Unheimlich! Dies sind mit die unheimlichsten zwei Minuten Musik, die Kate Bush bisher geschrieben hat. Meine Empfehlung ist, dies in einer Nacht zu hören, wenn man nicht schlafen kann, es dunkel und kalt und still ist, man übermüdet ist. Genau in dieser Situation ist am besten zu fühlen, was dieser Song ausdrückt: Verlassenheit, Angst, Kälte.
Um ihn angemessen zu analysieren, muss der Kontext „The ninth wave“ mit betrachtet werden. „Under ice“ ist in diese Suite von Songs eingebettet, die die zweite Seite des Albums „Hounds of love“ bildet. Lassen wir Kate Bush selbst sprechen: „Wir reden über einen Sturm. Da ist ein Mensch bei Sturm über Bord gegangen und kämpft eine ganze Nacht gegen die Wellen, die Müdigkeit und die Gefahr, aufzugeben. Zu dieser Handlung habe ich alle Stücke der zweiten LP-Seite geschrieben. […] Da geht also jemand über Bord, nachts. Er wird wahnsinnig müde, will resignieren. Dann ziehen seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft an ihm vorbei und versuchen, ihn wachzuhalten und durch diese Nacht zu kriegen.“ (1). Die ersten beiden Stücke dieser Suite – „And dream of sheep“ und unser „Under ice“ – sind dabei als Einheit zu betrachten: „It was totally connected to the track that had come before, and they were written together – And Dream Of Sheep goes straight into Under Ice and they were almost conceived as one […]“ (2).
In „And dream of sheep“ wird der Rahmen der Geschichte aufgestellt: eine Schiffbrüchige treibt im nächtlichen Meer, mit Schwimmweste und Notlicht, kaum noch bei Bewusstsein. Stimmen aus dem Leben versuchen sie noch zu erreichen, aber wie von Narkotika betäubt sinkt sie tiefer und tiefer in den Schlaf (“like poppies, heavy with seed – They take me deeper and deeper”). Auch die Melodie geht hinunter in diese Tiefe und verdämmert. Ohne Pause beginnt „Under Ice“ und wir sind in einer düsteren Zwischenwelt. Das eher romantische cis-Moll wechselt abrupt in ein dunkles, bedrohliches a-Moll (3). Dieser Übergang ist so, als ob das Licht in der Musik abgeschaltet wird.
Kate Bush erklärt den Übergang und die Absichten dahinter so: „[…] it was very much the idea of going from very cold water, it’s getting dark, you’re alone, the only way out is to go to sleep, no responsibilities, and forget about everything; but if you go to sleep the chances are you could roll over in the water and drown. So you’re trying to fight sleep, but you can’t help it, and you hit the dream, the idea of the dream being really cold, and really the visual expectancy of total loneliness, and for me that was a completely frozen river, no-one around, everything completely covered with snow and icicles, and its that person all alone in this absolute cold wilderness of white, and seeing themselves under the ice, drowning, to witch they wake up and find themselves under the water“ (2).
Die Komposition dieses Songs geschah ganz schnell, die Musikbegleitung wurde an einem einzigen Tag eingespielt (4). Wenige Töne erklingen, nur Rhythmus, Betäubung. Ein einsames Cello – aus dem Fairlight CMI (4) – bestimmt mit seinen dumpfen Tönen die Musik. Wie das Pochen und Klopfen eines bangen Herzens klingt es und hebt das Gefühl des Alleinseins in dieser „absolute cold wilderness of white“ hervor. Die Stimme setzt ein, wird eins mit diesen minimalistischen Tönen.
Dies ist ein dunkler und gefährlicher Traum. Düsteres a-Moll bestimmt die Harmonik, in der immer wieder der d-Moll-Akkord auftaucht: d-Moll, die „Welt des Grabes und des Todes“ (5). Einige lichte C-Dur-Akkorde leuchten hinein wie Sterne der Hoffnung. Die Schiffbrüchige ist eingeschlafen, obwohl sie wach bleiben müsste. Erschöpfung hat sie überwältigt. Die weiße, kalte, tote Winterlandschaft dient als Symbol für diese Verlassenheit im Wasser, ausgelöst durch die eisige Kälte des Wassers. Einsamkeit und Todesnähe herrschen, nur einmal ertönt eine ganz ferne und unverständliche Stimme (ein Traum). In ihrer Müdigkeit sieht sich die Protagonistin in dieser Winterlandschaft auf dem Eis Schlittschuh laufen. Der Cello-Rhythmus nimmt dieses regelmäßige Vorwärtsbewegen musikalisch auf.
Dünnes Eis – das ist die trügerisch-sichere Schicht über den gefährlichen Abgründen. Harsche, abrupte Silben und Worte rufen das Bild der Eisfläche hervor. Sie klingen wie das Knacken, das ein Schlittschuhläufer hören kann: skating, cutting, splitting, spitting, ice. Hier ist die Stimme mit Hall versehen und klingt so, als ob es mehrere Stimmen wären, sie folgt dem Cello, die Stimme vibriert fast vor Kälte. Mehrmals wechselt der Gesang und die Stimme erhebt sich in elegischen, ganz klar klingenden Melodien über die Eisfläche („The river has frozen over“, „I’m speeding past trees leaving“, „There’s something under water“). Der tote d-Moll-Akkord ist hier in den hellen F-Dur-Akkord der parallelen Dur-Tonart verwandelt – als ob die Musik sagen will: „Das ist nicht das Ende, der Tod kann abgewendet werden“.
Dann zersplittert das Eis wirklich und die Realität des Traums zerbricht. Unter dem Eis ist etwas – das eigene Ich – verbunden mit dem Lautsymbol des Echolots. Die Protagonistin erschrickt, sie erkennt sich in diesem Körper unter dem Eis, versunken, am Ertrinken. Die den Cello-Puls begleitenden rauen Stimmen und die Gesangsstimme (die „It’s me“ singt) sind zum einzigen Mal parallel. Die Stimmung steigert sich, wird bedrohlicher, erregter. Etwas dringt auch musikalisch ins Bewusstsein. Am Schluss dann ein weiteres Absinken der Musik, der Cello-Puls lässt nach und erstirbt, ein Einschlafen, ein Akzeptieren. Die Musik kreist in merkwürdigen Tönen vor sich hin und wird immer ruhiger. Führt das in die Bewusstlosigkeit oder noch tiefer ins Meer? Übergangslos geht es mit „Waking the witch“ weiter und mit Stimmen, die danach rufen aufzuwachen, die aus dieser Situation retten wollen.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass „The ninth wave“ keine konsistente, logisch fortschreitende Geschichte erzählt, sondern assoziativ Episoden aneinander reiht. Warum ist die Protagonistin auf einmal auf dem Eis und war vorher auf dem Wasser – ist das ein Bruch? Die Analyse zeigt aber, dass es sich hier um eine logische Konsequenz handelt, wenn die verwendeten Symbole aufgeschlüsselt werden. Selten wurde eine so unheimliche Atmosphäre mit so wenigen Mitteln erzeugt. „Under ice“ ist ein Horrorfilm in zwei Minuten. (© Achim/aHAJ)
(1) Andreas Hub: “Kate Bush. Aufgetaucht”. Interview mit Kate Bush. Fachblatt Musikmagazin. 11/1985
(2) The 1985 Convention Interview. Tony Myatt asks Kate about Hounds of Love. Homeground – The Kate Bush Magazine. Anthology One. Crescent Moon Publishing. Maidstone. 2014. S.383-392
(3) “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.60 und 160
(4) Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S. 156
(5) Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.157
Neueste Kommentare