International Music publications Limited. 1994. S.64ff
[3] N.N.: „A Tightly Wound Conversation With The Rubberband Girl“. Details. März 1994
[4] „Well red“. Interview mit Del Palmer. Future Music. November 1993
[5] https://genius.com/14653366 (gelesen 10.04.2020)
[6] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Der_Himmel_%C3%BCber_Berlin (gelesen 11.04.2020)
[7] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S. 268
[8] http://gaffa.org/faq/topcity.html (gelesen 10.04.2020)
[9] https://genius.com/Kate-bush-top-of-the-city-lyrics (gelesen 10.04.2020) [10] https://www.goethe.de/resources/files/pdf130/himmelueberberlin_didaktisierungsvorschlag.pdf (gelesen 15.04.2020)
[11] https://youtu.be/-uI81q3wxH8 (gesehen 15.04.2020)
[12] https://images.app.goo.gl/drkBEswamYnpDEvR7 (gesehen 15.04.2020)
[13] Marianne Jenssen: „Rubber Souls“. Vox. November 1993

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Bitte ausfüllen. Danke. * Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.