Dieser außerordentlich stimmungsvolle und bedrückend düstere Song schildert eine Begegnung im Dschungel während des Vietnamkriegs. Er ist ein ganz typisches Beispiel für die Arbeitsweise von Kate Bush. Eine außermusikalische Inspiration (hier eine Sendung im Fernsehen) löste einen Assoziationssturm aus.
„I saw this incredible documentary by this Australian cameraman who went on the front line in Vietnam, filming from the Vietnamese point of view, so it was very biased against the Americans. He said it really changed him, because until you live on their level like that, when it’s complete survival, you don’t know what it’s about. He’s never been the same since, because it’s so devastating, people dying all the time. The way he portrayed the Vietnamese was as this really crafted, beautiful race. The Americans were these big, fat, pink, smelly things who the Vietnamese could smell coming for miles because of the tobacco and cologne. It was devastating, because you got the impression that the Americans were so heavy and awkward, and the Vietnamese were so beautiful and all getting wiped out. They wore a little silver Buddha on a chain around their neck and when they went into action they’d pop it into their mouth, so if they died they’d have Buddha on their lips. I wanted to write a song that could somehow convey the whole thing, so we set it in the jungle and had helicopters, crickets and little Balinese frogs.“ [1]
Diese Bilder werden in einer hochemotionalen Momentaufnahme zusammengefasst. Kate Bush hatte nicht die Absicht, einmal einen politischen Song über den Vietnamkrieg zu schreiben – es waren Bilder der Dokumentation, die sie dazu bewegt haben. „No, I didn’t think I’d ever want to write about it until I saw this documentary on television which moved me so much I thought I just had to.“ [2]
„Pull out the pin“ ist wieder einer der Songs, der Kate Bush als Protagonistin in fremdartige Situationen stellt und der dabei noch die Geschlechterrollen aufhebt. Sie nimmt die Sicht eines vietnamesischen Kämpfers ein. Das Lied beginnt mit dem Eintritt in den Urwald: „Just as we hit the green, I’ve never been so happy to be alive“ [3]. Wir hören Dschungelgeräusche, ein fernes Klappern wie auf Bambus. Vage, fremdartige Tiergeräusche sind leise hineingemischt – sie stammen von Kassettenaufnahmen, die der Drummer Preston Hayman im balinesischen Urwald gemacht hat [1]. Der Verzicht auf für den Pop typische Drumbeats und die pentatonische Melodik erzeugen ein asiatisches Flair. Im Hintergrund klingt so etwas wie Musik (eine Elektrogitarre?), erst fern, dann näher. Es erinnert an Musik aus einem alten, verstimmten Kofferradio.
Kate Bush selbst hat in einem Newsletter an ihre Fans eine Anleitung gegeben, wie man „Pull out the pin“ hören und sehen soll. Wie in einem Film nähert man sich aus der Totalen immer mehr den handelnden Personen und wird immer intensiver in die Situation hineingezogen. „We sat in front of the speakers trying to focus on the picture — a green forest, humid and pulsating with life. We are looking at the Americans from the Vietnamese point of view and, almost like a camera, we start in wide shot. Right in the distance you can see the trees moving, smoke and sounds drifting our way…sounds like a radio.“ [4]
Der Fokus wechselt nun von der Schilderung des Urwalds auf eine Gruppe der Amerikaner (in den Lyrics steht jetzt ein „They“). „Closer in with the camera, and you can catch glimpses of their pink skin. We can smell them for miles with their sickly cologne, American tobacco and stale sweat.“ [4]. Näher und näher geht dann die Kamera heran, bis nur noch ein Amerikaner im Blickfeld ist (in den Lyrics steht jetzt „He“). „Take the camera in even closer, and we find a solitary soldier […]. This soldier is under a tree, dozing with a faint smile and a radio by his side. It’s a small transistor radio out of which cries an electric guitar.“ [4].
Die merkwürdig verzerrte Gitarrenmusik findet so eine Erklärung. Der Amerikaner ist niemand, der hier hingehört – „He’s big and pink and not like me“ [3]. Das Wort „pink“ wird mit einer ganz merkwürdigen Betonung gesungen. Da wird ein fremdartiges Wesen gesehen, Abscheu schwingt mit. Er ist fremdartig aus der Sicht des Protagonisten – das ist nicht dessen Welt. Die eigene Seite – das ist das Überleben. Die andere Seite – das ist fremd, nicht hier hingehörend („He’s big and pink and not like me“). Das ist eine Seite, für die das alles ohne Sinn ist („He sees no reason for the fighting“). Das Unvorhersehbare der Situation spiegelt sich auch im Sound wieder – ein Militärfahrzeug fährt vorbei.
