„Ein so außergewöhnlicher Musiker“

Der Musiker John Giblin, der als Bass-Spieler mehr als vier Jahrzehnte an Songs von Kate mitgewirkt hat, ist im Alter von 71 Jahren gestorben. Giblin hatte schon 1980 bei den Aufnahmen zum Album Never For Ever die Bass-Parts zu den beiden Singles Babooshka und Breathing beigesteuert. Kennengelernt hatten sich Kate und Giblin bei den Aufnahmen zu Peter Gabriels Song No Self Control. Kate hatte für das Lied, das ebenfalls 1980 veröffentlicht worden ist, die Backing Vocals beigesteuert, Giblin den Bass gespielt. Bei den Aufnahmen war damals auch David Rhodes an der Gitarre mit dabei und Phil Collins an den Drums.
Kate hat ab 1989 immer wieder kontinuierlich mit Giblin zusammengearbeitet. Auf dem Album The Sensual World ist er auf den Songs Love And Anger, Deeper Understanding und Rocket’s Tail zu hören. Den größten Part hatte er auf The Red Shoes, wo er gleich an sieben Songs (Rubberband Girl, And So Is Love, Eat The Music, Lily, Top Of The City, Constellation Of The Heart, You’re The One) beteiligt war. Auch die zwölfjährige kreative Pause von Kate bis zum Album Aerial im Jahr 2005 änderte nichts an der Kooperation. Giblin spielte den Bass für die Songs An Architect’s Dream, Sunset und Nocturn ein. Bei 50 Words For Snow war er auf dem Titeltrack vertreten, beim Duett mit Elton John (Snowed In At Wheeler Street) und bei der Single Wild Man. Besonders bemerkenswert war vermutlich, dass Kate auch für ihre 22 Before The Dawn-Konzerte in London bei ihrer Live-Band John Giblin den Vorzug vor ihrem langjährigen Partner und Bassspieler Del Palmer gab.
Wie eng das Verhältnis zu Kate gerade bei den Before The Dawn-Konzerten war, hatte David Rhodes anschließend in einem Interview erzählt. Noch vor den Proben mit der Band hatten Kate, Giblin und er zu dritt einzelne Songs einstudiert.
Überliefert ist auch eine Anekdote zu Giblin von Schlagzeuger Peter Erskine, der 2005 zu den Aerial-Aufnahmen mit im Studio war und dort gerade ankam, als Giblin einen Bass-Part einspielte: „Bassist John Giblin – ein wirklich exzellenter englischer Rockbassist – spielt eine Melodie, als ich den Kontrollraum im Studio betrete. Das klingt wirklich wundervoll. Er klingt inspiriert, nimmt mit dem Bass die Melodie auf, als ob er mit einem Ski eine rasante Abfahrt über einen schwierigen, aber wundervollen Abhang hinlegt. Als er fertig ist, sagt der Toningenieur: Okay, willst Du, dass wir das jetzt aufnehmen? Das ist natürlich der älteste Toningenieur-Witz den es gibt, nur mit dem Unterschied, dass er gar keinen Witz gemacht hat und John noch nicht mal verärgert darüber war.“ Toningenieur war Del Palmer.
Giblin hat natürlich nicht nur mit Kate zusammengearbeitet. Er war von 1985 bis 1988 Mitglied der Band Simple Minds, hat mit Musikern wie Phil Collins (unter anderem für dessen Band Brand X), Paul McCartney, Tanita Tikaram, Annie Lennox, Alan Parsons, David Sylvian, Fish, Al Green, Elton John, Eric Clapton, Sting und Brian Eno gearbeitet.
In einem sehr emotionalen Statement hat Kate auf ihrer Internetseite John Giblin gewürdigt. „Jeder wollte mit ihm zusammenarbeiten, weil er so ein großes Talent war, und jeder wollte sein Freund sein, weil er so ein wunderbarer Mensch war“, schreibt Kate, die Giblin als sehr engen Freund bezeichnet. „Wir waren immer füreinander da. Er war etwas ganz Besonderes. Ich habe es geliebt, mit ihm zu arbeiten, nicht nur, weil er ein so außergewöhnlicher Musiker war, sondern auch, weil er immer eine Menge Spaß gemacht hat.“ Besonders berührend ist ihr letzter Satz: „Ohne ihn wird meine Welt nie wieder die gleiche sein.“
Auch Peter Gabriel hat auf seiner Seite eine Würdigung verfasst. Erschreibt unter anderem: „Er war ein großer Mann voller musikalischer Ideen und Begeisterung, und es machte Spaß, mit ihm zusammen zu sein. (…) Dieser wundervolle und warmherzige Musiker hat so viel zu so vielen großartigen Platten und Auftritten beigetragen. Du wirst uns allen fehlen, John.“ Interessant ist, dass Gabriel in seinem Nachruf das gleiche Bild nutzt, das zuvor schon Kate veröffentlicht hat.

