Das Song-ABC: Eat The Music

Dieser Song ist ein Rätsel und hat Zuhörer und Kritiker in Verwirrung gestürzt. Ist das eine leichte, aus allen Fugen geratene Fröhlichkeit oder ist das Maskerade? Ist das ein vordergründig erotischer Text, in der Liebe mit dem Essen von Früchten verglichen wird, oder handelt das Lied von ganz anderen Dingen? Und was ist das eigentlich für ein Musikstil? Was will uns Kate Bush damit sagen? Will sie uns überhaupt etwas sagen?
Rob Jovanovic sieht hier „lockeres Karibikflair, das jedoch mit einem banalen Text über Bananen, Papayas und Rosinen verdorben wurde“ ([1]). Er vermutet einen sexuellen Subtext, hält den Song aber eher für peinlich. Ron Moy ([2]) wirft ein, dass die Musik haarscharf an typischen Latino-Klischees vorbeischrammt. Selbst der tief in die Welt von Kate Bush hineinblickende Graeme Thomson hält die „verspielte, griffige Erotik“ für „konstruiert und allzu offensichtlich; genau wie die dazu passende Innengestaltung des Albums mit ihrem aufgeschnitten dargebotenen Obst […]“ ([3]). Sogar in Fankreisen irritierte der Song. Er wurde als nicht geglückter Versuch einer Latin-Tanznummer gedeutet, die aber dafür zu hektisch und aufgedreht daherkomme ([4]).
Offenbar lässt „Eat the music“ viele etwas ratlos zurück. Soll man diesen Wertungen vertrauen und den Song einfach als misslungen abhaken? So einfach kann man es sich aber meiner Meinung nach nicht machen. Abzuhaken wäre er erst dann, wenn man ihn verstanden hätte und ihn dann immer noch für misslungen hielte. Ich meine, dass die oben zitierten Meinungen zwar Aspekte erkennen und benennen, dass sie aber die Gesamtheit von „Eat the music“ nicht erfassen. Wenn weißes Licht durch einen Kristall fällt, dann nutzt es nicht viel, nur zum Beispiel einen der gebrochenen Lichtstrahlen zu betrachten. Das sagt nicht viel über den Kristall an sich aus. Ähnlich verhält es sich mit „Eat the music“. Beim Schauen aus verschiedenen Richtungen werden einzelne Aspekte gesehen, die merkwürdig erscheinen, so wie der gebrochene Lichtstrahl. Um zum Wesen vorzudringen, müssen wir aus allen Richtungen schauen – ins Innere.

Die erste Frage – warum findet sich auf dem düsteren, zerrissenen Album „The red shoes“ so ein fast hemmungslos dahinstürmendes, rasendes Lied voller Dur-Fröhlichkeit? Fröhlichkeit ist sonst für das Album ein Fremdwort. Beliebigkeit bei der Gestaltung eines Albums ist aber für Kate Bush ein Fremdwort – es muss also einen Hintergrund geben.
Das Lied ist 1992 entstanden, nach dem Krebstod von Kate Bushs Mutter. Ihr Bruder Paddy Bush sagte in einem Interview ([5]), dass er und seine Schwester in tiefer Verzweiflung waren. Paddy Bush lernte während dieser Zeit den madagassischen Musiker Justin Vali kennen, dessen Musik er seiner Schwester vorspielte. Im Interview ([5]) schildert er, was passierte und wie das zum auslösenden Funken für „Eat the music“ wurde. „Wir waren beide immer noch im Zustand tiefer Verzweiflung und hörten diese Musik, in der uns die Sphäre der Fröhlichkeit wieder berührte. Die tiefe, ehrliche Fröhlichkeit, die die Madagassen haben, nichts Aufgesetztes. Kate hat sich sofort in das Stück  ‚Soratra Masina‘ verliebt. Am Ende singt Justin einen Vers, der bedeutet: ‚Lass Fröhlichkeit aus uns zu euch hinüberfließen.‘ Kate war völlig fixiert auf diese Phrase, sie liebte sie so sehr. Und sie sagte zu mir: ‚Paddy, bring Justin hier her, ich will unbedingt mit ihm arbeiten.“ So entstand der Song, eigens für Justin geschrieben, der nicht nur das madagassische Instrument Valiha spielte, sondern schließlich auch den Chorus sang ([5]).
