Das Song-ABC: Snowflake

Es ist Nacht im Winter, man steht auf der Straße, die Schneeflocken fallen rings um einen herab, still und sanft, nur angestrahlt vom Licht der Straßenlaternen. Es erscheint so, als ob sie zu einem kommen. Wahrscheinlich hat jeder dann schon einmal die Arme ausgebreitet und den Kopf gehoben, in die fallenden Flocken geschaut. Für mich ist es eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen. Ich spürte die Macht der Stille und der Natur.
Was wäre, wenn man mit einer dieser Flocken reden könnte? Was wäre, wenn eine dieser Flocken wirklich auf dem Weg zu einem wäre? Genau darum geht es in „Snowflake“ und vielleicht hatte Kate Bush ähnliche Gefühle und Fragen in einem Schneetreiben wie ich.
„Snowflake“ ist ein ganz ruhig gehaltenes Lied, es ist fast eine Meditation, ein Zwiegespräch, ganz intim und persönlich. Es „fallen weiche Pianoschläge wie Eiskristalle von Himmel, im Hintergrund suggeriert ein leiser Klangteppich die der Jahreszeit angemessene Kälte“ [1]. „Neben Bushs unaufgeregtem Sprechgesang ist ihr 13-jähriger Sohn zu hören, der mit gespenstisch-schönem Knabengesang den Weg der Schneeflocke zur Erde besingt“ [1]. Der Song ist in Abschnitte geteilt, die durch unterschiedliche musikalische Motive und Melodien gekennzeichnet sind. Diese Motive sind sehr kurz, es sind eher Farbakzente. Es gibt aber eine übergeordnete Einheit durch einheitliches Tempo und Grundstimmung, in die sich diese Motive einbetten.
In der Einleitung ertönt ein Klaviermotiv, das der Melodie aus „Night scented stock“ vom Album „Never for ever“ sehr ähnlich ist. Das hat mich ziemlich verblüfft, als es mir aufgefallen ist. Diese beiden Stücke haben auf den ersten (und auch zweiten) Blick nichts miteinander zu tun. Meine Vermutung ist, dass die Beschwörung einer geheimnisvollen Nachtstimmung das verbindende Element ist.
Nach der Einleitung beginnt es mit der Schneeflocke, die etwas über ihren Ursprung erzählt („I was born …“). Dazu ertönt ein kleines Motiv als Begleitung, das wie eine Fanfare anmutet, ein „schaut her, ich bin da“. Die Schneeflocke schildert dann in einer Art Sprechgesang, was sie auf ihrem Flug sieht. Zu diesen Schilderungen ertönt im Klavier ein hin und her schwingendes Motiv, das mit einer aufsteigenden Tonkette beginnt. Es klingt tänzerisch, schwebend. Dazu erklingen im Hintergrund ganz leise andere Instrumente, die das Klavier und die Stimme wie mit einem Schimmer umgeben. Dieser Schimmer ist dunkel, eher geheimnisvoll, ohne klare Tonalität oder Melodie. Ist es das Geheimnis der Winternacht? Sind es die Klänge einer fernen Welt, die durch den Schnee gedämpft wird?
Unterbrochen wird der Gesang der Schneeflocke durch wiederholte Anrufungen durch die Protagonistin („The world is so loud ….“). Sie sind gekennzeichnet durch ein weiteres Klaviermotiv. Es ist verwandt mit dem Begleitmotiv des Sprechgesang, da es mit einer ähnlichen aufsteigenden Tonkette beginnt (Sängerin und Schneeflocke sind seelenverwandt). Es klingt wie eine Antwort auf das Sprechgesang-Begleitmotiv, es ist ruhig, besänftigend. Die Stimme dazu ist wie ein Ruf in die Dunkelheit, verlässlich und sanft, ein stimmlicher Leuchtturm für die fallende Schneeflocke. Ab und zu mischen sich leise Gitarrentöne hinein und geben eine andere Färbung.
Ich frage mich, ob die Protagonistin die Schneeflocke wirklich hören kann. Ist ihr bewusst, dass die Schneeflocke mit ihr redet und auf dem Weg zu ihr ist? Neunmal wird der Ruf wiederholt, es ist (fast) immer der gleiche Text, er geht nicht auf die Schneeflocke ein. Zudem beginnt er mit „The world is so loud“ – übertönt die Welt die leisen Töne der Schneeflocke? Ich glaube, die Protagonistin ahnt die Anwesenheit, wünscht sie sich herbei – aber mehr nicht.
Die Schilderungen der Schneeflocke über ihren Weg vom Himmel herab werden durch Passagen unterbrochen, in denen sie ihr „Wesen“ erklärt, in aufsteigenden Tonsprüngen, immer höher und höher („I am ice …“). Dazu ertönt ein neues Motiv im Klavier, eine schwingende Tonfolge, schwer zu beschreiben, wie knisternder Schnee, wie fallendes Wasser. Die Melodie der Gesangsstimme wirkt dagegen wie ein Statement, eine Wesensäußerung. Die Flocke ist Eis und Staub, sie ist aber auch Licht und Himmel. Realität und Überirdisches kommen zusammen. Die Stimme springt jeweils zu diesen Worten in höchste Höhen, kennzeichnet die Schneeflocke als ein unwirkliches, vom Himmel kommendes Wesen.