Kate schreibt auf ihrer Internetseite:
Everyone loved John. He was a really beautiful man in every sense of the word. Everybody wanted to work with him because he was such a great talent and everyone wanted to be his friend because he was such a wonderful person.
    I loved John so very much. He was one of my very dearest and closest friends for over forty years. We were always there for each other. He was very special. I loved working with him, not just because he was such an extraordinary musician but because he was always huge amounts of fun. We would often laugh so much that we had to just give in to it and sit and roar with laughter for a while. He loved to be pushed in a musical context, and it was really exciting to feel him cross that line and find incredibly gorgeous musical phrases that were only there for him. He would really sing. It was such a joy and an inspiration to see where he could take it.      
    We’ve all lost a great man, an unmatchable musician and I’ve lost my very special friend. My world will never be the same again without him.
                  Kate

RUTH als hansignierter Soundwave-Print

Kate Bush hat sich erneut an einer Spendensammelaktion für die englische Hilfsorganisation War Child UK beteiligt. War Child setzt sich für die Rechte von Kindern ein, die in Konfliktgebieten auf der ganzen Welt leben. Kate hat insgesamt 100 Soundwave-Drucke des Songs Runnig Up That Hill hansigniert. Die Drucke wurden pro Stück für 700 Dollar verkauft. Zusätzlich gab es vier von Hand signierte Originale in den Farben Dark Purple, Light Purple, Blue und Black zu je 4000 Dollar. Drucke und Originale waren innerhalb kürzester Zeit vergriffen. Für die Hilfsorganisation kamen so 86.000 Dollar zusammen. Kate hatte zuletzt 2014 für War Child zehn Soundwave-Drucke von King Of The Mountain signiert. Mit den Einnahmen hatte War Child ein Projekt für die vom Bürgerkrieg betroffenen Kinder in Syrien unterstützt. In früheren Jahren hatte Kate unter anderem Weihnachtskarten für War Child gestaltet und eine Skulptur entworfen.

Kate in die Ruhmeshalle aufgenommen

Im vierten Anlauf hat es dann doch geklappt: Kate wird im November in die Rock’n’Roll Hall of Fame aufgenommen – neben Musikern wie Sheryl Crow, George Michael. Chaka Khan und Bernie Taupin – um nur einige weitere Musiker zu nennen, denen in diesem Jahr diese Ehre zuteil wird. Seit 2018 war Kate zum vierten Mal nominiert worden. Bereits in den vergangenen Jahren hatte es Kritik daran gegeben, dass Kate zwar nominiert worden war, aber bei der Neuaufnahme jeweils unberücksichtigt geblieben ist. In diesem Jahr könnte ihr geholfen haben, dass ihr Hit Running Up That Hill sie auch in den USA deutlich bekannter gemacht hat und die Musik von Kate in den USA quasi neu entdeckt worden ist.
Die Rock’n’Roll Hall of Fame wurde auf Anregung des Gründers von Atlantic Records gegründet. Seit 1986 wird jährlich eine begrenzte Zahl neuer Mitglieder für ihre Verdienste um die Rockmusik geehrt. Das entsprechende Museum wurde 1995 in Cleveland (Ohio) eröffnet.
Die Aufnahme in die „Ruhmeshalle“ wird jeweils in einer Zeremonie gefeiert, bei der geehrte Künstler auch auftreten und Songs spielen oder gar Konzerte geben. Ob Kate zu der Feier im November in die USA fliegen wird, ist derzeit unklar. Auf ihrer Internetseite gab es allerdings schon mal ein offizielles Statement:
„I have to admit I’m completely shocked at the news of being inducted into the Hall of Fame! It’s something I just never thought would happen. Thank you so much to everyone who voted for me. It means a great deal that you would think of me. It’s such a huge honour. Now as part of the initiation ceremony I get to find out about the secret handshake… there is one, right?“
Weitere Preise könnten für Kate in diesem Jahr noch folgen. So ist sie mit Running Up That Hill in der Kategorie „meistgespielter Song“ für den Ivor Novello-Award nominiert (neben Ed Sheeran mit „Bad Habits“ und „Shivers“ sowie Harry Styles mit „As It Was“). Eine weitere Nomininierung ist eher eine indirekte: Beim BAFTA-Award der britischen Filmakademie hat die Filmszene aus Stranger Things eine Nominierung erhalten, in der Running Up That Hill von Kate gespielt wird und die dafür gesorgt hat, dass der 1985 veröffentlichte Song erneut weltweit in die Charts eingestiegen ist und in England sogar Platz 1 belegte und Kate vor allem in den USA einen großen Erfolg beschert hatte.