Im Netz kann man Justin Valis „ny soratra masina“ finden ([6]). Beim Hören fällt die strukturelle und stimmungsmäßige Ähnlichkeit zu „Eat the music“ auf. Kate Bush hat mit ihrem Song ein Stück madagassischer Musik geschrieben! (Und dass dies nicht lateinamerikanisch ist, ist offensichtlich.) Afrikanische Musik (und damit auch die madagassische) wird von Grundprinzipien beherrscht, die sich in europäischer/lateinamerikanischer Musik so nicht finden. Eine verständliche  Zusammenfassung findet sich in [7]. „In afrikanischer Musik ist die Elementarpulsation (time-line) die kleinste wahrgenommene regelmäßige Pulseinheit, mit enormer Geschwindigkeit, ohne Anfang und Ende und ohne eine Akzentuierung.“ [7].
In „Eat the music“ findet sich dieser Elementarpuls als die unablässige, pulsierende Folge von schnellen Achtelnoten wieder. „Diese Pulseinheiten sind zwei oder dreimal schneller als der beat oder große Pulse, die nächste wichtige Orientierungsebene, die sich zum Beispiel aus 6, 8, 9, 12, 16, 18 Einheiten (oder ihr Vielfaches) zusammensetzt.“ [7]. In „Eat the music“ werden immer zwölf Pulseinheiten zu einem Takt zusammengefasst – der Song steht im 12/8-Takt (die musikalischen Details des Songs sind aus [8]).
„Die Wiederkehr von solchen 8-, 12- oder 16-pulsigen Beat-Einheiten bezeichnet man als Zyklus, der sich aus melodischen Motiven, Formeln oder Phrasen strukturiert, bis dass der Zyklus sich von vorn wiederholt. Elementare Pulsation und Timeline-Pattern, Beat und Off-Beat, Polyrhythmik und Kreuzrhythmik  sind die grundlegendsten Merkmale schwarzafrikanischer Musik.“ [7]. Die dies abbildende Struktur von „Eat the music“ ist sehr komplex. Unablässig erklingen über jeweils zwei Takte die Grundakkorde von D-Dur: Tonika D-Dur-Akkord für die Zeit von sechs Achteln, Subdominante G-Dur-Akkord für sechs Achtel, Dominante A-Dur-Akkord für zwölf Achtel. Dazu gibt es eine sich über ebenfalls zwei Takte erstreckende, sich unablässig wiederholende Grundfigur im Bass mit leicht gegenüber den Taktschwerpunkten versetzten Akzenten. Von Beginn an rast dazu eine Figur aus Achtelketten jeweils über zwei Takte dahin, sechsmal Akkordbrechungen über jeweils drei Achtel, dann sechs fallende Achtel. Später im Verlauf des Songs wird dieses Achtelkettenmotiv vermischt und kombiniert mit einem schwebenden Motiv aus Achteln, verlängerten Vierteln und über den Taktstrich verbundenen Noten. Die rasende Begleitung auf den Saiteninstrumenten bekommt so etwas Losgelöstes, Freies. Die Singstimme ist gegen die Taktschwerpunkte verschoben, sehr häufig wird eine Achtelnote am Ende eines Takts mit einer langen Note im neuen Takt verbunden. Die Singstimme übernimmt damit das Schwingende, Tänzerische. Immer abwechselnd mit der Singstimme singt ein Chor hymnische Vokalisen als Gegenbewegung. Im Chorus mit seinen männlichen Stimmen wird dies durch Bläser aufgenommen und betont. All diese Motive überlagern sich, fügen sich zu großen Blöcken zusammen. Zum Schluss jagen diese Motive den Song in einen wilden, hymnischen Tanz hinein, alles dreht sich wie besessen in einem ewigen Kreislauf, ohne Anfang und Ende. Alles versinkt im Rhythmus und den Chor-Vokalisen. Es könnte wieder von vorn beginnen, der Song ist als ein geschlossener Kreis denkbar (es wird aber ausgeblendet).
