Bei einem Glas Wein auf Madeira zu sitzen und auf das Meer schauen – ein ungewöhnlicher Ort, um über „Misty“ nachzudenken. Aber es hilft dabei, andere Perspektiven einzunehmen und nicht nur einen Blick auf Frosty den Schneemann zu werfen. Nicht der Schneemann ist das Zentrum dieses Songs, es ist die Protagonistin. „Misty“ ist ein faszinierendes Musikstück, etwas über dreizehn Minuten lang, eher ein gigantisches Nocturne als ein herkömmlicher Song. Graeme Thomson sagt sehr zutreffend, es sei „selbst für Kate Bushs Verhältnisse ein seltsamer Song“, der sich „durch einige Momente geradezu überirdischer Schönheit“ auszeichne [1].
Kate Bush sagt wenig zu diesem Song. Die Journalisten fokussierten sich auf „Sex mit einem Schneemann, WOW!“ und thematisierten dies in den Interviews. Wahrscheinlich hat Kate Bush innerlich (vor Lachen?) jedesmal die Augen verdreht. In einem Interview mit der Berliner Zeitung gibt sie aber einen wichtigen Hinweis: „Es ist schon kurios, dass gerade dieses Lied die Vorstellungskraft vieler Ihrer Kollegen enorm zu beschäftigen scheint. Das amüsiert mich sehr. Als ich den Song schrieb, dachte ich zunächst: Was für eine lächerliche Idee! Dabei ist es ein sehr düsterer Song, wie viele der anderen Lieder“ [2].
„Misty“ steckt voller Geheimnisse – und ja, es ist ein sehr düsterer Song. Um das alles aufzudröseln, ist es nötig, zuerst einmal die erzählte Geschichte kurz darzustellen. So treten dann die Punkte zutage, an denen anzusetzen ist. Die Protagonistin baut einen Schneemann, der möglichst lebensnah werden soll. Blut läuft von ihrer Hand, sie läuft ins Haus. Nachts in ihrem Zimmer öffnet sich auf einmal das Fenster. Der Schneemann kommt herein, legt sich neben sie. Er ist kalt, aber sie ist nicht erschreckt, sie ist fasziniert wie in einem Traum. Er ist kalt, und er schmilzt, wenn sie ihn anfasst. Er löst sich langsam auf, während die Dämmerung naht. Am nächsten Morgen erwacht die Protagonistin. Der Schneemann, Misty, ist verschwunden, nur noch Wasserspuren und Reste dessen sind da, was im Schnee war. Die Protagonistin ist voller Sehnsucht, irgendwo draußen muss er sein, draußen wo es weiter schneit. Um ihn zu erreichen, würde sie alles riskieren und sich hinaus in den Schnee stürzen.
„Misty“ ordnet sich damit ein in das Hauptthema des Albums – der Einbruch des Übernatürlichen, insbesondere übernatürlicher, halbwirklicher Wesen, in die alltägliche Welt. Andy Gill fasst das präzise und sehr treffend zusammen: „These songs all deal with empathy for figures that only exist in a half-formed, mythical manner – it’s as if the fall of snow offers cover for these beings, allows them to take life under its blanket.“ [6]
Zu Beginn erklingt ein ruhiges Klavier, begleitet von sanfter Percussion (auch später wird dies nur durch ganz sparsame weitere Farben von Gitarren, Bass und Effekten ergänzt), dann beginnt die Stimme („Roll this body“). Wie eine Beschwörung wirkt dieser Text bis „I run back inside“, auch musikalisch erinnert es ein bisschen an eine rituelle Handlung. Die Harmonien schwingen zwischen zwei Akkorden hin und her (As-Dur, B-Dur) [3]. Dies ist eine ungewöhnliche Akkordverbindung – zu As-Dur würde man eigentlich den b-Moll-Akkord erwarten. Die Protagonistin will dem Schneemann Leben geben („Give him life“), sie will, dass er für sie lächelt („Make him smile for me“). Sie gibt ihr Blut für ihn, aber erschreckt dann über ihr Tun („My hand is bleeding / I run back inside“).
