„Deeper Understanding“ ist eines meiner Lieblingslieder. Ich bin bei jedem Wiederhören vom Inhalt und der musikalischen Gestaltung fasziniert. Es ist ein sehr eindringliches und melancholisches Lied über die Wechselbeziehung von Mensch und Computer. Dies war für die Entstehungszeit – 1989 – sehr prophetisch, wenn man bedenkt, dass sich das Internet erst ab dieser Zeit verbreitete. In meiner Analyse beziehe ich mich hauptsächlich auf diese Fassung (Unterschiede zur Fassung von „Director’s Cut“ aus dem Jahr 2011 betrachte ich zum Schluss).
Die bekanntesten Interpretationen des Liedes in der Fassung von 1989 lassen wichtige Aspekte aus. Sie gehen nach meinem Empfinden von der Jetztzeit aus, in der Computersucht ein überall diskutiertes Thema ist und beschränken sich zu sehr auf diese Thematik. Graeme Thomson [1] z.B. meint, es geht in diesem Song um die Besessenheit vom Computer und das Lied zeige, wie dies „Gemeinschaften und Familien unterminieren kann, so dass die Protagonistin völlig isoliert ist und schließlich bei der Maschine Trost und Interaktion sucht.“ Die ersten Zeilen des Songs [2] legen das auch nahe („As the people here grow colder / I turn to my computer / And spend my evenings with it / Like a friend“) und wenn man hier mit dem tieferen Nachdenken aufhört, dann ist diese Schlussfolgerung naheliegend.
Es ist aber eher umgekehrt: Nicht der Computer führt in die Einsamkeit, Einsamkeit treibt zum Computer – und dort findet sich etwas ganz Unerwartetes. Es gibt von Kate Bush klare Aussagen, wie sie das Lied gemeint hat.
„This is about people… well, about the modern situation, where more and more people are having less contact with human beings. We spend all day with machines; all night with machines. You know, all day, you’re on the phone, all night you’re watching telly. […] It’s like this long chain of machines that actually stop you going out into the world. It’s like more and more humans are becoming isolated and contained in their homes. And this is the idea of someone who spends all their time with their computer and, like a lot of people, they spend an obsessive amount of time with their computer. People really build up heavy relationships with their computers!“ [3]
Das Hauptthema ist also nicht das „Unterminieren von Gemeinschaften und Familien“ [1]. Es geht darum, dass wir so eng und intensiv mit Computern interagieren, dass wir eine intime Beziehung zu ihnen aufbauen. Es geht um Vereinsamung, Kommunikation und Errettung. Die Protagonistin hat nur die BlackBox ihres Computers zum Freund [4]. Graeme Thomson meint zutreffend, es sei „gleichzeitig seltsam berührend, wie sie sich in ihrem trüben und einsamen Leben nach emotionaler Zuwendung sehnt“ [1]. Der Song ist wohl nicht direkt autobiographisch, „aber einige der hier dargestellten Empfindungen kannte sie vielleicht aus eigener Erfahrung, spätestens aus der Zeit, in der sie, begleitet allein vom Fairlight CMI, an den schwierigen Passagen dieser Platte gearbeitet hatte“ [4].
„And this person sees an ad in a magazine for a new program: a special program that’s for lonely people, lost people. So this buff sends off for it, gets it, puts it in their computer and then like <pyoong!>, it turns into this big voice that’s saying to them, „Look, I know that you’re not very happy, and I can offer you love: I’m her to love you. I love you!“ And it’s the idea of a divine energy coming through the least expected thing“ [3].