Afrikanische beziehungsweise madagassische Musik ist es also, die hier dargeboten wird, keine lateinamerikanische Musik. Es gibt nur gewisse Ähnlichkeiten. Um diese Ähnlichkeiten nicht zu sehr hervorzuheben, wurden sogar während der Aufnahmen Instrumente ausgetauscht [9]. Madagassische Musik ist dem Hörer nicht so vertraut wie das Lateinamerikanische, es ist kein Mainstream. Der Hörer versucht eine Einordnung – bemerkt aber, dass die nicht passt. Dies erklärt vielleicht einige Irritationen der Rezensenten. Im ganzen Lied findet sich nur Dur und nichts als Dur [8], reinstes D-Dur, es gibt keine melancholische Abtönung ins Moll hinein. Nach Beckh [10] ist D-Dur die stärkste Tonart überhaupt, es ist die Tonart des strahlenden Helden, des Erreichen des höchsten Ziels, der siegreichen Überwindung. Es ist die Tonart, die die Grabesfesseln sprengt. Sie steht daneben aber auch für die sprießende, belebende Kraft des Frühlings, die Wachstumskraft, die Werdekraft [10]. Positiver und ferner von Trauer kann keine Tonart sein. So ausschließlich wie sie in „Eat the music“ eingesetzt wird, ist sie fast schon gnadenlos fröhlich, es ist eine Mauer aus Musik gegen die Trauer. Die Fröhlichkeit ist gegenüber „ny soratra masina“ fast ins Dämonische, Manische übersteigert. Sollen wir Zuhörer zum Fröhlichsein gezwungen werden? Will sich Kate Bush so zur Fröhlichkeit zwingen? So betrachtet hat dieses Lied musikalisch etwas von einem Exorzismus.
Die nächste Frage – passt der Text zu dieser einem die Fröhlichkeit einhämmernden Musik? Wird hier „verspielte, griffige Erotik“ [3] durch das Reden über Früchte dargestellt? Diese Früchte dominieren auch das Booklet, das Album selbst steht so unter dem Leitspruch „ Eat the music“. Offenbar verbirgt sich in diesem Lied eine Kernaussage (schönes Wortspiel beim Reden über Früchte). Zur Frage nach der Bedeutung der Booklet-Gestaltung gab es in einem MTV-Interview von Kate Bush eine deutliche „Das-behalte-ich-für-mich-Aussage“: „Well, it’s really just a time with a song called Eat The Music which has a lot of references to fruits and opening fruits.“ [11]. Auch sonst finden sich von Kate Bush kaum Aussagen zu diesem Song, fast als ob sie ihn im Verborgenen halten möchte.
Die erste Strophe sagt aber eigentlich schon aus, worum es geht. Kate Bush lebt für und durch die Musik, sie bietet sie dem Publikum dar, sie gibt ihr Herz dem Publikum: „Split me open / With devotion / You put your hands in / And ripe my heart out / Eat the music“. Im weiteren Verlauf wird der Blickwinkel erweitert. Um Menschen zu verstehen, muss man sie öffnen und ins Innere schauen. Um verstanden zu werden, müssen sich Menschen öffnen. Die Schlussstrophe fasst das noch einmal zusammen: „You put your hands in / What ya thinking? / What am I singing? / A song of seeds / The food of love / Eat the music“.
