
Faszination geht von diesem kleinen Song aus. Dies zeigt sich schon daran, dass Graeme Thomson seine Biographie nach ihm benannt hat. Veröffentlicht wurde er 1985 als B-Seite der Single „Running up that hill“ [1]. Aufgenommen wurde er an einem Nachmittag, wie Kate Bush selbst gesagt hat: „Under the Ivy we did in our studio in just an afternoon.“ [2] In Fan-Kreisen gilt er als einer ihrer größten Songs.

Was macht diese Faszination aus? Für mich ist ein ganz starker Grund die Offenheit, die er erlaubt. Im Text [3] wird ein Geheimnis erwähnt („And it’s not easy for me / To give away a secret“), die Handlung hat etwas fast Verschwörerisches – dies wird aber nicht aufgelöst. „Under the ivy“ ist ein Rätsel, das nicht erklärt wird und das daher auf ganz verschiedene Arten interpretiert werden kann. Wie man am Ende dieses Beitrags feststellen muss – alle davon sind auf ihre Art stimmig. Ein großer Song kann gewagte Interpretationen vertragen – der Leser sei vorgewarnt!
Um zu Deutungen zu kommen ist es nötig, zuerst einmal die Fakten darzustellen (sowie die sich von Interpretionen trennen lassen, was schwierig ist). Das Klavier begleitet Kates Gesang, zart und zurückhaltend. Die Stimmung ist traurig, es klingt wie eine Erinnerung, es wird im Verlauf immer emotionaler und trauriger. Die erste Strophe und der erste Refrain sind ganz ruhig. Das „for me“ zum Schluss des Refrains wird von einem von Kate gesungenen Chor herausgerufen. Es klingt wie ein fernes Echo, fast geisterhaft, unwirklich. Die zweite Strophe ist dann bewegter und emotional. Der Tonfall ist manchmal fast verzweifelt, weinend („And it’s not easy for me / To give away a secret“). Der zweite Refrain ist dann wieder ruhiger. In der folgenden Wiederholung des Refrains (mit neuer Schlusszeile „I’ll be waiting for you“) wird es dann hochemotional im Ausdruck. Die Gesangsstimme erscheint verdoppelt, ein dunkler Schatten singt mit. Der Song klingt dann in einer kurzen Coda wieder ganz ruhig aus („It wouldn’t take me long / To tell you how to find it“).
G-Moll ist die Grundtonart, in der der Song notiert ist. Sie leitet die Strophen ein, Dur-Akkorde setzen sie jeweils fort. Es gibt F-Dur-Akkorde (z.B. auf „long“, inside me“, „under the ivy“, „away from the party“, „right to the white rose“), daneben auch B-Dur-Akkorde und Es-Dur-Akkorde [3].
Kate Bush hat ein fantastisches Gespür für die Verwendung von Tonarten. Nähern wir uns daher nun den Interpretationen auf dieser Ebene (im Folgenden beziehe ich mich auf Beckh [4]). G-Moll steht für Schmerz, Hoffnungslosigkeit, eine der liebenden Seele entquellende tiefe Todestrauer. B-Dur ist die Dur-Parallele zu g-Moll – wie so oft bei Kate Bush pendeln Songs so hin und her – und holt die Ahnung des Lichts, die Hoffnung des Lichts, den Glauben an das Licht hervor. Es ist die Waldestonart, es ist naturhaft, ein abgedunkeltes F-Dur. B-Dur ist „Der Stern des Glaubens, des Hoffens, der Liebe“. F-Dur ist die Natur-Tonart, die Stimme der Natur schlechthin. Mit Es-Dur haben wir die Tonart vor uns, die aus der Tiefe des Abgrunds wieder emporführt. Sie ist der Hoffnungsstrahl, das sich Emporkämpfen, das Heroische.
Die Tonarten sprechen also von Liebestrauer, von Todestrauer, vom Vergehen in der Natur, aber auch von einer gewissen Hoffnung. Dies ist zur Traurigkeit und Emotionalität des Textes kohärent.
