Die Welt ringsum bricht zusammen, es gibt keinen Halt, nur Chaos. „I feel that life has blown a great big hole through me“ singt Kate Bush fast verzweifelt klingend in „Lily“. Präziser kann dieses Gefühl kaum beschrieben werden.
In der Zeit der Entstehung des Albums „The Red Shoes“ gab es schwerwiegende Ereignisse im persönlichen Umfeld. Die Mutter von Kate Bush starb an Krebs, Freunde starben. Die Erschütterung durch den Tod der Mutter war so stark, dass Kate Bush die Arbeit monatelang unterbrechen musste. Den Albumhintergrund bilden Verluste, Verluste von Personen und Illusionen. Eine Suche nach Halt ist zu spüren, eine Suche nach Beistand, eine Suche nach Richtung, nach einem Ausweg. Das Album kommt aus einer Welt, die in Scherben liegt. Die Störung in der Beziehung zu ihrem langjährigen Lebenspartner Del Palmer deutet sich in den Liedern schon an, das Motiv der Trennung und der verlorenen Liebe kommt in mehreren Songs vor. Auch in „Lily“ geht es um Verlust, Einsamkeit, Suche nach Wärme und Nähe, um Suche nach Hilfe, Schutz und Unterstützung.
„Lily“ beginnt damit, dass die ruhige und gelassene Stimme einer alten Frau ein Gebet sprich. Die alte Frau ist Lily Cornford von der Maitreya School of Healing – eine „Heilerin“, die Kate Bush gelegentlich konsultierte [1]. Ganz eindeutig ist dieser Song dieser Frau gewidmet, das drückt schon die Namensgleichheit aus. Das Gebet selbst ist das sogenannte Gayatri Mantra. Dieses vedische Mantra ist für viele Hindus das tägliche Gebet, das sich jedoch nicht an eine personale Gottheit wendet, sondern an die Sonne als sichtbare Repräsentation des Höchsten. Neben der Lobpreisung enthält es die Bitte um geistige Erleuchtung [2]. Zitiert wird es in einer variierten Fassung, die auf der englischen Übersetzung von William Quan Judge aus dem Jahr 1893 basiert [3].
Hinter diesem Gebet sind im Hintergrund ganz leise Töne zu hören. Es klingt unheimlich, nicht identifizierbar, bedrohlich, verzerrt, wie aus einem Horrorfilm. Monster huschen schattenhaft vorbei – das war meine Assoziation beim Hören mit größerer Lautstärke. Dazu erklingt eine vage Musik, nur einzelne Töne sind zu hören, ebenfalls an einen Horrorfilm erinnernd. Die Stimmung dieses Hintergrundes hat mich jetzt beim Wiederhören ganz stark an „Blair witch project“ und die durch diesen Film erzeugte Stimmung erinnert. Vor diesem Hintergrund aus Horror bildet das Gebet einen Ruhepol. Es ist so, als ob die ruhige und gelassene Stimme der Heilerin die Monster zurückhält und einen geschützten Raum aus Sicherheit, Wärme und Zuversicht bildet. Diese Einleitung „explodiert“ dann förmlich in dem dann folgenden eigentlichen Song. Ein drängender, vorantreibender Rhythmus übernimmt und bestimmt den ganzen Rest des Liedes. Es ist ein tänzerischer, fast ekstatischer Rhythmus. Jovanovic [4] beschreibt dies als „einen funkigen Beat […], der beinahe in Richtung Hip-Hop tendierte. Der Song wurde allerdings quasi live von der Band eingespielt“. Del Palmer gibt dazu nähere Erläuterungen: „This is another track where the original bass and drums had to lie re-done at a later stage because the feel had changed almost to a hip-hop style“ [5].Ein Schalter wird umgelegt im Lied. Wenn der erste Teil eine Erinnerung war, ein Wunschtraum – jetzt sind wir in der Realität. Die zurückgehaltenen Monster der Gegenwart sind präsent und geben den Takt vor.