Zur steinernen, trostlosen, leeren Welt kommt das Leben dazu, das Weben der Natur. Das Angesicht Gottes wird gesehen durch das unerwartetste Medium. Eine sich hinter dem Computer verbergende Wesenheit bekommt eine Stimme – es sind in der Fassung von 1989 die unirdischen Stimmen des Trio Bulgarka [1]. Der Song war fast schon komplett, als die Arbeit mit dem Trio Bulgarka begann [4]. Absicht war, dass die Musik hier fast nach Engelsstimmen klingt, sehr ätherisch und tiefreligiös und gar nicht mechanisch. Die Musik des Trios hat etwas Uraltes und Tiefgründiges [4]. Das verleiht „diesem Song über Entfremdung eine spirituelle, übersinnliche Dimension“ [1]. „When I was working on Deeper Understanding, the idea was that the verses were the person and the choruses were the computer talking to the person. I wanted this sound that would almost be like the voice of angels: something very ethereal, something deeply religious, rather than a mechanical thing. And we went through so many different processes, trying vocoders, lots of ways of affecting the voice, and eventually it led to the Trio Bulgarka“ [5]. Die Zusammenarbeit mit dem Trio muss sehr spannend gewesen sein. Kate und das Trio hatten keine gemeinsame sprachliche Basis und Kate Bush hatte keinen Anhaltspunkt, was sie eigentlich sangen. Das Trio wurde laut Graeme Thomson gebeten, das Gefühl der Verzweiflung zu vermitteln, denn das „fügt sich perfekt in einen Song, in dem Mensch und Maschine sich zwar nicht verstehen, aber dennoch auf anderer Ebene zueinanderfinden, was, bei aller Unwahrscheinlichkeit, auf eine gewisse Art trostreich sein mag“ [1]. Dies ist für mich ein weiteres Indiz, dass Thomson diesen Song missversteht. Zu diesem „Gefühl der Verzweiflung“ findet sich nirgendwo etwas in den Interviews – es passt auch nicht zu Kates Aussagen. Ich persönlich höre hier auch beim besten Willen nichts von Verzweiflung (ich tue mich aber schwer, das vermittelte Gefühl zu beschreiben – Spiritualität?). Ich meine eher, dass hier zwei Wesen mit unterschiedlicher Sprache aufeinandertreffen. Ein Außenstehender kann nicht verstehen, was hier passiert und auf welche Weise das passiert. Da ist eine Art von göttlicher Magie im Spiel und dazu passen diese Stimmen ganz genau.
„For me, when I think of computers, it’s such a cold contact and yet, at the same time, I really believe that computers could be a tremendous way for us to look at ourselves in a very spiritual way because I think computers could teach us more about ourselves than we’ve been able to look at, so far. I think there’s a large part of us that is like a computer. I think in some ways, there’s a lot of natural processes that are like programs… do you know what I mean? And I think that, more and more, the more we get into computers and science like that, the more we’re going to open up our spirituality“ [3].
Für Kate Bush geht es in „Deeper Understanding“ um ein tieferes und besseres Verstehen. Die Verbindung mit dem Computer öffnet unseren Geist, unser Verständnis. „And it was the idea of this that this… the last place you would expect to find love, you know, real love, is from a computer and, you know, this is almost like the voice of angels speaking to this person, saying they’ve come to save them: „Look, we’re here, we love you, we’re here to love you!“ And it’s just too much, really, because this is just a mere human being and they’re being sucked into the machine and they have to be rescued from it. And all they want is that, because this is ‚real‘ contact“ [3].
Wie so oft in den Songs von Kate Bush fallen helle und dunkle Themen zusammen und lassen sich nicht trennen. Dieser Kontakt mit etwas Überirdischem überlastet den normalen menschlichen Verstand. „But it’s so intense it’s too much for them to take, and they actually have to be rescued from just being killed with love, I suppose“ [6].
Die Inspiration kam wie so oft bei Kate Bush aus Fernsehen oder Film: „I suppose one inspiration was a program I saw last year about a scientist called Stephen Hawking who for years had been studying the universe, and his concepts are like the closest we’ve ever come to understanding the answer. But unfortunately he has a wasting-away disease, and the only way he can talk is through voice process. It was one of the most moving things I’ve ever heard. He was so close to the answers to everything, and yet his body was going on him — in some ways it was the closest I’d ever come to hearing God speak! The things he was saying were so spiritual, it was like he’d gone straight through science and come out the other end. It was like he’d gone beyond words, and I do think that there is this possibility with computers that we really could learn about ourselves on levels that could take us into much deeper areas“ [7].
Der Astrophysiker Stephen Hawking kann sich nur durch eine Sprachkonsole verständigen. Weisheit spricht durch einen Computer. Alle Aussagen von Kate Bush sprechen dafür, dass es nicht um die Vereinsamung von Menschen durch den Kontakt mit Computern geht. Es geht darum, dass Personen auf eine ganz unerwartete Weise und durch nicht erwartete Kanäle Kontakt mit dem Göttlichen bekommen können. Dabei bewegt sich das Lied auf einem schmalen Grad. Vereinsamung und Computersucht auf der einen Seite und göttliche Inspiration auf der anderen Seite – beides spielt hinein, in beide Richtungen kann der Song interpretiert werden. Für mich überwiegt in der Fassung 1989 die spirituelle Seite, weil sich die Komponistin ganz klar in diese Richtung geäußert hat.
