Das Song-ABC: Sunset

abcSonnenleuchtend, abendwarm, lichtglitzernd – diese Begriffe kommen mir in den Sinn. Als ich gefragt wurde, ob ich zum zehnjährigen Jubiläum des Albums „Aerial“ einen Song für das ABC besprechen könnte, da fiel meine Wahl sofort auf „Sunset“. Dieser Song fasst für mich die Stimmung dieses Albums – insbesondere der zweiten Konzept-CD „A Sky of Honey“ – in einem Lied zusammen. Oder ist es eher anders herum? Weitet das Album die Welt dieses Liedes aus? „Sunset“ ist eine der Keimzellen des Albums: “King of the mountain”, “Sunset” und “An architect’s dream” entstanden schon sehr früh (1).
Was uns Vogelstimmen erzählen – das spielt die zentrale Rolle der sinfonischen Suite “A Sky of Honey”. Verwoben damit ist die Thematik der Darstellung von Licht und Farben. Menschen stellen Licht durch Malerei dar. Das Licht verändert sich im Ablauf eines Tages. Die Vögel singen von den Stimmungen dieses unterschiedlichen Lichts. “It’s almost as if they’re vocalising light”, (2) erläutert Kate Bush dazu und singt von den Stimmungen dieses Lichts aus Menschensicht. Nahtlos verbunden ist „Sunset“ mit den beiden Songs an seiner Seite – ein sonnigwarmer Abschnitt im großen musikalischen Strom der Sky-Seite.
sunset„If ‚King of the Mountain‘ is winter, ‚Sunset'“ is summer“ (3). Dies ist die kürzest mögliche Charakterisierung dieses Songs. “Sunset” ist eine Beschreibung des Sonnenuntergangs in einem Meer und einem Himmel wie aus Honig. Die Musik ist jazzartig und entspannt. Mit einem ganz ungezwungenen Rhythmus beginnt es. Ich fühle mich wie am Beginn eines langen, schönen Abends nach einem harten Tag. Ein Bass zupft traumverlorene Töne, dazu das Klavier als bestimmendes Element. Die Musik ist wie ein Teppich aus hingetupften Tönen, über den sich die Stimme erhebt. Die Farben der Impressionisten erstrahlen aus der Musik. Von Van Gogh gibt es ein Bild „Weiden bei Sonnenuntergang“ – so ist diese Musik, aus sich heraus glühend. Golden – dieses Lied ist ein goldenes Weizenfeld am Abend. Ein Glas Rotwein dazu und ich bin ganz woanders – das Bild einer dunklen, stilvollen Pianobar steigt in mir auf. Rot – dieses Lied ist dunkelroter Samt.
Das “It’s almost as if they’re vocalising light” ist zentraler textlicher Hintergrund (“This is a song of colour / Where sands sing in crimson, red and rust”). „Sunset“ ist ein Lied des Abschieds. Das Licht muss sterben, wird aber in den Sternen weiterleben (“Every sleepy light / Must say goodbye / To the day before it dies / In a sea of honey / A sky of honey”). In einem Flamenco-Chorus, einem letzten Tanz vor der Dunkelheit, endet das Lied und eine Amsel beginnt einsam mit “Aerial Tal”. Beim Hören werde ich immer in eine Art Schwebezustand versetzt. Negative Emotionen, Stress, Lärm – all das ist auf einmal weit weg und für einige Minuten nicht mehr von Bedeutung.
Der Song ist ein wunderschön gesungenes Lied, unkonventionell und entspannt. Den folgenden beiden Charakterisierungen kann ich nur zustimmen und Besseres ist dazu auch nicht zu sagen: „Sometimes, as on the outstanding ‚Sunset‘, she begins alone and softly, but soon the tempo quickens and the song becomes an experiment in forms: jazz, progressive rock, flamenco“ (4) und „Sunset is one of the most beautifully written and produced songs I have ever heard in my life… jazzy… smooth jazzy… colourful and amazingly vivid across the Sky of Honey landscape.“ (5)
