Eine gespenstische Szenerie war das, als mir diese sechs Minuten und zwölf Sekunden zum ersten Mal begegneten, der Song, der mir von allen aus Kates Werk bis heute am meisten bedeutet. Ich war siebzehn, mit ein paar Kumpels hatte ich gerade eine Nachtwanderung unternommen, in tiefer Nacht stiegen wir ins Auto und fuhren Richtung Tal zurück. Jemand stellte das Kassettenradio an, und während draußen im schemenhaften Licht die Baumkronen vorbeizogen, ertönte dieser unfassbare Chor. „Was ist das?“, fragte ich sofort entgeistert. „Das ist die neue Kate Bush-Platte“, meinte der Freund. „Kann nicht sein“, entgegnete ich. Bis dahin kannte ich nur die Klangwelten entfernte Singleauskopplung „Running Up That Hill“. Doch da begann die zweite Strophe und ich hörte ihre Stimme. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass mir seitdem vielleicht nie mehr bei einem Hörerlebnis so die Haare zu Berge standen.„Hello Earth“ weitet innerhalb von „The Ninth Wave“ die Sphäre des Persönlichen zum Kosmischen. Man kann die Suite ja nicht nur als konkreten Zeitstrahl lesen, als die Nacht einer Ertrinkenden im Wasser. Kate hat hier ein vielschichtiges Psychogramm entworfen, spielt mit dem Schwebezustand zwischen Leben und Tod, liefert sich ein Pingpong mit dem Dies- und Jenseits. Dabei bieten sich viele Deutungen an, ganz gleich, ob die Erzählerin nun tatsächlich über Bord gegangen ist, oder auch das nur träumt. Ist das, was bis „Jig Of Life“ geschehen ist, Traum, Halluzination bei einer Schlaflähmung, Nahtoderlebnis, eine Art „Totenbuch“ à la Bush? In „Hello Earth“ jedenfalls gewinnt das Jenseits an Einfluss. Die Stimme, die da singt, ist ganz weit hinauskatapultiert ins kalte All, was schon durch die NASA-Funksprüche signalisiert wird (die auch schonmal kurz in „And Dream of Sheep“ reingemischt wurden und wohl von der Landung des Space Shuttle Challenger 1983 stammen müssen).[1] Die Sängerin scheint ganz abgeklärt zu sein, hat sich abgefunden mit der Loslösung von der Erde, die fast liebevoll als Spielzeug, wie eine Murmel betrachtet wird. „Peek a boo, peeak a boo, little earth.“ Kate ist ganz alleine da draußen, und das ist auch grandios eingefangen auf musikalischer Ebene, denn sie sitzt ja zunächst allein am Piano, viel Hall um sie herum. Ein großer Balladenmoment, der auf der Achse von „The Man…“ bis „Moments Of Pleasure“ einen Ehrenplatz einnimmt.
Doch dann, wie so oft in „The Ninth Wave“, wechselt die Perspektive ein ums andere Mal. Erst in ein rührendes Bild: Die Protagonistin fährt nach Hause, mit der schlafenden Erde auf dem Rücksitz. Eine tiefe Liebe zum Planeten kommt da zum Ausdruck, eine Liebe von jemandem, der wohl weiß, dass er seine Heimat verlassen muss. Man denkt fast an die wehmütigen Gefühle, die Gustav Mahler hatte, als er todkrank „Das Lied von der Erde“ komponiert hat. Das Orchester setzt ein, dazu sehr langsam eine rhythmische Stütze von Stuart Elliotts Drums. Sein Kollege Charlie Morgan erzählt, wie schwierig es für Stuart gewesen sei, den Takt zu finden, denn Kate hatte ihren Part zuvor ohne Click-Track auf den Ohren frei eingespielt und -gesungen.[2] Und es wird sehr cinemaskopisch: Unter dem großen Nachthimmel, dem „big sky“ steht die Sängerin und beobachtet wie ein großes Licht näher kommt. Außerirdische? Eine Antwort auf das „little light“, das in „And Dream of Sheep“ die ganze Suite eröffnet und das – wie man in „Before The Dawn“ sehen konnte – aus ihrer Rettungsweste blinkt? Das würde dem Titel „Hello Earth“ noch eine ganz andere Bedeutung geben.