Das Geschehen kommt nun ganz nah an den ausgewählten Amerikaner heran (im Text steht „I look in American eyes.“). „I pop the silver Buddha that I wear around my neck into my mouth, securing my lips around his little metal body. I move towards the sleeping man. A helicopter soars overhead, he wakes up, and as he looks me in the eyes I relate to him as I would to a helpless stranger. Has he a family and a lady waiting for him at home, somewhere beyond the Chinese drums and the double bass that stalks like a wild cat through bamboo?“ [4]. Das Bild des silbernen Buddhas muss Kate Bush sehr beschäftigt haben. Sie verbindet das hier mit dem Bild der silbernen Kugel. Im Märchen ist das ein Mittel, mit dem Monster, Vampire, Untote getötet werden können. Die Amerikaner sind Unholde aus einer anderen Welt, aus einer toten Welt. Kate Bush sagt dazu „Grotesque beauty attracts me. Negative images are often so interesting“ [5] und das trifft es genau. Es ist die Faszination einer emotionalen Grenzsituation.
Hier geht es um etwas Existenzielles, den Kampf einer gegen einen („Just one thing in it, me or him. And I love life!“). Das „And I love life!“ wird geradezu verzweifelt herausgeschrieen, es ist der pure Überlebenswille.
Der Titel des Songs bezieht sich auf das Scharfmachen einer Handgranate [6]. Im Chorus – gesungen von David Gilmour von Pink Floyd – tritt das in zwei Nuancen auf. Zuerst heißt es „Pulling on the pin“ – Ziehen am Stift, später dann als Aufforderung „Pull out the pin“ – zieh den Stift heraus! Hubschraubergeräusche legen sich über den Schluss, alles geht in eine Kakophonie von Geräuschen und Stimmen über, Assoziationen an einen Zweikampf ums Überleben werden geweckt. Das „Pull out the pin“ wird immer eindringlicher. Dies ist eine fremdartige und dunkle Atmosphäre, die sich zum Ende hin hinter den Hubschraubergeräuschen – die an den Vietnam-Film „Apocalypse now“ erinnern [7] – in Agonie und Tod verliert. Zum Abschluss verdämmert die Musik. Es ist ganz unklar, wie die Geschichte ausgeht und ob die Handgranate gezündet wird. Dieser Film beginnt ganz weit weg von den Personen, kommt immer näher, geht in sie hinein und vergeht mit ihnen. Eine Auflösung gibt es nicht. „The moving pictures freeze-frame and fade–someone stopped the multi-track, there’s more overdubs to do.“ [4]
Für mich ist das ein Existenzkampf, eine Situation ohne Ausweg und mit ganz wenig Hoffnung. Das spiegelt sich in der Tonart – der Song ist in g-Moll geschrieben [3]. G-Moll, das bedeutet tragischen Schicksalsernst, Furcht, Bangen, Hoffnungslosigkeit, es drückt die „hoffnungslose Empfindung der Angst und Furcht vor dem Unvermeidlichen, nicht Abzuwendenden“ aus [8]. Es gibt nur kleine Lichtblicke. Das „with my silver buddha and my silver bullet“ steht nicht in Moll, sondern in Dur und kulminiert in einem B-Dur-Akkord. Auch hinter dem herausgeschrieenen „life“ in „I love life“ steht dieser B-Dur-Akkord. B-Dur ist die parallele Dur-Tonart zu g-Moll, die lichte Gegenseite, sie steht für etwas Glaubensvolles, Hoffnungsvolles [8]. Schatten und Licht, Abgrund und Hoffnung – alles spiegelt sich in der musikalischen Gestaltung wieder.
Kate Bush zeigt sich hier als „echte Poetin der Sinne“ [9]. Sie macht die dunkle Seite dessen, was Menschen antreibt und den blanken Horror des Krieges greifbar und erfahrbar [9]. Die Hitze, das Grün, der Urwald, die Feuchtigkeit, das Unterholz ringsum – all dies ist fast körperlich zu spüren.
„Pull out the pin“ ist Musik, die wie ein Film aufbebaut ist und die wie ein Film zu lesen ist. Ich empfinde es nicht als Erzählung einer Situation, es funktioniert für mich wie ein Hörspiel. Die Geschichte ist „in“ den Personen und genau das macht das alles so emotional. (© Achim/aHAJ)
[1] Kris Needs: Dream Time in the Bush. ZigZag. 1982
[2] Karen Swayne: Bushy Tales. Kerrang!. 1982
[3] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.137-138
[4] http://www.katebushencyclopedia.com/pull-out-the-pin (gelesen 11.07.2016) (Kate Bush im „Kate Bush Newsletter, Oktober 1982)
[5] Robin Smith: Getting Down Under With Kate Bush. 1982 (http://gaffa.org/reaching/i82_smi.html, gelesen 11.07.2016)
[6] The Dreaming Interview. Von der CBAK 4011 CD (picture disk)
[7] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.135
[8] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.255 und S.248
[9] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH, S.242
Neueste Kommentare