Im Chorus werden verschiedene Früchte aufgezählt, die ebenso zerrissen werden („Rip them to pieces / With sticky fingers“). Das Öffnen und Zerreißen der Früchte wird zum Vergleich mit der eigenen Situation herangezogen („Split ˋem open / With devotion / You put your hands in / And rips their hearts out“). Fans goutieren ein Album wie eine Früchtepalette. Sie nehmen ein Stück, freuen sich daran, zerstören die Früchte (das Lied?) aber dabei (sie sehen die Gedanken dahinter nicht). Die Früchte (der Arbeit?) werden gegessen, aber in ihnen zeigt sich der Keim für einen Neuanfang (der Same). Vielleicht kann ja daraus etwas Neues entstehen (die Wirkung der Musik). Vielleicht kann Musik so die Fesseln des Todes sprengen.
Das ist kein Hurra-Szenario. Die Früchte im Booklet sehen für mich aus wie eine blutige Masse, sie erinnern mich an Bilder eines Gemetzels. Kate Bush legt ihr Inneres offen, schonungslos direkt, blutig. Sie zeigt das herausgerissene Herz. Hinter all der fruchtsüßen Fröhlichkeit verbirgt sich ein blutendes Herz. Im Kate-Bush-Forum findet sich zum Song eine Aussage, der nichts hinzuzufügen ist ([12]): „[…] doch ich bin immer fassungslos, wenn Eat The Music als tanzbarer feel good track bezeichnet und verstanden wird. Der Song ist eines der seltsamsten, düstersten Lieder, das je in die Popannalen eingeganen ist. Dass es von Kate als fröhliches, südamerikanisch/afrikanisches Tanzlied arrangiert wurde, ist nicht nur Zeugnis eines herrlich grimmigen Humors, sondern Notwendigkeit: würden die Worte zum backing track eines z.B. Song of Solomon gesungen werden, wäre das Lied kaum zu ertragen (nicht falsch verstehen!).“
Für mich haben wir es bei „Eat the music“ mit einem der tiefgründigen Songs von Kate Bush zu tun. Unter einem fröhlichen Tanzlied verbirgt sich das Dunkle. Hinter dem Dunklen verbirgt sich eine Kernaussage über ihr Schaffen. Es war geplant, den Song als erste Single auszukoppeln – dies wurde dann zugunsten von „Rubberband Girl“ fallengelassen [9]. Die spätere Auskopplung war dann aber doch ein Erfolg. Paddy schätzt, dass sie sich vier Millionen Mal verkauft hat [5]. Vermutlich hat nur ein kleiner Teil der Hörer hinter die fröhliche Maske geblickt.   (© Achim/aHAJ)

[1] Rob Jovanovic: Kate Bush. Die Biographie. Höfen. Koch International GmbH/Hannibal. 2006. S.182
[2] Ron Moy: Kate Bush and Hounds of Love. Aldershot. Ashgate Publishing Limited. 2007. S.116
[3] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.325 [4] „Joanni“ auf http://www.carookee.com/forum/Kate-Bush/128/Sunset.7559727.0.01105.html (gelesen 30.03.2009)
[5] Stefan Franzen: „Paddy Bush und die Musik Madagaskars (Teil 2)“. http://morningfog.de/?p=4907 (gelesen 10.11.2017)
[6] Justin Vali: ny soratra masina. http://youtu.be/4SSbBDceLKE (gelesen 12.12.2017) [7] https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/musik/artikel/rhythmen-der-welt (gelesen 06.12.2017)
[8] Kate Bush: The red shoes (Songbook). Woodford Green. International Music publications Limited. 1994. S.21ff
[9] „Well red“ Interview in Future Music mit Del Palmer. 11/1993
[10] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999.  S.180f
[11] „MTV Most Wanted“ mit Ray Cokes. 22.10.1993
[12] „Stgpepper“ auf: „http://www.carookee.com/forum/Kate-Bush/115/Why_Should_I_Love_You.13942934.0.01105.html“ (gelesen 16.03.2009)

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