Auffällig auf der Sky-Seite von „Aerial“ ist die alleinige Verwendung von Kreuz-Tonarten. Nie bisher hat es bei Kate Bush eine solche Konzentration in der Verwendung stimmungsverwandter Tonarten gegeben. Alle Tonarten der Sky-Seite mit ihren mindestens vier Kreuzen gehören zu den warmen, hochromantischen und mystischen Tonarten, die nach Beckh (6) den Nachmittag, die Sonne, die Wärme und die Dämmerung symbolisieren. Im Folgenden verwende ich fast wörtlich die Charakteristiken der Tonarten, wie sie Beckh für die klassische Musik zusammengestellt hat. Dies klingt so fast unheimlich passend, als ob Beckh beim Schreiben seiner Worte genau an dieses Lied gedacht hätte.
„Sunset“ steht in cis-Moll (7), der Sehnsuchtstonart der klassischen Musik. Es ist eine warme Tonart der Melancholie, die mit ihrer leuchtenden Schönheit in unserem Herzen die verborgenen Quellen der Sehnsucht öffnet. Einige auch rhythmisch deutlich abgesetzte Passagen des Songs („And changes into the most beautiful iridescent blue“ und „Keep us close to your heart so if the skies stay dark we may live on in comets and stars“) sind von cis-Moll nach H-Dur/Cis-Dur gerückt. H-Dur ist die Sonnenuntergangstonart. Sie ist nicht mehr ganz im Irdischen, sie enthält einen verklärten Nachglanz dieses Irdischen und damit zugleich die Vorahnung des Hinübergehens. Sie ist die ätherische, überirdische Tonart der Verklärung. Wagners Liebestoddrama „Tristan und Isolde“ wird z.B. von H-Dur bestimmt. Das transzendente Cis-Dur hat auf der einen Seite ein sinnliches Element, kann ganz sinnliche Süße sein. Auf der anderen Seite steht es für das Allerhöchste, Weihevollste. Ein eigenartiger Abgrund zwischen Höhe und Tiefe scheint sich in dieser Tonart aufzutun. Es ist dies eine in den Tiefen des Irdischen erlebte höchste geistige Höhe, das „Schauen der Sonne um Mitternacht“. Auch das sonnendurchglühte E-Dur ist in „Sunset“ gegenwärtig. Dies ist nach Beckh die wärmste aller Tonarten, sie steht für Herzenswärme, Liebeswärme, es ist die Tonart der Sonne.
Die Wahl der Tonarten unterstützt aufs Schönste den Inhalt des Textes und den Hintergrund aus Licht und Vogelgesang. Für mich ist es damit offensichtlich, dass Kate Bush Tonarten sehr inhaltsbezogen einsetzt. Bewusst oder unbewusst, das ist nicht zu klären. Aber genial gut, dass ist auch hier wieder festzustellen. Wärme, Sonne und Sehnsucht verschmelzen auf diese Weise in diesem Song zu einer ganz neuen Einheit.
„Sunset“ ist eine fast religiös anmutende Naturbeschreibung. Vielleicht muss das auch in einer entsprechend mythisch-mysteriösen Form zusammengefasst werden: „Gegen Ende des sich im Sambarhythmus aufschwingenden „Sunset“ schreibt Bush Worte in den langsam in Nachtschwärze versinkenden Himmel. Ein Bild, das ihre eigene Geschichte rückwärts erzählt. […] Für Kate Bush gibt es keine Zeit außer ihrer eigenen.“ (8) (© Achim/aHAJ)

(1) Interview durch Philippe Badhorn. Rolling Stone (France). Februar 2006.
(2) Interview durch Tom Doyle. Mojo. Dezember 2005. S.76 ff.
(3) Kim Curtis: „Kate Bush Remains Reliable on New CD“. Associated Press Wire Service. 07.11.2005
(4) Jason Cowley: „Kate Bush, Aerial“. The Observer. 16.10.2005.
(5) Colin Lynch: „International online music“. dgmpublishing.com. 08.11.2005.
(6) Hermann Beckh: „Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner“. Verlag Urachhaus. Stuttgart. 1999
(7) Kate Bush: Aerial. International Music Publication. London. 2006.
(8) Oliver Tepel: „Mit Vogelstimmen reden“. Frankfurter Rundschau (Webseite), 11.11.2005

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