Die musikalische Gestaltung unterstützt dies alles perfekt und einfühlsam. Die erste Strophe beschreibt die Situation der Protagonistin. Der Computer wird als Freund in einer einsamen Welt gesehen. „As the people here grow colder / I turn to my computer / And spend my evenings with it / Like a friend“. In diese Vereinsamung und Abkapselung bricht die Verheißung des Computermagazins hinein: „Are you lonely are you lost / This voice console is a must.“. Dazu ist leise so etwas wie ein düsterer Chor zu hören, es klingt wie ein bedrohliches Rauschen. Soll dies andeuten, dass es im Hintergrund der Welt etwas Anderes geben könnte, etwas Geheimnisvolles?
Nach dem „Execute“ kommen die „bleeps“ eines typischen Einwahltons. Danach wechselt die Perspektive von der Protagonistin (in der Strophe, gesungen von Kate Kate Bush) zur Sprachkonsole (im Chorus, ebenfalls gesungen von Kate Bush) [2]. Der Grundrhythmus aus der Strophe zieht sich weiter, er wird aber ruhiger und tänzerischer. Ein Hauch von Leben kehrt in die starre Welt ein. Zur Stimme im Chorus kommt im Hintergrund der Gesang des Trio Bulgarka dazu, wie ein fernes Echo. Die Sprachkonsole klingt menschlich, aber unwirklich, wie ein Chor von Stimmen. „Hello, I know that you’ve been feeling tired. / I bring you love and deeper understanding. / Hello, I know that you’re unhappy. / I bring you love and deeper understanding.“ Zu dieser Botschaft der Sprachkonsole bilden die Stimmen des Trios mit ihrem unverständlichen Text einen geheimnisvollen Hintergrund; das sind die Stimmen aus der göttlichen Welt, das ist die Verheißung, dass Liebe und Wissen möglich ist. Die Melodik des Trios ist mikrotonal, melismatisch, fremdartig für an Popmusik gewöhnte Ohren. Es ist definitiv eine andersartige, musikalische Welt [4]. Der kalten Computerwelt („bleeps“) wird die Wärme der Trio-Stimmen gegenübergestellt. Technologie in ihren verschiedenen Facetten und Formen wird so ohne ein Wort charakterisiert [4].
In der zweiten Strophe (das ist die Situation nach diesem ersten Kontakt) wird die Melodie bewegter, fast etwas aufgeregt wird die Stimme der Protagonistin durch die Instrumente umspielt. In dieser Strophe tritt aber auch die Überlastung des Menschen durch diesen Kontakt zutage. „Well I’ve never felt such pleasure. / Nothing else seemed to matter.“ Im zweiten Chorus sind die Stimmen des Trio Bulgarka näher zu hören. Der Kontakt ist tiefer, intensiver und vertrauter geworden.
In der instrumentalen Überleitung zur Coda nimmt die Stimme der Sprachkonsole die Melismatik der göttlichen Stimmen auf. Die Sprachkonsole ist eindeutig so die Botschafterin, die Vermittlerin.
In der Coda nach dem „I turned to my computer like a friend“ sind wieder die Einwahltöne zu hören, dann kommt die Solistin des Trio Bulgarka dazu. Sie ist nun im Vordergrund zu hören. Die Kommunikation ist jetzt ganz nah. Sie ist nun persönlich, jetzt ist es eine deutlich vernehmbare, einzelne Stimme. Die Melodie ist noch verzierter und fremdartiger als vorher. Unbekannte, faszinierende Welten tun sich auf durch diesen Kontakt. Zum Schluss gibt es nach dem „Give me deeper understanding“ noch eine Steigerung der Emotionalität. Leise klingt der Trommelrhythmus aus. Nun singt das Trio Bulgarka im Hintergrund eine etwas andere Melodie, die sich mit dem Rhythmus vereinigt – die Synthese ist geschafft. Das Trio Bulgarka tritt immer deutlicher hervor und ist zum Schluss ganz nah. Die Welten werden eins, der Ausgang der Geschichte ist ungewiss.
