Das Song-ABC: The Sensual World

abcWenn es einen Song von Kate Bush gibt, der durch seinen Titel ihre Lied-Welt in einer prägnanten Formel zusammenfasst, dann ist das „The sensual world“. Denn darum geht es in den meisten Liedern von Kate Bush: das Erleben einer sinnlichen Welt, die Kommunikation mit der Natur, Liebe und Sexualität und Zuneigung und Kampf als Einheit.
Für “The Sensual World” sollte ursprünglich der von Sinnlichkeit und Erotik erfüllte Schlussmonolog der Molly Bloom aus dem “Ulysses” von James Joyce als Textgrundlage genommen werden. Dieser Monolog ist „the mother of all postcoitally sunny sunday mornings“ [2], er handelt von Liebe, Begehren, Sex – was könnte besser passen in die Lied-Welt von Kate Bush? Da die Rechte nicht zu bekommen waren, entstand ein neuer Text in Anlehnung daran. Das Tagträumen über Liebe und Sexualität ist jetzt angereichert um das Motiv des Hereintretens in die sinnliche, “wahre” Welt (“Stepping out of the page into the sensual world.”). Die Protagonistin tritt hinein in die Welt und beginnt ihre Erfahrungen. Kate beschreibt das so: “In dem Song steigt die Hauptfigur aus ihrer schwarzweißen, zweidimensionalen in die richtige Welt um. Der erste Eindruck ist die Sinnlichkeit dieser Welt. Die Tatsache, dass man Dinge anfassen kann, dass man die Farbe der Bäume sehen, das Gras unter den Füßen fühlen kann. Die Tatsache, dass wir von so viel Sinnlichkeit umgeben sind. Wir nehmen sie gar nicht mehr wahr. Aber ich bin mir sicher, dass jemand, der das alles vorher nicht erlebt hat, davon vollkommen überwältigt wäre.” [1]
Der Song beginnt mit Kirchenglocken, die komplexe Melodie- und Harmoniefolgen spielen. Diese Geläute sind in England zum Beispiel zum Neujahrsbeginn üblich („Wechselläuten“). Etwas Neues beginnt. Wir erleben ein Aufwachen in einem neuen Leben (in der Wirklichkeit) mit. Leise gesungen, fast geflüstert – nur nicht richtig aufwachen, diesen Traummoment festhalten. Ein Flüstern im Erwachen, im Halbschlaf, wenn zwei Liebende nackt nebeneinander liegen. Ist dies das neue Leben nach dem Sex mit dem Richtigen? Sind es Hochzeitsglocken, die wir hier gehört haben, wie P. Paphides meint? [2]
Der Text ist bei genauerem Hinsehen ein kaum verschleierter pornographischer Text. Passagen wie „and the down of a peach says mmh, yes“ und „And his spark took life in my hand and, mmh, yes, I said, mmh, yes, But not yet, mmh, yes“ würde ich jedenfalls so interpretieren. Das „yes“ steht im urspünglichen Monolog aus Ulysses zudem für das Bejahen der Sexualität. Naturelemente im Text (flower of the mountain, peach usw.) verbinden und verknüpfen dies mit der sinnlich-realen Welt der Natur.
Das Heraustreten aus den Seiten des Buches wird mit irisch anmutenden Klängen (der Ulysses spielt in Dublin) der Uilean Pipes begleitet. Diese Musik hüllt die Stimme von Kate ein wie ein dünnes, durchsichtiges Tuch. Sie ist von einem makedonischen Hochzeitslied inspiriert [2] – etwas Neues beginnt, die Vereinigung zweier Menschen. Gefeiert wird eine Menschwerdung, die vielleicht nur zu zweit perfekt gelingen kann.
Die Musik ist komplex, verwoben, weich, durch sich überlagernde Strukturen gekennzeichnet. Die Stimme ist integriert, eine Klangfarbe unter vielen. Die Musik setzt sich so genauso aus verschiedenen Ebenen zusammen wie der Text.
Zwei Ebenen überlagern sich – „Ulysses“ und Menschwerdung. Aber „Before the dawn“ mit seinen düsteren Elementen selbst im hellen Himmel aus Honig mahnt zur Vorsicht – gibt es etwa auch hier Dunkleres? Eine weitere Interpretation ist möglich, die einer Beschwörung. Eine Figur tritt aus den Blättern eines Buches hervor und bemächtigt sich eines weiblichen Körpers (“He said I was a flower of the mountain, yes, / But now I’ve powers o’er a woman’s body, yes.”). Dann wären die Glocken Auftakt einer dunklen Messe und das Lied der Uilean Pipes Teil eines Rituals.
Es sind diese nicht aufgeklärten Mehrdeutigkeiten und das Zusammenfügen von vollkommen unterschiedlichen Sichtweisen, die Songs von Kate Bush für mich so faszinierend machen. „The sensual world“ ist dafür ein herausragendes Beispiel.
Achim/aHAJ)
[1] C. Rebmann: “Kate Bush”; Fachblatt Musikmagazin 11/89
[2] Peter Paphides: The sensual world; Mojo 10/2014, S. 71

2 Kommentare

    • Achim (aHAJ) auf 4. November 2014 bei 09:41
    • Antworten

    Das Positive steht hier ganz bestimmt im Vordergrund. Ich finde es aber immer wieder faszinierend, wie sich doch in den Songs geheime Türen öffnen lassen zu anderen Ebenen. Diese Offenheit ist für mich ein ganz großer Reiz.

    Schön, dass Dir mein Beitrag gefällt!

  1. Wunderbare Analyse, Achim! Wobei ich schon sehr der ersten Variante deiner Interpretation zustimme. Positive Bejahung des jetzt sinnlich Erfahrbaren und der Sexualität. Etwas Bedrohliches oder Dunkles kann ich nicht entdecken, dazu tönt auch das Wechselläuten viel zu freundlich. Kann mich auch erinnern, dass Paddy Bush sich im damaligen Homeground unheimlich darüber aufgeregt hat, dass im Booklet abgedruckt ist, er spiele „Whips“. In Wirklichkeit schwingt er ja keine Peitschen sondern eine Angelrute, um das akustische Bild von einer friedlichen irischen Landschaft zu zeichnen. Das wäre noch so ein Hinweis, dass alles Dunkle/Gewalttätige in diesem Stück vermieden werden soll.

    Grüße,
    Stefan

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Bitte ausfüllen. Danke. * Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.