Die Protagonistin vollführt hier (ob bewusst bleibt unklar) Blutmagie. Sie gibt ihr Blut, um unbelebter Materie (hier dem Schnee, welken Blättern, Gras) Leben einzuflößen. In der Mythologie galt der Mensch als aus dem Blut der Götter erschaffen. Die symbolische Verbindung von Blut und Leben ist dabei essenziell, Blut verbindet die eigene Seele mit der eines anderes Wesens [4]. Ein allbekanntes Beispiel ist das Märchen Schneewittchen, in dem zu Beginn Blutstropfen in den Schnee fallen und damit auf Neubeginn und neues Leben verweisen [5].
Dann gibt es einen Bruch in der Stimmung, die Musik ändert sich, sie klingt nicht mehr beschwörend, es ist nun Musik, die etwas erwartet. Aus der Realität geht es in eine Welt, die unwirklich wie ein Traum erscheint. Ab „I turn off the light“ klingt auch die Stimme anders, höher, hingebungsvoll, bebend fast, wie im Angesicht eines Wunders. Die Harmonien weiten sich aus (der H-Dur-Akkord ersetzt zunehmend den B-Dur-Akkord) [4]. Akkordfolgen mit Schwerpunkten auf den Akkorden As-Dur und H-Dur bestimmen nun weite Teile des weiteres Songs. Der Schneemann erscheint zu dieser mystischen Musik. Ist es ein Geliebter? Ist es ein gewünschtes Kind? Der Text lässt das offen. Aber auf drängende Nachfragen [9] nach einem sexuellen Unterton (offenbar können viele männliche Musikjournalisten nicht in anderen Bahnen denken) ließ sich Kate Bush aber zu einer Aussage verleiten: „To that song, yeah. Yeah, because of the story that’s being told“. Man soll ja der Komponistin glauben, es handelt sich also wohl wirklich um einen unirdischen Geliebten.
Vor „So cold next to me“ gibt es eine instrumentale Passage, ein Innehalten von unwirklicher Schönheit. Die Musik kommt dann zur Ruhe, Klaviertöne fallen in die Tiefe, wie perlendes, schmelzendes Wasser. Zu „I can feel him melting in my hand / melting, melting in my hand“ wird die Musik so ruhig, dass es mir wie ein Ausdruck von Verzauberung erscheint. Die Zeit scheint für einen Moment stillzustehen. Diese Passage wird später fast genauso (fast noch intensiver) wiederholt. Einen schmelzenden Schneemann als Traumsymbol legt die allgemeine Traumdeutung als das Weichwerden eines verhärteten Herzens aus [10]. Genau das passiert hier, die einsame Protagonistin wird durch den von ihr erweckten Schneemann verzaubert, sie öffnet sich der Liebe (und der Schneemann schmilzt daran). Mit „He won‘t speak to me“ wird wieder die musikalische Gestaltung des Beginns (Realität?) aufgegriffen. Ab „Full of dead leaves“ vermischen sich die beiden musikalischen Welten. Es ist eine fast traumhafte Stimmung in der Musik, irreal, traumartig, unwirklich.
Mit Beginn der Textzeile „Sunday morning“ sind wir wieder in der Musik des Beginns, die Realität hat die Protagonistin eingeholt. Die Intensität steigert sich allmählich. Verlust und Sehnsucht sprechen aus jedem Wort und aus jedem Ton. Es klingt ein bisschen so, als ob ein Herz vor Sehnsucht pocht. Die Stimme wird immer intensiver. Die Protagonistin realisiert ihren Verlust und sie realisiert wohl auch, dass ihre Liebe den Schneemann getötet (zum Schmelzen gebracht) hat. Sie kann es vor Sehnsucht nicht mehr aushalten („I can’t find him / Misty / Oh please can you help me? / He must be somewhere“). Das Lied endet mit den Textzeilen „Open window closing / Oh but wait it’s still snowing / If you’re out there / I’m coming out on the ledge / I’m going out on the ledge“. Abrupt wird es dann ruhiger und endet. „Ledge“ übersetze ich in diesem Kontext jetzt einmal mit Fensterbrett. Draußen fällt der Schnee, will die Protagonistin sich hinausstürzen, in den Schnee hinein? Ist das ein Selbstmord, um mit dem Geliebten wieder vereint zu sein? Ein Liebestod? Das Cover des Albums „50 words for snow“ zeigt eine Frau und einen Schneemann, sie küssen sich, eingefroren und zugedeckt vom Schnee, es sieht aus wie ein Relief auf einer Grabplatte. Lebend können sie nicht zusammenkommen – der kalte Schneemann und die warme Frau. Das Ende vom „Misty“ ist für mich ein Liebestod im Schnee. Diese Deutung wird unterstützt, wenn man sich die harmonische Gestaltung anschaut und analysiert. Die verwendeten Tonarten haben gemäß Beckh [7] eine Bedeutung, die verblüffend gut dazu passt. Das Folgende ist gemäß Beckh zitiert.