Druck in limitierter Auflage

© Gered Mankowitz

Passend zum Record Store Day hat Fotograf Gered Mankowitz sein berühmtes Lionheartcover-Foto in einer limitierten Edition in der originalen Vinyl-LP-Größe neu aufgelegt. 75 dieser exklusiven Drucke sind auf feinstem Papier (Hahnemühle) gedruckt worden, haben allerdings auch ihren Preis. Fertig gerahmt kosten die Bilder 580 Euro plus 20 Pfund Versand und können hier geordert werden. Die Drucke sind nummeriert und mit einem Echtheitszertifikat versehen.

Das Song-ABC: In Search Of Peter Pan

Ich vermute, selbst wenige Fans von Kate Bush haben diesen Song schon mal aufmerksam angehört. Es ist einer der „Nebensongs“ auf „Lionheart“, ihrem unterschätztestem Album. Ich gebe zu, mir ging es ebenso. Ich habe ihn zuerst für eine Kleinigkeit gehalten, ein Stück, das man so im Vorbeigehen hört und über das man nicht tiefer nachdenkt. Ich bin in guter Gesellschaft, auch den Biographen fällt nichts zu ihm ein. Was kann ich über diesen Song schon schreiben, so mein Gedanke. Was für eine Fehleinschätzung! So wie man die Schönheit eines kleines Veilchens auch erst bemerkt, wenn man näher hinschaut, so ist es auch bei diesem Song.
„Lionheart“ ist voller schöner, melancholischer Lieder, alle etwas zurückgenommen im äußeren Ausdruck, mehr innerlich. Es fehlt das vordergründig Spektakuläre. „In Search of Peter Pan“ ist der zweite Song auf dem Album. Es ist ein älterer Song, keine Neukomposition für das Album. Kate Bush schrieb nur drei neue Songs für „Lionheart“. Sie musste ältere Songs verwenden, da zwischen der Veröffentlichung von „The Kick Inside“ im Februar 1978 und der Veröffentlichung von „Lionheart“ am 13. November nur eine kurze Pause bestand [9]. Viele schließen von „älterer Song“ auf „Resteverwertung, also nicht so gut“, aber das ist ein Fehlschluss. Er passte in seinem sublimen Stil einfach nicht in die exaltierte Welt des ersten Albums.
Wie so oft zeigt sich Kate Bush auch hier von Literatur, Film und Fernsehen beeinflusst. Hier geht es um den Peter Pan, der immer jung bleiben will, wie Kate Bush sagt: „I refer to Peter Pan because he stands for a lot of things. He always has and he always will. People just don’t want to grow up, so I think he’s everyone’s favourite whether they like it or not.“ [1]
Der Titel mit seiner Reminiszenz an Peter Pan suggeriert erst einmal etwas Unschuldiges, aber der Song ist durchzogen von Dunkelheit. Kate nimmt hier die Perspektive eines Jungen ein – „When I am a man“ deutet darauf hin. Der Text zieht einen mit Wucht hinein in eine Situation: „Running into her arms / At the school gates / She whispers that I’m a poor kid / And Granny takes me on her knee / She tells me I’m too sensitive / She makes me sad / She makes me feel like an old man“ [3]. Es geht um das Verlieren der Unschuld beim Erwachsenwerden, um das verlorene Paradies, um das Auswischen der Unbefangenheit und Reinheit durch die Erwartungen der Umgebung, so sagt es Kate Bush selbst: „There’s a song on it called „In Search of Peter Pan“ and it’s sorta about childhood. And the book itself is an absolutely amazing observation on paternal attitudes and the relationships between the parents – how it’s reflected on the children. And I think it’s a really heavy subject, you know, how a young innocence mind can be just controlled, manipulated, and they don’t necessarily want it to happen that way. And it’s really just a song about that.“ [2]
Die Umgebung, in der ein Kind aufwächst, beeinflusst das Kind und zerstört die unschuldige Kind-Welt, das ist das Thema. Gibt es einen Weg hinaus? Kann man beim Erwachsenwerden etwas von dieser Kind-Welt retten? Darüber singt Kate Bush in diesem Song. Dabei nimmt sie Peter Pan und seine Geschichte als Ansatz. Der Schriftsteller James Matthew Barrie ließ sich bei der Namensgebung für Peter Pan von Pan, einem Gott der griechischen Mythologie, inspirieren [8]. Dieser Gott „repräsentiert die Natur oder den natürlichen Zustand des Menschen im Gegensatz zur Zivilisation und den Auswirkungen der Erziehung auf das menschliche Verhalten“ [8]. Peter Pan weigert sich, erwachsen zu werden. Er steht für die Kindheit als endlosen Zustand und das sich aktive Auflehnen gegen das Erwachsenwerden. Kate Bush hat diesen Song in einem Alter geschrieben, in dem sie wohl selbst voll in diesem Prozess stand. Ihr in diesem Song gewählter Weg unterscheidet sich aber von dem Peter Pans: Im Chorus bekräftigt sie ihren Wunsch, erwachsen zu werden. Sie will aber irgendwann Peter Pan finden und auf diese Weise der Falle des Erwachsenenlebens entkommen.