Beim ersten Hören dieses Liedes erschien mir klar, dass es hier um den Tod geht. Viele teilen diese Interpretation und sie liegt auch nahe. Das Lied ist unfassbar traurig und bewegend. Die Sehnsucht nach der verlorenen Jugend klingt durch („This little girl inside me / Is retreating to her favourite place“). Die Protagonistin singt von einem Platz unter dem Efeu – einer Pflanze, die sich als Symbol des ewigen Lebens häufig auf Friedhöfen findet [5]. Unter dem Efeu scheint ein Grabstein zu liegen: „The green on the grey“. Liegt hier eine Person begraben, die sich nach dem Leben zurücksehnt („Away from the party“)? Diese Party war vielleicht das Zusammensein nach dem Begräbnis. Singt hier ein ruheloser Geist, der sich in dem von fern rufenden Chor „for me“ ausdrückt? Wurde die Protagonistin ermordet oder hat sie gar Selbstmord begangen? Auf diese zweite Möglichkeit könnte der Schluss des Liedes hindeuten: „It wouldn’t take me long / To tell you how to find it“ (so meinen jedenfalls einige Interpreten wie in [6] und [7]). Die Protagonistin sehnt sich nach einer geliebten Person – so ein Griff aus dem Totenreich in das Reich der Lebenden weist zurück auf „Wuthering Heights“ mit einer ähnlichen Thematik. Selbstmord – das kennen wir auch aus „The kick inside“. Der verzweifelte Tonfall und der nicht explizit angesprochene Tod – das deutet auf „Mrs. Bartolozzi“. Der Efeu weist auch zurück auf das Cover des Albums „The Dreaming“ und illustriert dort eine Szene aus dem Song „Houdini“. Auch in diesem Song ging es um Tod, Erinnerung und Wiederkehr.

Die Tonartencharakteristiken stützen diese Deutung und man könnte es dabei belassen und sich ein bisschen wundern, warum Kate das alles so verklausuliert nur andeutet. Aber dies kennt man ja von dieser Sängerin. Als Kate Bush in einem Interview [6] auf diese Selbstmordhypothese angesprochen wurde, reagierte sie etwas verdutzt. „Well, I think…uh, it… perhaps you are reading much more into it than was originally intended when I wrote it. It’s very much a song about someone who is sneaking away from a party to meet someone elusively, secretly, and to possibly make love with them, or just to communicate, but it’s secret, and it’s something they used to do and that they won’t be able to do again. It’s about a nostalgic, revisited moment.“ Die Interpretation als Lied aus der Welt der Toten war also jedenfalls „originally“ nicht angedacht. Sie mag aber unterbewusst mitgespielt haben. Sie ergänzte dann auf die Frage, warum das Lied so traurig sei noch Folgendes: “ I think it’s sad because it’s about someone who is recalling a moment when perhaps they used to do it when they were innocent and when they were children, and it’s something that they’re having to sneak away to do privately now as adults.“
Diese zweite Interpretation – von Kate Bush selbst ins Spiel gebracht – geht also davon aus, dass es sich hier um ein geheimes Treffen zweier Personen handelt. Dieses Treffen findet an dem Rückzugsort der Protagonistin aus der Kindheit statt („This little girl inside me / Is retreating to her favourite place“). Das ist ein geheimer Ort, der nicht jeder Person mitgeteilt wird („And it’s not easy for me / To give away a secret“). Das oben angeführte Interview enthält die einzigen Aussagen von Kate Bush zu diesem Song, die ich finden konnte. Sie spricht davon, dass diese Treffen etwas waren, was die beiden Personen früher als Kinder in aller Unschuld machten durften, jetzt als Erwachsene aber nicht mehr. Die weiße Rose („Go right to the white rose“) ist ein Symbol für Unschuld, Reinheit, Treue oder Entsagung [8]. Es gibt also ein von Kate Bush zugestandenes Geheimnis in diesem Song, aber es wird nicht aufgeklärt. Das öffnet Tür und Tor, genau daran weitere Interpretationen aufzuhängen. Es kann natürlich sein, dass die Personen ganz einfach anderweitig verpartnert sind und da wäre die Situation schon traurig genug. Aber vielleicht dürfen sie sich jetzt nur ganz heimlich treffen, weil es sich um so etwas wie Inzest handelt? Unschuldig als Kinder, nicht mehr unschuldig als Erwachsene. In „The kick inside“ führte das zum Selbstmord, daher sind diese beiden ersten Interpretationsmodelle vielleicht nicht so weit auseinander.