Die Haupttonart scheint das As-Dur zu sein. As-Dur ist tiefste Tiefe, die dunkelste der Dur-Tonarten, die mystische Tonart. Es steht für die „Ahnung und Empfindung des kommenden Weihnachtslichts inmitten der tiefsten Jahresfinsternis“. Tiefe Innerlichkeit und Weihe verkörpert diese Tonart, es „scheinen sich weite Wunderreiche der Nacht oder geheimnisvolle Reiche des Überirdischen vor uns aufzuschließen, wir sehen uns auf einmal in mystische Tiefen des eigenen Inneren, des Innersten der Welt hineingeführt, ein Licht beginnt aufzuleuchten, wo wir bisher nur Dunkel vermuteten.“ As-Dur ist die Tonart der Nachtstücke. Bekannte Musikstücke sind in dieser Tonart geschrieben, z.B. Liszts „Liebestraum“. Alle diese Zitate klingen wie Beschreibungen der Grundstimmung von „Misty“, das ja auch eine Art Liebestraum ist.
Zu Beginn des Songs wird häufig der B-Dur-Akkord benutzt. B-Dur ist noch nicht das Licht selbst, es ist die Ahnung des Lichts, die Hoffnung des Lichts, der Glaube an das Licht, Tonart des Glaubens und der Hoffnung. Robert Schumann verwendet B-Dur als „Liebestonart“. Die Tonart steht für sichere Glaubenszuversicht, es ist die Tonart der liebenden Erwartung, der ahnenden Erwartung des Schicksals. So wird sie in „Der fliegende Holländer“ von Richard Wagner benutzt. Wagner – ein Meister in der Verwendung der Tonarten – hat die Charakteristika dieser Tonart oft herausgearbeitet. Er benutzt sie zur Darstellung des „Sterns der wahren Liebe“ im „Tannhäuser“ („Heilige Elisabeth – bitte für mich!“), der Brautchor aus „Lohengrin“ steht in B-Dur („Treulich geführt ziehet dahin, wo euch der Segen der Liebe bewahr! Siegreicher Mut, Minnegewinn, eint euch in Treue zum seligsten Paar“). In „Die Walküre“ ist es die Tonart der liebenden Erwartung („Winterstürme wichen dem Wonnemond“). Es ist Überwindung des Winters durch den Frühling der Liebe.
All das passiert auch in „Misty“. Der Winter im Herzen der Protagonistin weicht durch den Zauber einer mystischen Liebe. Schmilzt der Schneemann an dieser Liebe? Wenn er im Song auftritt, dann wird der B-Dur-Akkord durch den H-Dur-Akkord ersetzt, der zum As-Dur dazukommt. H-Dur ist nach Beckh die Vorahnung des Hinübergehens, es ist die „Verklärung“. Diese hoch über dem Irdischen liegende Tonart wird nur verwendet, wenn man damit etwas ganz Bedeutsames ausdrücken will. As-Dur ist die dominierende Tonart in Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“, der Oper schlechthin über eine verzweifelte Liebe, die im Tod endet. Es ist die Tonart der Liebesnacht und des Liebestods („Mild und leise, wie er lächelt“). Dieser Schlussgesang wandelt sich überirdisch verklärend nach H-Dur und endet in einer Apotheose in H-Dur.