Vier Akkorde bestimmen das ganze Lied und werden fast beschwörend wie ein Mantra eingesetzt – g-Moll, F-Dur, c-Moll und Es-Dur. Der Gesang – immer aus der Sicht der Protagonistin – durchläuft dabei mehrere Phasen. „In den Strophen sehnsuchtsvoll, die Überleitung wird dann mit tiefer Stimme gesprochen, der Refrain war aufrüttelnd und gewaltig gestaltet [4]“.
Mit „Well I said […]“ beginnt die erste Strophe. Die Haupttonart ist wohl g-Moll, g-Moll-Akkorde wechseln sich mit F-Dur-Akkorden ab [6]. G-Moll symbolisiert nach Beckh [7] ein frühes Verzagen, ein zu frühes Aufgeben der Hoffnung. In der Zauberflöte von Mozart bestimmt es die Klage der Pamina. Seelenfinsternis spiegelt sich in dieser Tonart wieder. In Wagners „Tristan und Isolde“ steht es für Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Wie so oft bei Kate Bush sagt die Tonart schon aus, worum es geht. Der F-Dur-Akkord kommt dazu – die fromme. religiöse, ätherische Tonart, die Naturtonart, die typische Tonart der Choräle [7]. Verzweiflung in der realen Welt und Schutzsuche in einer überirdischen Welt mischen sich.
Dann erinnert sich die Protagonistin an den Rat der Heilerin: „And she said ‚Child, you must protect yourself. I’ll show you how with fire'“. Zu Beginn des Zitats der Heilerin (ab „Child […]) wechselt die harmonische Welt zu c-Moll-Akkorden [6], dies steht laut Beckh [7] für die Verwurzelung auf dem Boden, für Stärke und Vertrauen.
Mit „Gabriel before me […]“ setzt dann das Anrufen von Schutzmächten ein. Während dieser Engel-Beschwörung kommen Es-Dur-Akkorde – die Paralleltonart zu c-Moll – dazu [6]. Die Protagonistin kämpft sich mit Hilfe der Erzengel hervor aus dem Dunkel. Es-Dur hat einen kämpferischen, heroischen Charakter, es steht für die Wiederaufwärtswendung zum Licht, ist stark und positiv [7]. „Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht“ heißt es in dieser Tonart im Schlusschor der Zauberflöte, Es-Dur ist die Tonart der Feier [7].
Mit zwei Tonarten (g-Moll und Es-Dur) wird auf die Zauberflöte verwiesen. Auch in dieser Oper geht es um Magie, um ein sich Herauskämpfen aus der Dunkelheit. Leider finden sich bei Kate Bush keine Aussagen dazu, ob dies ein bewusster Verweis ist oder eine ähnliche harmonische Gestaltung aus ähnlichen Empfindungen heraus. Eine Akkordgestaltung aus c-Moll und Es-Dur findet sich aber auch in „The Fog“. Dort steht c-Moll für die Sicherheit, die der Vater gibt und Es-Dur ebenfalls für das Herauskämpfen aus einer schwierigen Situation.
Während der Anrufung der Erzengel sind im Hintergrund Töne wie aus einer Beschwörung zu hören. Ein merkwürdig mystisch klingendes Instrument erklingt, unweltlich und fast unirdisch. Paddy Bush spielt hier eine Fujara, ein aus dem slawischen Raum stammendes Instrument [4].
Der zweite Abschnitt „I said […]“ ist dann etwas ruhiger, die Unsicherheit hat sich etwas gelegt, die erste Beschwörung wirkt offenbar. Die Anrufung wird dann wiederholt, insgesamt erklingt sie dreimal. Zwischen den beiden Wiederholungen zum Schluss gibt es fast fröhliche kurze Gesangsausbrüche der Befreiung. Die Protagonistin schnurrt wie eine große Katze. Sie kämpft sich empor ans Licht.
Die tänzerische Stimmung wird durchgängig beibehalten und das Ende von „Lily“ kommt dann fast abrupt, ohne eine richtige Auflösung. Es ist eindeutig ein Schlusspunkt, ein „so – das war es!“.