Das Leben ist für Kate Bush kein ewiges Nimmerland. Es ist naiv zu glauben, dass man für immer an kindischen Dingen festhalten kann. Aber die kindliche Welt ist ein wichtiger Teil ihrer Welt, diese Welt stellt eine Alternative zur Eintönigkeit des Erwachsenseins dar. Deswegen möchte sie den Zugang nicht verlieren. „In Search of Peter Pan“ ist voll von jugendlichem Schmerz. Zu Beginn des Songs hat der Protagonist (dass es ein Junge ist, erweist sich erst im Chorus) aufgegeben und erklärt, keine Zukunft mehr zu sehen – „I no longer see a future“. Jeder muss seinen eigenen Ausweg, Fluchtweg finden. Für Dennis, einen Freund des Protagonisten, besteht es darin, sich schön zu finden – „Dennis loves to look / In the mirror / He tells me that he is beautiful“ und ein Foto seines Helden als Talisman zu haben – „He’s got a photo / Of his hero / He keeps it under his pillow“. Das ist eine Flucht ins Äußerliche, für mich nimmt Kate Bush hier den Instagram/Influencer-Weg visionär vorweg. Der Blick von Kate Bush aber geht ins Innere. Die eigene Phantasie ist eine Zuflucht.  Ganz zum Schluss fügt Kate Bush einige Zeilen aus dem Soundtrack des Disney-Films „Pinocchio“ hinzu: „When you wish upon a star / Makes no difference who you are / When you wish on a star / Your dreams come true“.  Es ist einer der ganz seltenen Fälle, dass Kate Bush in ihrer Musik andere Musik zitiert, auf die besondere Bedeutung dessen werde ich noch zurückkommen. So für sich genommen fügt es es dem Song eine poetische Farbe hinzu. Um die Bedeutung dieses Zitats später in der musikalischen Analyse erfassen zu können, ist seine Herkunft zu beleuchten. „When You Wish upon a Star“ wurde im Jahr 1940 von Leigh Harline und Ned Washington geschrieben. In der Fassung von Cliff Edwards gewann es für den Disney-Film „Pinocchio“ den Oscar in der Kategorie Bester Song [6]. „Im Film singt Jiminy Grille zunächst das Lied, das davon handelt, dass Wünsche wahr werden, um danach die Geschichte von Pinocchio zu erzählen. Das Lied wurde im Laufe der Jahre zu einem Erkennungszeichen von Disney und wurde in den 1950er und 1960er Jahren als Titelmelodie der Disney-Fernsehshows verwendet. Auch heute wird das Lied im Vorspann von Disney-Filmen verwendet als Teil der Logo-Animation“ [6]. Hört man „In Search of Peter Pan“, dann fällt einem die Intimität auf, die zarte Gestaltung, aber auch die feinen Abstufungen im Ton. Es gibt keine große Melodie, es sind nur kleine musikalische Motive, die zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Der Gesang von Kate Bush ist Ausdruck pur.
In der musikalischen Analyse des Songs beziehe ich mich auf die vorliegende Partitur [3], die Bedeutung der Tonarten orientiert sich an Beckh [4]. Wie so oft bei Kate Bush sind die Tonarten unglaublich sensibel eingesetzt. Der Song ist im reinen, unaufgeregten 4/4-Takt gehalten. Nach einer Klaviereinleitung beginnt das Lied mit der ersten Strophe, träumerisch und melancholisch. Notiert ist das ohne Vorzeichen, nüchtern und erdgebunden. Die Tonart ist ein a-Moll, die Musik beginnt und endet mit diesem Akkord. A-Moll ist eine schwermütige, poetische Tonart. Sie steht für die romantische Zwienatur, die Zwielicht-Natur, es ist die Sehnsuchtstonart. Der Protagonist fühlt sich in seinem Leben nicht richtig zuhause, sehnt sich nach der Freiheit der Jugend, die Tonart passt. Zu „[…] sensitive, she makes me sad“ kommt ein Gis in der Melodie dazu, dazu ertönt der E-Dur-Akkord. Das ist auf einmal für einem Moment ein E-Dur. E-Dur, das ist die wärmste aller Tonarten, sie steht für Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit, Liebeswärme. Dieser Akkord genau zu „sensitive“ sagt aus, was dem Protagonisten im Inneren auszeichnet: Herzensinnerlichkeit. Das ist das, was er beim Erwachsenwerden nicht verlieren will.
Im Chorus klingt die Musik entschiedener, aufgeregter, rhythmischer, die Stimme klingt erwartungsvoller. Unterstrichen wird das musikalisch dadurch, dass die Harmonik allmählich in immer weiter entfernte Tonarten wechselt. Die Chorus-Zeilen haben nichts mit der rauen Realität zu tun. In dieser „Drift“ der Tonarten geht es auf kleinem Raum vom a-Moll der Realität über G-Dur und h-moll zu cis-Moll immer weiter weg von a-Moll und dann über h-Moll wieder zurück. Das muss man sich Stück für Stück anschauen. „They took the game right out of me“ steht in G-Dur, ein Fis kommt als Melodieton dazu. Das ist eine Übergangstonart, noch nah an a-Moll, es ist die Tonart der Dominante der Dur-Parallele. Hier ist der Protagonist noch halb in der Realität, aber fühlt sich schon anders, es ist eine Art Erkenntnis. G-Dur ist die sprießende Blütenfülle der Maienzeit, das Sprießende, Blühende überhaupt, die Liebesoffenbarung im Werden der Natur. Ist es das, was „out of me“ gerissen wird? Ist das die Erkenntnis? Die Interpretation der nächsten Passage ist einfacher.