Kate Bush spiegelt in „Misty“ Wagners Liebestod wieder, musikalisch und inhaltlich, für mich gibt es da keinen Zweifel. Bewusst oder intuitiv – das muss allerdings offen bleiben. Es gibt aber möglicherweise eine weitere Inspirationsquelle, die zum Song beigetragen hat. Ich zitiere den Beginn des Märchens „Schneewittchen“, der interessante Gemeinsamkeiten aufweist. „Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab. Da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Hätt‘ ich ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen! Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum Schneewittchen genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.“ [8]
Schnee, die Protagonistin an einem Fenster, Blut fällt in Schnee, ein magischer Wunsch, der Wunsch wird erfüllt, die Protagonistin stirbt – Gemeinsamkeiten mit „Misty“ sind für mich sichtbar. Aber vielleicht geht hier meine Fantasie mit mir durch, das mag am Wein und am Blick auf das Meer liegen.
Mein Fazit: „Misty“ verwebt den Liebestod aus „Tristan und Isolde“ mit märchenhafter Blutmagie (vielleicht analog zu Schneewittchen) zu einem neuen Mythos. Graeme Thomson meint, „[…] es ist die düstere Atmosphäre der Trauer, die den Song prägt“ [1]. Es ist aber auch die Geschichte einer alles überwindenden Liebe, die vielleicht doch eine Art Happy-End im Tod findet. Daher enthält „Misty“ neben unendlicher Trauer auch Hoffnung. © Achim/aHAJ
[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.413f
[2] Martin Scholz: Ich will das nicht. Berliner Zeitung. 27.11.2011
[3] https://chordify.net/chords/Kate-bush-misty-antirecords (gelesen 25.04.2018)
[4] https://www.inana.info/blog/2018/01/25/symbolik-ritual-blut.html (gelesen 03.05.2018)
[5] https://symbolonline.de/index.php?title=Blut (gelesen 03.05.2018)
[6] Andy Gill: Kate Bush: The ice queen of pop returns. The Independent. 18.11.2011
[7] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.196ff (As-Dur), S.244ff (B-Dur), S.171ff (H-Dur)
[8] zitiert nach https://www.grimmstories.com/de/grimm_maerchen/sneewittchen_schneewittchen (gelesen 03.05.2018)
[9] John Doran: A Demon In The Drift: Kate Bush Interviewed. The Quietus. 13.11.2011 [10] https://traum-deutung.de/schneemann/ (gelesen 25.04.2018)
2 Kommentare
Ich sehe es vor mir ….
„Draußen fiel der Schnee. Kate Bush unterbrach die Arbeit an „Director‘s Cut“. Sie dachte kurz wieder daran, auch von „Wuthering Heights“ eine Neufassung anzugehen – aber das müsste dann etwas ganz Neues sein, auf den Kopf gestellt. Sie konnte dieses Lied aus ihrer Jugend nicht mehr hören.
Sie sah aus dem Fenster hinaus in das Weiß. Noch war es hell, genug Zeit, mit ihrem Sohn einen Schneemann zu bauen. Es war ein Spaß, in der Dämmerung so im Schnee zu spielen. An einem Zweig verletzte sie sich leicht an der Hand, die kleinen Blutstropfen sahen im weißen Schnee fast schön aus. Mutti, der Schneemann schaut mich an als ob er lebt, Bertie war begeistert. Ab ins Bett, mein Sohn, vielleicht besucht uns der Schneemann heute Nacht. Vor dem Schlafengehen las Kate Ihrem Sohn dann noch das Märchen Schneewittchen vor, das er so liebte. Schnee und Blutstropfen, was für eine passende Geschichte, dachte Kate.
Später, in der Oper, versetzte sie die Musik von „Tristan und Isolde“ fast in Trance, es war wie Hypnose. Die Musik verdämmerte im Liebestod, unendlich zart, unendlich bewegend – und in Kate Bushs Kopf fügte sich alles zusammen, zu einer Idee, ja, verrückt, aber bezwingend schön.“
mir schoss nach dem lesen der analyse von achim noch ein ganz anderer gedanke durch den kopf (wenn man schon bei fantasie und analogien ist):
halbwirkliche wesen, ein fenster öffnet sich, beschwörender text, verlust, sehnsucht, ein pochendes herz, ein selbstmord, um mit dem geliebten wieder vereint zu sein, das relief auf einer grabplatte – hätte achim geschrieben, dass der schneemann nicht „misty“ sondern „heathcliff“ heißt und die geschichte neu unter anderen vorzeichen erzählt wird, hätte mich das nicht verblüfft.