Und nun passiert einer der fantastischsten Stimmungswechsel der Popmusikgeschichte. Man kann da vielleicht erst mal draufschauen, was da harmonisch passiert. „Hello Earth“ beginnt mit einem Motiv aus drei Akkorden, das sich latent durchs ganze Album ziehen, „Cloudbusting“ und „And Dream of Sheep“ beruhen auf dem Motiv, in „R.U.T.H“ steckt es auch drin, allerdings in einer anderen Tonart. Doch dann kommt ein Sprung von cis-moll nach F-Dur. [3] Funktionsharmonisch gibt es da keinerlei Verwandtschaften, die Tonarten sind einen Tritonus voneinander entfernt, das Intervall, das Jahrhunderte lang als „Diabolus in musica“ galt.Der Effekt muss also naturgemäß für unsere Hörgewohnheiten gewaltig sein. Er bedeutet den Wechsel in ein radikal Anderes, den Einbruch des Jenseitigen. Verstärkt wird das natürlich nochmals dadurch, dass Kate hier einen Chor in einer fremden Sprache sprechen lässt.
Immer, wenn Kate etwas aus dem Fernsehen aufgeschnappt hat und unbedingt in ihr Universum einbauen wollte, hat das den betreffenden Song zu einem magisch funkelnden Ding gemacht: So geschehen mit „Wuthering Heights“, mit „Delius“, mit „The Red Shoes“, oder eben auch hier. Wie sie mehrfach bekräftigt hat stieß sie auf diesen Chor, als sie Werner Herzogs „Nosferatu“ (1978) schaute. Er wird in der Szene gegen Ende eingeblendet, als die Pest Wismar überrollt hat und Isabel Adjani über einen Platz irrt, auf dem Särge stehen, Leute den Veitstanz vollführen, ihr Henkersmahl nehmen und schon die Ratten das Zepter übernommen haben. Herzog spielt gerne mit dem Bruch zwischen Bild- und Tonspur, und hier konfrontiert er die orgiastische Aushebelung des normalen menschlichen Alltags (visuell) mit dem ruhig vorgetragenen akustischen Signal einer fremden Macht / Welt (akustisch). Nicht nur fremd, ja, gruselig wirkt dieser Chor auf mich. Sowohl bei Kate als auch wenn ich „Nosferatu“ schaue, und es geht vielen so, mit denen ich über das Stück gesprochen habe. Die Bühnenumsetzung bestätigt, dass der Chor auch für Kate „haunting“ ist: Zu den Chorklängen tragen sie die „fish people“ von der Bühne weg in ihr (Toten-)Reich.
Im Original allerdings ist diese Wirkung gar nicht beabsichtigt. Denn ursprünglich ist es ein georgisches Traditional namens „Tsintsqaro“ (es gibt verschiedene Schreibweisen in der Übertragung) aus den Regionen Kartlien und Karchetien. Der Text ist zarte Liebeslyrik: „Ich wanderte an der Quelle entlang und traf ein schönes Mädchen, das hielt einen Krug auf ihrer Schulter. Ich sagte etwas zu ihr und sie war empört, ging zur Seite.“[4] Es wäre also wahnsinnig spannend, von jemandem aus Georgien zu erfahren, wie er mit seinen/ihren anderen Hörgewohnheiten und dem Verständnis des Textes „Hello Earth“ rezipiert! Für Kate selbst war es nicht so wichtig, wo dieser Chor denn geographisch anzusiedeln ist. Im Abbey Road-Interview von 1985 kommt sie kurz in Verlegenheit, ob das denn nun ein „czechoslovakian or russian theme“ sei. (Zur Erinnerung: Wir sind hier ja noch vor dem Zusammenbruch des Ostblocks!) Im Hintergrund flüstert ihr jemand dann „russian“ zu, wahrscheinlich Paddy.[5]

















1 Kommentar
Ganz hervorragend – Du wirfst einen tiefen Blick hinein in diesen hochemotionalen Song!