In einigen Passagen verlässt die Schneeflocke den schildernden Sprechgesang und gibt mit einer weit schwingenden Melodie Einblick in ihr Inneres („My broken hearts ….“). Ihr Fühlen wird sichtbar. Dazu ertönt kurz zu Beginn ein weiteres Klaviermotiv, das ein bisschen aufgeregt klingt. Der Text ist hier mystisch, geheimnisvoll – so wie es vielleicht auch die Natur selbst ist.
Der „Ruf“ der Protagonistin ertönt neunmal und wird unterbrochen von den Schilderungen der Annäherung der Schneeflocke, die immer kürzer werden. In der ersten Schilderung der Schneeflocke heisst es „I want you to catch me“, in der letzten dann „Be ready to catch me“. Die in der Wolke geborene Schneeflocke hat sich den Menschen ausgesucht, der sie auffangen soll. Die Natur hat ein Ziel, die Schneeflocke als Verkörperung der Natur beginnt die Kommunikation. „Im Film würde man sagen, jetzt folgt Shot auf Gegenshot, Ich-Kamera der Schneeflocke vs. Ich-Kamera des Erdenbewohners […]“ [2]. Die beiden Protagonisten kommen sich immer näher, „was im Text dadurch signalisiert wird, dass der Refrain in immer kürzeren Abständen wiederkehrt – ein Ausdruck für steigende Erwartung, „keep falling“, komm schon, komm her, diese Welt ist zu laut, rette mich“ [2].
Ganz zum Schluss sind dann nur noch die dunklen, unbestimmten Töne der Nacht aus dem Hintergrund da. Kein Klavier mehr, der Song kommt zur Ruhe, die Schneeflocke ist gelandet. All das ist eine ruhige Meditation, über neun Minuten lang. Der Song ist komplexer, als er dem Zuhörer erscheint. Verschiedene einfache Motive kennzeichnen die Situationen des Songs. Darüber liegen Sprechgesang und sich einfügende, knappe Melodien. Alles für sich einfach, aber in der Kombination dann doch komplex, eingebettet in einen geheimnisvollen, träumerischen Schimmer.
„Snowflake“ thematisiert die Kommunikation zwischen Mensch und magischer Natur. Diese magische Natur tritt mit dem Menschen über mythische Wesen in Verbindung, das ist eines der Hauptthemen des Albums „50 words for snow“. Kate Bush war von dieser in einem Interview aufgebrachten Idee sehr angetan. „I like that, that’s lovely, yeah […] Someone else observed that a lot of the creatures are mythical, for want of another word, fantastical creatures – even a snowflake, if you think of it as a living thing.“ [3].
Dieser mystische Kontext in „Snowflake“ hat auch einen religiös-mystischen Subtext, das legt eine Textzeile nahe, die die Schneeflocke singt: „It’s midnight at Christmas“. Was hier von Himmel fällt an einem Weihnachtsabend, das ist vielleicht ein Engel, vielleicht ein Gottesgeschenk. Die Schneeflocke (gesungen vom Sohn von Kate Bush) kommt herab zur Protagonistin (Kate Bush) so wie in der Weihnachtsgeschichte der Sohn Gottes zu Maria.
Ich möchte das nicht überstrapazieren, aber mir fiel eine Ähnlichkeit des „I am ice and dust and light. I am sky and here“ mit dem „Vater unser“ auf: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.“ Die Schneeflocke kommt aus dem Himmel, das „Vater unser“ beginnt mit „Vater unser der du bist im Himmel“. Für mich antwortet die aus dem Himmel kommende Schneeflocke auf dieses Gebet und offenbart ihre Göttlichkeit. Damit schließt sich der Bogen. Eine Winternacht im Treiben der Schneeflocken ist erfüllt von der Begegnung mit der mystischen, göttlichen Natur. Wenn man die laute Welt ausblendet, dann kann man hören, wie die Natur zu einem spricht. Sie spricht zu uns selbst in der kleinsten Schneeflocke. Wir sind ein Teil davon, wir sind eins. © Achim/aHAJ

[1] Martin Leute: „Exzentrisch, irritierend, schön: Kate Bush singt über den Schnee“. https://www.laut.de/Kate-Bush/Alben/50-Words-For-Snow-71922  (gelesen 18.07.2018)
[2] Tina Manske: Was sagt eigentlich die Uhr. http://morningfog.de/?p=109. (gelesen 14.07.2018)
[3] Andy Gill: „Kate Bush: The ice queen of pop returns“. The Independent. 18.11.2011

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