„When I am a man“ steht in h-Moll – der h-moll-Akkord ist da, Cis und Fis kommen als Melodietöne dazu. H-Moll – Empordringen, Emporstürmen mit Abgrundgefahr, das sich erheben wollen aus den Abgründen. Man merkt an dieser Tonart die Entschiedenheit, aus dem „Abgrund“ des Erwachsenseins auszubrechen, zu kämpfen. Danach folgt ein Takt ohne Gesang nur mit dem A-Dur-Akkord. Der Akkord ist ein Übergangsakkord, gehört sowohl zu h-Moll als auch zu cis-Moll. Das wirkt wie ein Nachsinnen, ein Innehalten. A-Dur ist die Tonart der Lichteshöhen, sie symbolisiert das Lichte, Überirdische. „When I am a man“ war der Aufbruch, nun ist die Höhe der Erkenntnis erreicht. Weiter geht es: „I will be an […]“ steht in cis-Moll. Der cis-Moll-Akkord ist da, in der Melodie kommen die Töne Cis, Dis und Fis dazu. Cis-Moll, leuchtende Schönheit und Wärme, in ein Element von Schwermut und Sehnsucht getaucht. Diese Tonart eröffnet alle in unseren Herzen verborgenen Quellen der Sehnsucht. „I will be an“: das ist der Wunsch, der Traum, der Wille, die Erfüllung der Sehnsucht. Jetzt hat sich die Musik dem Traum voll geöffnet, harmonisch geht es jetzt wieder zurück. „ […] astronaut and find peter pan / Second star on the right / Straight until morning“ steht wieder in h-Moll, Fis und Cis sind Melodietöne. „Second star …“ ist ein Chor, von Kate gesungen, wie aus der Ferne. Es klingt wie eine Wegweisung. Wir sind wieder in h-Moll, beim Empordringen, Emporstürmen mit Abgrundgefahr, beim sich erheben wollen aus den Abgründen. Auch nach dem Erreichen der Erkenntnis geht die Suche weiter. Das Schluss-Zitat aus „When you wish upon a star“ steht wieder in a-Moll. Wir sind wieder in der Realität. Dieses Pinocchio-Zitat wird von Kate Bush gesungen, wie aus der Ferne. Zum Schluss verlässt die Melodie das Zitat und geht hinab in die Tiefe, sie verschwindet förmlich. Was hier in diesem Schluss passiert, das ist schon ganz besonders. Im Original steht das zitierte Lied in E-Dur und nicht in Moll [5]. E-Dur hatten wir schon einmal kurz bei „sensitive“, das ist die wärmste aller Tonarten, sie steht für Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit, Liebeswärme. Dieser Optimismus ist nun ins Melancholische gekehrt. Was bedeutet das für das „When you wish upon a star / Your dreams come true“? Um einen Stern zu erreichen, muss ein realistischer Mensch Astronaut werden, das wünscht sich der Protagonist auch. Sie nimmt das zuckersüße Disney-Markenzeichen und taucht es in Realismus.
Christine Kelley hat das sehr treffend beschrieben: „This is the Disney theme song, the saccharine aphorism on which their brand is constructed. Bush is quoting the most fantastical idea of childhood possible. Yet she takes this overused quote and turns it into the song’s most interesting musical moment. She sings the quote in a minor key, slowly descending as she does it. It’s not a straight quote; Bush outright warps the song. As Bush won’t pretend childhood is without pain, depictions of it must reflect some kind of wrongness and pain.“ [7] Das „Your dreams come true“ wird durch diese Wendung nach Moll und dieses Herabsinken der Melodie ins Ungewisse gezogen. Ist das nun eine gute oder eine schlechte Botschaft, die Kate Bush uns da mitgibt? Es ist auf jeden Fall so, dass man für seine Wünsche arbeiten muss. Zumindest muss man wohl eine Art Seelen-Astronaut werden! Ich finde es ganz wunderbar: In diesem zurückhaltenden Lied steckt Magie, kindliches Staunen und Schönheit. Nuancen verstecken sich auf kleinstem Raum. In diesem Lied verbirgt sich eine Botschaft an uns: ja, Träume können wahr werden, aber nicht einfach so. Tu etwas dafür! Glaube nicht an die zuckersüßen Versprechen der Disney-Welt! © Achim/aHAJ