Der Efeu unterstützt dies durch seine Symbolik. „Da der Efeu nicht bestehen kann, ohne sich anzuschmiegen, ist er seit alters her auch Sinnbild für Freundschaft und Treue. Schon im Altertum war diese immergrüne Pflanze Sinnbild der Treue und des ewigen Lebens, im alten Griechenland erhielt ein Brautpaar einen Efeuzweig als Symbol immerwährender Treue.“ [5]
Die dritte Interpretation nimmt diese Sinnbilder von Freundschaft und Treue auf. Die Frage, wer da aus dem Efeu am geheimen Platz der Kindheit hineinruft in das Erwachsenenleben, kann auch noch anders beantwortet werden. Dieser Platz liegt da, wo die weiße Rose blüht: „Go right to the white rose“. Kann es eine unsichtbare Freundin sein, die hier ruft? Kinder sprechen oft mit unsichtbaren Freunden, die dann irgendwann verschwinden, wenn die Kinder erwachsen werden. Aber warum ist dann diese unsichtbare Freundin so unfassbar traurig?
Im englischen Forum [7] fand sich dazu ein Hinweis. Es gibt ein Märchen von Astrid Lindgren – „Allerliebste Schwester“ [Allrakäraste Syster], erschienen im Jahr 1967, auch ins Englische übersetzt. Die folgende Inhaltszusammenfassung ist aus [9] übernommen.
Das kleine Mädchen Barbro wohnt mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder in einem Haus mit Garten, in dem sie mit ihrem Plüschhund spielt. Sie hat bald Geburtstag und wünscht sich sehnlich einen richtigen Hund. Davon wollen die Eltern aber nichts wissen. Barbro hat ein Geheimnis: Sie hat eine Zwillingsschwester, die im Goldenen Saal regiert, zu dem Barbro durch ein Loch hinter dem Rosenbusch „Salikon“ im Garten gelangen kann. Ihre Schwester heißt Ylva-Li und nennt Barbro „allerliebste Schwester“. Sie umsorgt sie, wenn Barbro zu Besuch ist und sieht ihr sofort den Kummer an, wenn Barbro traurig ist. Mit Ylva-Li verbringt Barbro eine märchenhaft schöne Zeit: im Goldenen Saal essen sie Pfannkuchen in Gesellschaft der vielen Tiere, unter anderem zweier schwarzer Pudel, die Ruff und Duff heißen. Schließlich vertraut Ylva-Li ihrer Schwester an, dass sie tot sein wird, wenn Salikons Rosen verwelkt sind. Verzweifelt läuft Barbro wieder nach Hause. Am nächsten Tag, ihrem Geburtstag, wird sie von einem kleinen schwarzen Pudel geweckt – dem Geburtstagsgeschenk der Eltern. Als sie mit ihrem Hund Ruff in den Garten geht, sieht sie, dass die Rosen verwelkt sind.
Auch diese dritte Interpretation erscheint schlüssig. Es geht um Kindheit, geheime Plätze, Dinge, die man als Erwachsene nicht mehr tut. Der Zugang zu diesem Geheimnis liegt hinter dem Rosenbusch. Das Lied ist deswegen so traurig, weil die Kindheitsfreundin tot ist, sie liegt unter den Steinen unter dem Efeu begraben. Das „for me“ wäre auch hier ein Ruf aus der Welt der Toten. Dieses Märchen war in England zugänglich – vielleicht kennt Kate Bush es aus ihrer Jugend.

Hier wäre noch zu erwähnen, dass sich die weiße Rose auf dem Cover des nächsten Albums „The Sensual World“ wiederfindet. Ein Thema des Titelsongs ist da das Heraustreten aus der literarischen Welt in das wirkliche Leben.