Es wurde gemutmaßt, dieser Song sei das kaum verhohlene Eingeständnis, dass Bush eine weiße Hexe sei [4]. Auch im Internet wurde darüber intensiv diskutiert und auch darüber, dass die Erzengel in einer falschen Reihenfolge angerufen wurden und warum das so sein könnte. Kate Bush gibt aber den klaren Hinweis, dass solche Passagen nicht Wort für Wort auf Geheimnisse zu untersuchen sind. „People seem to read a more ethereal dreaminess into my lyrics. I like messages in songs that are much more based in reality.“ [8]
Aber das Lied zitiert eindeutig magische Elemente – nicht im exakten Sinne, sondern im Sinn des Hervorrufens eines bestimmten atmosphärischen Kontextes. Die dreimalige Anrufung der Erzengel ist in der Magie gebräuchlich. Das dreimalige Wiederholen kommt auch in vielen Märchen vor (drei Wünsche usw.). Die dreimalige Wiederholung eines Zaubers ist häufig (es dient der Bestätigung). Auch in der Bibel wird die Zahl drei im Sinne von „ganz bestimmt, sicherlich“ benutzt. Jesus wird nach drei Tagen auferstehen, zur Unterstreichung werden Aussagen oft dreimal wiederholt [9].
Die vier Erzengel selbst stehen für spezielle Schutzbedürfnisse [10]. Gabriel ist der Beschützer der Familie und die Stärke Gottes – er geht voraus. Michael mit dem Lichtschwert steht rechts, er ist der Führer in eine neue Zeitepoche und führt in die erhoffte Selbstbefreiung. Uriel zur Linken als Licht Gottes soll die Finsternis erhellen und den Weg weisen. Am Schluss Raphael als Arzt Gottes, der die erlittenen Verletzungen heilt. Im Film „The Line, The Cross and the Curve“ laufen sie genauso angeordnet. Das finstere Monster wird dort überschritten und zurückgelassen. Am Ende geht Kate Bush ihren Weg ohne die ständige physische Präsens der Engel weiter [10].
Die Fassung von „Lily“ auf „Director’s Cut“ mit Mica Paris fügt dieser Deutung nicht viel Neues hinzu: Jovanovic meint, dass diese Version „sehr an die ungehemmten Zeiten von ‚Violin‘ erinnert“ [4]. Offenbar sind die ausgedrückten Gefühle immer gegenwärtig geblieben. „Lily“ war dann auch das Auftaktlied zu den „Before the dawn“-Konzerten. Das mag an der ungehemmten Energie dieses Songs liegen – aber vielleicht auch an der Bedeutung. Mit diesen Konzerten werden die Dämonen ausgetrieben, das Konzert ist eine rituelle Handlung, „Lily“ ist das Mantra für den Kampf mit den Dämonen der Unsicherheit und des Zweifels. Der Song hat etwas wirklich Tröstendes und Befreiendes. Vielleicht könnte man dieses Lied therapeutisch nutzen – die Gefühle dürften keinem Menschen fremd sein. (© Achim/aHAJ)
[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.321 und S.349
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Gayatri_Mantra (gelesen 26.05.2017)
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/Gayatri_Mantra (gelesen 26.05.2017)
[4] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.183
[6] Kate Bush: Songbook „The Red Shoes“. International Music Publications Limited. Woodford Green 1994. S.48ff
[7] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.248ff (g-Moll), S.148ff (F-Dur), S.123ff (c-Moll, Es-Dur)
[8] Tom Moon: A Return to Innocence. Philadelphia Inquirer. Januar 1994
[5] Del Palmer on Kate Bush: Well red. Future Music. November 1993
[9] https://anthrowiki.at/Numerologie (gelesen 19.05.2017)
[10] „Dreamin` Architect“ auf „http://www.carookee.com/forum/Kate-Bush/110/9315118.0.30115.html?p=3#tm (gelesen 16.03.2009)“
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