[1] „With Love from Kate“ & Interview, Kate Bush Club Ausgabe 5, 4/1980.
[2] Lionheart Promo Cassette. EMI Canada
[3] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.103f
[4] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.78f (a-Moll), S.136f (A-Dur), S.182 (h-Moll), S.216 (G-Dur), S.263 (E-Dur)
[5] https://www.fingerstyle-guitar-today.com/when-you-wish-upon-a-star-fingerstyle-guitar-ta.html (gelesen 11.03.2023)
[6] https://de.m.wikipedia.org/wiki/When_You_Wish_upon_a_Star (gelesen 11.03.2023)
[7] https://katebushsongs.wordpress.com/2019/04/12/in-search-of-peter-pan/ (gelesen 03.02.2023)
[8] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Peter_Pan (gelesen 01.04.2023)
[9] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.142

Versteckte Botschaften

Nach der Veröffentlichung der Taschenbuchausgabe von „How To Be Invisible“ beim Verlag Faber & Faber sind mehrere der handsignierten Exemplare bei Ebay eingestellt worden. Kate hatte für die Veröffentlichung ihrer Songtextsammlung eigens ein neues Vorwort geschrieben, Illustrator Jim Kay hatte ein neues Cover entworfen. Ausschließlich in England konnten handsignierte Exemplare des Buches erworben werden. Die werden nun bei Ebay für Preise zwischen 150 und 250 Euro angeboten. Zusätzlich gibt es einzelne Exemplare, in denen Kate mit unsichtbarer Tinte eine Botschaft hinterlassen hat. Eines dieser Bücher wird momentan bei Ebay für 1000 Euro angeboten, ein anderes ist wohl für 1500 Euro verkauft worden. Ob die Botschaften echt sind, ist aber schwer überprüfbar. Die bisher entdeckten Botschaften („Boo!“, „Can‘t See The Words For The Trees?“, „Now You‘ve Read Between The Lines“ und „Now You Don‘t, Now You See Me!“) lassen keine Rückschlüsse auf kommende Kate-Projekte zu.

Ian Bairnson ist gestorben

Der schottische Musiker Ian Bairnson ist im Alter von 69 Jahren gestorben. Bairnson beherrschte mehrere Instrumente, wurde aber vor allem als Gitarrist bekannt. Von ihm stammt das Gitarren-Solo für Kates ersten Hit Wuthering Heights, was oft fälschlicherweise David Gilmour zugeschrieben wurde.
Bairnson hat in den 1970er Jahren erst in der Band Pilot gespielt, dann gehörte er dem Alan Parsons Project an. Für Kate wirkte er vor allem auf den ersten beiden Alben mit und war dann noch bei einzelnen Songs für Never For Ever und The Dreaming vertreten. Neben dem besonderen Solo-Part auf Wuthering Heights hat Bairnson auf Oh To Be In Love und bei Delius mitgesungen und für Room For The Life auf Bierflaschen gespielt. Bairnson hat viele Jahrzehnte als Sessionmusiker gearbeitet, unter anderem für Paul McCartney (für den Song Mull Of Kintyre), Eberhard Schoener, Gary Brooker, Joe Cocker, Mick Fleetwood, Sting und Eric Clapton.
UPDATE Kate erinnert mit sehr einfühlsamen Worten auf ihrer Webseite an Bairnson, den sie nach den Aufnahmen zu ihren ersten Alben aus den Augen verloren hat. Kate enthüllt zudem, dass Bairnson sein berühmtes Wuthering Heights-Solo mit gebrochenem Arm eingespielt hat!

I was very sad to hear the news about the death of Ian Bairnson. He was a very sweet man.
He was a huge talent and had a fabulous voice with an extraordinary vocal range but he was mainly known for his guitar work.
We lost touch after we worked together on my early albums but I remember he had a lovely, warm smile and he played the inspired solo on Wuthering Heights with a broken arm. He was still wearing the cast! He was in a lot of pain but soldiered on and like all great artists, he truly suffered for his art.
Making my first album was pretty daunting and I was working with people I’d never met before. Ian was kind and supportive and that meant such a lot. Thank you, Ian.
Kate

Konzerte? Ein Album? Auf jeden Fall eine neue Firma.