Als ich den Namen des Rosenstrauchs erforschte (das Wort Saliko gibt es in Esperanto, es bedeutet „Silberweide“ [10], hergeleitet vom lateinischen Salix), fügten sich in meinem Kopf plötzlich noch weitere Puzzlesteine zusammen zu einer vierten Interpretation. Noch überhaupt nicht berücksichtigt in einer Deutung wurde die schattenhafte Stimme, die den Gesang der Protagonistin zum Schluss begleitet. Dieses Stilmittel der von einem Schatten begleiteten Gesangsstimme wurde in „The infant kiss“ für Besessenheit benutzt (siehe hier im Song-ABC der dazugehörende Beitrag). Im zugrunde liegenden Film [11] sieht die Heldin – sie betreut zwei Kinder, Miles und Flora – scheinbar als einzige wiederholt geisterhafte Erscheinungen eines Mannes und einer Frau, Miss Jessel. Miss Jessel ertränkte sich (schwanger?). In der Heldin keimt der Verdacht, die Geister der Verstorbenen hätten Macht über die Kinder erlangt. Sie beharrt gegenüber Flora darauf, diese sei von Miss Jessels Geist besessen, bis das Mädchen einen hysterischen Anfall erleidet.
Zu Beginn des Films erklingt [12] – offenbar von Miss Jessel gesungen – das Lied „O Willow Waly” (“We lay my love and I, beneath the weeping willow. But now alone I lie and weep beside the tree. Singing “Oh willow waly” by the tree that weeps with me. Singing “Oh willow waly” till my lover return to me. We lay my love and I beneath the weeping willow. A broken heart have I. Oh willow I die, oh willow I die…”) . Willow – das ist die Weide.
Singt in „Under the ivy“ also die erwachsene Flora und sehnt sich nach Miss Jessel? Ist Miss Jessel die rätselhafte Begleitstimme – so wie es ähnlich in „The infant kiss“ als Stilmittel benutzt wurde, dort für die Besessenheit des Jungen? Liegt Miss Jessel begraben unter dem Efeu hinter dem Rosenbusch „Salikon“? Wird hier ein zweiter Teil der Geschichte aus „The infant kiss“ erzählt?
Vier Interpretationen – keine Wahrheit. Vier Interpretationen, die ineinander greifen und sich überlagern wie die Blütenblätter einer Rose. Vier Interpretationen – nur Geheimnisse. Je tiefer man in „Under the ivy“ eindringt, desto geheimnisvoller wird dieser Song. So viele Seelen können sich in seiner Dunkelheit spiegeln. Vielleicht ist er deswegen voller nicht bewusst heineinkomponierter Assoziationen, weil er so schnell aufgenommen und nicht lange „geplant“ wurde. Mit seinen Anklängen an die Themen und Symbole anderer Songs bildet er ein Assoziationszentrum im Bush-Universum. Besonders bemerkenswert finde ich es dabei, dass er mit seinen Hauptsymbolen Efeu und weiße Rose Bezug nimmt auf die Cover der Alben vorher und nachher.
Es ist schade, dass dieses Juwel nicht auf ein reguläres Album gekommen ist, er hätte es von der Qualität her voll verdient. Zum damals aktuellen Album „Hounds of Love“ passte er wohl nicht in der Stimmung, er wäre ein dunkler Fremdkörper gewesen. Aber er hat auch zum Glück so den Weg in die Herzen gefunden. (© Achim/aHAJ)
[1] http://www.katebushencyclopedia.com/under-the-ivy (Gelesen 10.02.2017)
[2] Peter Swales. Musician (ohne Titel), Herbst 1985
[3] Kate Bush Complete. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.161
[4] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.245ff (B-Dur), S.259f (g-Moll), S.124 und 128 (Es-Dur), S.149ff (F-Dur)
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeiner_Efeu (gelesen 08.02.2017)
[6] Doug Allen: Love-Hounds Interview. November 1985
[7] http://thehomegroundandkatebushnewsandinfoforum.yuku.com/topic/9091/Under-the-Ivy-whats-it-about#.WJmfaXr-OQg (gelesen 07.02.2017)
[8] www.blumen-versender.com/weisse-rosen.php (gelesen 08.02.2017)
[9] http://www.kinderundjugendmedien.de/index.php/filmkritiken/144-allerliebste-schwester-ein-schwermuetiges-und-bewegendes-maerchen (gelesen 07.02.2017)
[10] http://www.majstro.com/woerterbuecher/Esperanto-Deutsch/saliko (gelesen 10.02.2017)
[11] http://de.m.wikipedia.org/wiki/Schloß_des_Schreckens (gelesen 24.03.2015)
[12] http://www.imdb.com/title/tt0055018/quotes (gelesen 01.04.2015)
Neueste Kommentare