Das Song-ABC: Night Scented Stock

„Night Scented Stock“ vom Album „Never For Ever“ (1980) ist wohl eine der Kompositionen von Kate Bush, die mit am wenigsten beachtet wird. Das liegt an der unglaublichen Kürze von 52 Sekunden und daran, dass die Komposition ohne Text auskommt. Ein kürzeres Stück hat Kate Bush bisher nicht geschrieben, selbst „Aerial Tal“ ist länger. So ein „Interludium“ kann nicht viel Inhalt, nicht viel Bedeutung haben, das ist vielleicht die Einschätzung, die man beim Zuhören gewinnt. Aber das täuscht, wie ich darlegen werde.
Es erfordert als Popmusikerin schon viel Mut, richtig lange Stücke zu schreiben, so wie es Kate Bush auf „50 Words For Snow“ gemacht hat. Aber lange Stücke gestatten es, eine Geschichte und die Musik dazu behutsam zu entfalten. Sie sind wie Blumen, die langsam aufblühen und die ihre Schönheit zeigen. Bei einem kurzen Stück ist die Herausforderung viel größer. Hier muss Bedeutung ganz konzentriert auf kleinsten Raum untergebracht werden. Das ist sehr schwierig, deshalb sind solche Stücke meist wirklich nur Überleitungen. Hier nicht. Je mehr ich „hineinschaute“, desto mehr wurde ich überrascht. Der ungewöhnliche Titel erweckt natürlich zuerst Aufmerksamkeit. „Night-scented stock“, das ist der englische Name für eine Pflanze, der botanische Name ist Matthiola longipetala [1]. Im Deutschen ist der Name Abendlevkoje, es ist eine eher unscheinbare Pflanze, deren Blüten nachts stark duften.
„Ein intensiver Duft entströmt den violetten Blüten. Diese duften vor allem abends, tagsüber auch, wenn der Himmel mit Wolken bedeckt ist. Der betörende Duft ist eine köstliche Mischung aus Vanille, Veilchen und Nelken. In die Nähe von Sitzplätzen pflanzen, die man Abends benutzt, für süß duftende, luxuriöse, laue Sommernächte!“ [7] Auf eine tiefere Bedeutung werde ich noch zurückkommen, aber dieser Titel passt schon mal gut zur Musik des Stücks. „Night Scented Stock“ ist rein instrumental, er besteht ausschließlich aus einem Geflecht von Gesangsstimmen, alle von Kate Bush gesungen. Es sind wunderschön gehauchte „aaahs“ und „oohs“, ein weiterer Text kommt nicht vor. Es ist Musik wie ein betörender Duft. Das Stück ist eindeutig ein Ausprobieren, ein Ausloten und Ausweiten der musikalischen Palette, wie Kate Bush sagt. „This album taught me that I should be a little more brave about that because music without words is just as beautiful and sometimes I feel the need to just keep putting words on music instead of just letting the music be. I hope in the future that perhaps I will move into that area a little more.“ [6]

Die Inspiration kam dabei aus der klassischen Musik, wie Kate Bush auf eine entsprechende Frage erläutert. „That’s probably why I’m fond of it because it’s a new area. And I love music without words when it works because it suddenly becomes so much freer, it’s like landscapes moving around you and I’ve always wanted to work in a musical area sometimes rather than always putting lyrics to my songs.“ [4] „Night Scented Stock“ verbindet auf dem Album zwei der zentralen Songs miteinander, „The Infant Kiss“ und „Army Dreamers“. Das Stück geht übergangslos in diese beiden Songs über. Diese beiden Songs sind in der Stimmung ganz unterschiedlich, mysteriös und geheimnisvoll der eine, ironisch und traurig-böse der andere. „Night Scented Stock“ setzt dem eine Stimmung der Nacht gegenüber, es ist eine Stimmung wie aus einem Traum. Das funktioniert gut, das passt auch ohne mehr Bedeutung. Ohne eine solche Überleitung wäre der Kontrast zwischen den beiden angrenzenden Songs extrem gewesen.
Stimmungsmäßig hätte es auch gut zwischen „The Wedding List“ und „Violin“ gepasst, auch hier hätte es den Kontrast der Stimmungen elegant abgemildert. Das zeigt seine musikalischen Qualitäten als Übergangsstück. Aber es ist mehr als eine Brücke. Es kann meiner Meinung nach nur zwischen „The Infant Kiss“ und „Army Dreamers“ stehen, weil es diese beiden Songs durch eine gemeinsame Geschichte verbindet. Drei Lieder werden zu einer Einheit verbunden, eine Geschichte wird erzählt. Leider hat sich Kate Bush nie zu den Absichten dieses Songs geäußert, ich kann nur selbst eine Deutung versuchen. Zwei Lieder werden miteinander verbunden, in denen es um die Beziehung einer Frau zu einem Kind/Sohn geht. Das Kind wächst zwischen den Songs. „The Infant Kiss“  handelt von einem Jungen, dessen erwachende Sexualität die verklemmte Protagonistin irritiert. In „Army Dreamers“ geht es um den im Krieg gefallenen Sohn und um das, was er hätte werden können, wenn es anders gelaufen wäre. Beide Songs sind aus der Sicht der Frau geschildert. Ein ganzes Leben zieht in diesen 52 Sekunden des Interludiums an uns vorbei. Es ist nur Gesang, nur gehauchtes Entzücken.
„The infant kiss“ endet nicht, es gibt einen direkten Übergang in „Night scented Stock“. Eine Gegenwelt tut sich dort auf. Ist dies die sexualisierte Gegenwelt, die die prüde viktorianische Protagonistin verdrängt hat und der sie sich nun wortlos öffnet? Zeigt das, was aus ihr wird im Laufe des Lebens? Der Tonfall von „Night Scented Stock“ wird zum Schluß hin immer erwartungsvoller, es tritt dieser „jetzt passiert etwas“-Moment in der Musik ein und genau dann beginnt mit den Klängen des Ladens von Gewehren „Army Dreamers“. Die Protagonistin erwacht in der bitteren Realität. Wie immer bei Kate Bush tragen die gewählten Tonarten subtil zur Wirkung bei. „The Infant Kiss“ steht in Fis-Dur mit Einmischung von fis-Moll [3]. Fis-Dur – das ist die „im Tod, im Hinübergehen Erlösende und Errettende, die Hinüberführende, Venus Urania (himmlisch erlösende Liebe).“ [2]. Aber da ist auch noch die andere Seite – das fis-Moll. Das ist die „Tonart des Abgrunds“ [2]. „Army Dreamers“ schwankt ständig zwischen h-Moll und der parallelen Dur-Tonart D-Dur hin und her [3]. D-Dur ist „die Tonart des siegenden Helden, das Erreichen des höchsten Ziels, der siegreichen Überwindung, die eigentliche Siegertonart“ [2]. Das siegreiche, verheißungsvolle D-Dur aber wird in sein düsteres, trauriges Gegenstück h-Moll verwandelt.