2013 hatte Kate zur Vorbereitung der Konzertreihe Before the dawn die Firma Tesoro Production Ltd. gegründet.

Offenbar verdichten sich die Anzeichen, dass es in naher Zukunft neue Projekte von Kate geben wird. Mit dem Wechsel zum neuen Vertriebslabel The State51 Conspiracy, dem neuen Fish People-Logo (das wieder von Timorous Beasties gestaltet wurde (die auch schon bei der Konzertreihe Before the dawn involviert waren), mit den neuen Merchandising-Artikeln, der Taschenbuch-Ausgabe von How to be invisible und dem dazugehörigen Poster mit dem Buchcover ist die vielleicht wichtigste Nachricht eine andere: Kate hat im August 2022 eine neue Firma gegründet, die Tomato Twist Ltd.

Vom neuen Buchcover ist eine neues Poster berstellbar.

Der Sitz der Gesellschaft ist in London, man findet sie, wenn man unter dem Namen Catherine McIntosh sucht. Als Zweck der Gesellschaft wird „künstlerisches Schaffen“ angegeben. Bemerkenswert ist das aus mehreren Gründen. Die letzte Firma, die Kate gegründet hat, war die Tesoro Productions Ltd. Das stand im Zusammenhang mit der Konzertreihe Before the dawn. Allerdings wurde diese Firma bereits im Mai 2014 wieder aufgelöst. Die Tomato Twist Ltd hat ihr Büro bei der Ymu Business Management Limited, die auch Kate Firma Noble & Brite vertritt, die potenziell die Rechte an Kates Songs hält. Die YMU Business Management Ltd kümmert sich aber nicht nur um finanzielle und rechtliche Fragen der Künstler, die sie betreut. Die YMU-Gruppe wirbt unter anderem damit, dass sie Dienstleistungen wie die Abrechnung von Tourneen anbietet und sich um Budget- und Steuerfragen vor und nach einer Tour kümmert. Das Motto von YMU: „Wir sorgen dafür, dass alle unsere Kunden in sicheren Händen sind.“ Das Stichwort Tour passt zu der Neugründung mit Blick auf Tesoro, aber noch aus einem anderen Grund. Zuletzt gab es das Gerücht, dass Kate ein neues Album fertig habe und dass es von einer Tournee begleitet werden sollte. Das habe die Pandemie zunichte gemacht und auch danach sei es nicht möglich gewesen, entsprechende Konzerthallen anzumieten, so dass Konzerte und Album verschoben werden mussten. Wie gesagt: das ist ein Gerücht, das bisher durch nichts belegt ist. Und in der Vergangenheit gab es nur sehr spärliche Hinweise darauf, dass Kate tatsächlich erneut im Tonstudio war. Nur in einem Fall gab es eine Andeutung. Im April 2022 hatte der brasilianische Gitarrist Arthur Verocai dem englischen Guardian ein Interview gegeben und auf die Frage, mit wem er in der nächsten Zeit zusammenarbeiten würde, unter anderem geantwortet, dass er das nicht sagen könne, weil er eine Vertraulichkeitserklärung unterschreiben musste. Das allein klang schon sehr nach Kate, zumal es im Guardian mit dem Zusatz „mit einem der mysteriösesten Stars der Musik“ versehen war. Es bleibt wie immer: abwarten, auf offizielle Statements von Kate warten. Aber es klingt nach: It’s in the trees. It’s coming.

Die Stammdaten der neuen Firma Tomato Twist Ltd. Catherine McIntosh führt das Unternehmen.