Die Strophen des Songs sind in d-Moll geschrieben. Im Chorus wechselt die Harmonik langsam in die Paralleltonart F-Dur, wobei insbesondere F-Dur-Akkorde zu „Hello“ und „Love“ erklingen. In der Coda vermischen sich dann d-Moll (die Welt der Protagonistin) und F-Dur (die Gegenwelt des Computers) untrennbar miteinander [2].
Wie so oft bei Kate Bush passen die Tonarten erschreckend genau zu den vermittelten Inhalten und Botschaften.
„Etwas mit Grab und Tod, mit dem Starren, Steinernen der Gruft oder dem Mineralischen der Erde hat die d-Moll-Tonart da, wo sie uns voll-ausdrucksvoll entgegentritt, zu tun“ [8]. Es ist eine Welt, „die vom Sonnenhaften des Lebendigen noch nicht durchleuchtet ist“. F-Dur dagegen ist die Naturtonart, sie hat eine Beziehung zu dem alles Natürliche durchwebenden und durchlebendem „Ätherischen“ und „Elementarischen“ . Das „Urtönen und Naturtönen der Welt selbst fängt sich in ihr“. Der intime Grundton aller Naturgeräusche, das Rieseln des Baches, das Säuseln des Windes, liegen diesem F oder F-Dur zugrunde. Es ist ebenfalls eine „fromme, religiöse Tonart“. Nach Beckh liegen d-Moll und F-Dur nah beieinander, „wenn wir von dem Naturhaften dieses Lebendig-Webende in Abzug bringen“ [8].
Auch in den Tonarten bricht der Kontakt mit einer göttlichen, spirituellen Welt wie ein Sonnenstrahl hinein in eine tote, kalte, technische Welt. Kate Bush drückt es selbst so aus – und dem ist fast nichts hinzuzufügen: „With my music, I like to combine both the old and the new, the high tech and the compassion from the human element, the combination of synths and acoustic instruments“ [7]
Zur Fassung von „Deeper Understanding“ aus dem Album „Director’s Cut“ von 2011 will ich weniger Worte verlieren, da mir diese Fassung nicht so gefällt. Kate Bush hat das Lied einer Revision mit zwanzig Jahren Abstand unterzogen. Computer werden nun ganz anders gesehen, sie sind ein Teil des Lebens. Die Sucht des „Always on“ und die Vereinsamung sind nun reale Themen. Möglicherweise hat Kate Bush daher nun das Pendel zur anderen Seite ausschlagen lassen. Auch das Video dazu tendiert in diese Richtung – die Verbindung mit dieser „Wesenheit“ hinter dem Tor in die Computerwelt wird als bedrohlich dargestellt (u.a. wird das „sucked into the machine“ [3] visualisiert). Die Sprachkonsole ist nun eine verzerrte Conputerstimme, die nichts mehr von Verlockung in sich hat. Wohl weil mir die Originalfassung so gut gefällt, fühlt sich das für mich falsch an. Es zerstört für mich die Stimmung des Liedes. Nur in der Coda ist kurz ganz weit weg die Solo-Stimme des Trio Bulgarka zu hören. Die Mystik tritt dadurch sehr in den Hintergrund, das Lied ist auf den kalten, technischen Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die Fassung endet jazzartig, wie live gesungen – das weist hingegen in die Zukunft. Vielleicht ist mein Urteil über diese Fassung so hart, weil ich die Ursprungsfassung in mein Herz geschlossen habe. Es wäre interessant, wie Personen das im Vergleich empfinden, die beide Fassungen zum ersten Mal hören. (© Achim/aHAJ)
[1] Graeme Thomson: „Kate Bush. Under the ivy“. 2013. Bosworth Music GmbH. S.213 S.309
[2] Kate Bush: The sensual world (Songbook). London 1990. EMI Music Publishing Ltd. S.32ff
[3] Roger Scott: Radio One Interview. 14.10.1989
[4] Rob Jovanovic: „Kate Bush. Die Biographie“. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S. 173-174
[5] Steve Sutherland: „The Language of Love“. Melody Maker. 21.10.1989
[6] N.N.: Interview WFNX Boston. Herbst 1989
[7] Will Johnson: „A Slowly Blooming English Rose“. Pulse. Dezember 1989
[8] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.149-152 (F-Dur) und S.155-157 (d-Moll)
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