Die Verbindung „Night Scented Stock“ steht zu beiden Welten passend in H-Dur. Es beginnt mit H-Dur, in der Mitte weicht es in die Paralleltonart as-Moll aus, um dann wieder in H-Dur zu enden [3]. Der H-Dur-Akkord ist die Subdominante von Fis-Dur, das ist die Tonart von „The Infant Kiss“, beide Tonarten passen gut zueinander. In „Army Dreamers“ wendet sich das H-Dur zu einem düsteren h-Moll, das ist ein subtiles Kippen der Stimmung, eine Art Ernüchterung. H-Dur und as-Moll werden selten verwendet, es sind Tonarten für ganz besondere Momente. H-Dur liegt „nicht mehr ganz im Irdischen, enthält einen verklärten Nachglanz dieses Irdischen und damit zugleich die Vorahnung des Hinübergehens.“ [2]. As-Moll ist die „Tonart vom Scheiden des Tageslichts, vom Lebenslicht“ [2]. Die Tonarten sagen, was der Protagonistin passiert: auf Verklärung und himmlische Liebe folgt das Aufwachen, die düstere Realität.
Die Verbindung der drei Stücke wird auch durch die Symbolik gestützt. Es stellt sich ja die Frage, warum das Verbindungsstück ausgerechnet den Namen dieser Blume trägt. Die Levkoje bedeutet in der Pflanzensymbolik „friedvoll unbeschwertes Dasein“ und in der Planzensprache „Ich glaube an eine gemeinsame Zukunft“ [5]. Das ist ja das, was sich eine Mutter für sich und ihren Sohn wünscht. Aber es gibt auch einen Verweis auf die viktorianisch-verklemmte Welt von „The Infant Kiss“. „Wegen ihres außergewöhnlichen Aromas wusste man [die Abendlevkojen] bereits im Altertum in den Gärten zu schätzen. Im 18. Jahrhundert machten sie Karriere durch alle Gesellschaftsschichten hinweg: Beim Debütantinnenball durften Levkojen in keinem Blumenbukett fehlen und die jungen Verehrer versäumten es nicht, sich vor dem Tanz eine der wohlriechenden Blüten ins Knopfloch zu stecken“ [8]. Ich sehe richtig vor mir, wie die Protagonistin aus „The Infant Kiss“ ihre Verklemmung ablegt, den Duft der Abendlevkojen aufnimmt und in ein glückliches Leben aufbricht.
Wenn ich „Night Scented Stock“ höre, dann fühle ich mich in eine warme Nacht versetzt, voller Duft von Blumen. Ich schließe die Augen und träume. Vielleicht tut das auch die unsichtbare Protagonistin dieses Songs. Ich liebe den textlosen Gesang, dieses betörende, geheimnisvolle Gurren, diesen Chor aus Stimmen. Ich sehe dann immer das Cover des Albums vor mir, mit seinen Nachtgestalten. Aber hier wird sich jede und jeder seine eigenen Bilder machen. Auf jeden Fall ist es ein faszinierendes Stück. Es zeigt, in welche Welten damals das Songwriting von Kate Bush aufbrach. Es lässt schon die Welten von „The Ninth Wave“ und „Aerial“ anklingen. Es ist ein Ausblick auf die Zukunft. Es ist ein Zeichen der Freiheit, die sie sich nach den ersten beiden Alben erarbeitet hatte. © Achim/aHAJ

[1] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Matthiola_longipetala (gelesen 23.08.2022)
[2] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.102ff (Fis-Dur), S.138ff (fis-Moll), S.171 (H-Dur), S.179 (as-Moll) und S.180 (D-Dur)
[3] „Kate Bush Complete“. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.61f (Army Dreamers), S.101 (The Infant Kiss), S.130 (Night Scented Stock)
[4] „Never For Ever Debut“, Interview mit Peter Powell, Radio 1, 11.10.1980
[5] Clemens Zerling: Lexikon der Pflanzensymbolik. AT Verlag. Baden und München 2007. S.155
[6] NfE Interview – EMI (London). 1980
[7] https://deaflora.de/Shop/Essbare-Blueten/Abend-Levkoje.html?language=de (gelesen 26.08.2022) [8] https://www.mein-schoener-garten.de/pflanzen/levkoje/levkojen (gelesen 26.08.2022)

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