Das Song-ABC: All We Ever Look For

Diesem Song nähere ich mich ein bisschen mit Ehrfurcht. Er gehört zu meinen absoluten Lieblingsliedern von Kate Bush. Zudem stammt er vom Album „Never For Ever“, das mich damals endgültig für Kate Bush gewonnen hatte. „All We Ever Look For“ ist wahrscheinlich nur Insidern bekannt, was ich sehr schade finde. Ich bewundere seine „abrupte Großartigkeit“ [1] und seine Thematik: der Song setzt „sich mit den Wünschen und Bedürfnissen auseinander, die sich von einer Generation zur nächsten wandeln“ [1]. Nicht nur die Thematik ist interessant, sondern auch die musikalische Gestaltung. Das Fairlight, ein Synthesizer, wird auf diesem Track mit großer Wirkung eingesetzt, viele Soundsamples werden integriert. An einer Stelle singt eine Gruppe von Hare-Krishna-Anhängern das „Maha-Mantra“, wobei Kate einen winzigen Teil einer Zeile aus diesem Mantra verwendet: Krishna, Hare Krishna“ – „a God“. Es folgen Vogelgezwitscher – „a Drug“ – und schließlich Applaus – „a Hug“ [2]. Diese Samples erklingen zu den Geräuschen einer Frau, die über einen Fußboden geht und Türen öffnet, hinter denen diese Töne warten. Es gibt keinen Text dazu. Die eben hinzugefügten assoziierten Worte „God“, „Drug“ und „Hug“ werden erst in der anschließenden Coda gesungen.
Ich liebe auch die wunderbaren Klänge, die sich durch das Lied ziehen. Kate Bushs Bruder Paddy spielt eine Koto (eine japanische Zither), Morris Pert spielt Pauken. Das alles gibt dem Lied ein fremdartiges Flair. Zusammen mit dem schreitenden Rhythmus entsteht der Eindruck eines altehrwürdigen, höfischen Tanzes. Auch die sparsam eingesetzten Backing-Vocals von Preston Heyman, Paddy Bush, Andrew Bryant und Gary Hurst gefallen mir [2]. Die Schönheit dieses Songs geht mir immer wieder unter die Haut. Vielleicht ist „All We Ever Look For“ ein Weckruf, auf jeden Fall vermittelt es eine Erkenntnis: „All we’re ever looking for / Is another open door.“
Kate Bush hat sich mehrmals zu diesem Song geäußert. Die Hauptthematik ist eine, die wir alle kennen – wir sind auf der Suche (nach Glück? Erfüllung? Sinn?), aber meist vergeblich oder auf eine falsche Art und Weise. „All We Ever Look For is about how we seek something, but in the wrong way, or at wrong times, so it is never found.“ [8] Unseren Eltern ging das schon so, dies überträgt sich abgewandelt auf die Kinder. „One of my new songs, ‚All We Ever Look For‘, it’s not about me. It’s about family relationships generally. Our parents got beaten physically. We get beaten psychologically.“ [6] In einem anderen Interview führt sie dies noch genauer aus: „It’s interesting the things that we do pick up from our parent – the way we look or little scratching habits or something and obviously the genetic thing must be in there. All the time it’s going round in a big circle – we are always looking for something, all of us, just people generally and so often we never get it. We’re looking for happiness, we’re looking for a little bit of truth from our children, we’re looking for God, and so seldom do we find it because we don’t really know how to look.“ [7]

Die polnische Flexi, die mit dem Titel All We Ever Look For gelistet ist, auf der aber wohl der Song Egypt drauf ist.

Wir alle streben nach einem Ideal, einem „Gott“, auch dies führt Kate Bush näher aus. „Belief is motivation, and without that you don’t do anything. I mean, if your ‚God‘ is to have a husband and children, and you actually fulfill that… Many people don’t see the thing they love and believe in as ‚God‘. Most of us aren’t happy, really, and it’s only because our God isn’t complete.“ [5] Es ist schon außergewöhnlich, dass sich Kate Bush so ausführlich zu dem äußert, was sie mit einem Song ausdrücken wollte. Das Thema schien ihr wirklich eine Herzensangelegenheit gewesen zu sein. Aber es ist ein Thema, das uns alle jeden Tag betrifft. Wir sind mit den Erwartungen anderer Menschen und unserer Familie (an uns) konfrontiert, das beeinflusst uns. Wir haben Erwartungen an uns selbst, streben nach einem Ziel. Wir sind ständig auf der Suche, öffnen alle möglichen Türen – aber sind es die richtigen? Und wir schaffen es meist nicht, uns darüber klar zu werden und es uns einzugestehen.
„All We Ever Look For“ ist ein tiefsinniges, fast bekenntnishaftes Lied. Die Aussagen von Kate Bush passen genau zum Text, hier verbirgt sich kein tieferes Geheimnis. Das wirkliche Wunder ist die subtile musikalische Gestaltung. Um das nachvollziehen zu können, werde ich mich am Text und den Noten [3] entlang hangeln. Das Lied ist im 4/4-Takt geschrieben, es gibt nur einige eingestreute 2/4-Takte. Die erste Strophe, beginnend mit „Just look at your father“ steht in Es-Dur. Der Chorus ab „All they ever want for you“ steht in E-Dur mit kurzen Ausflügen in die Paralleltonart cis-Moll. Es folgt dann eine kurze instrumentale Überleitung in Es-Dur. Der zweite Durchgang ist genauso tonartenmäßig gestaltet. Die zweite Strophe ab „The whims that we’re weeping for / Our parents would be beaten for“ steht in Es-Dur, der folgende Chorus in E-Dur. Im Text in diesem zweiten Chorus steht aber „All we ever look for“. Es wechselt jetzt die Sichtweise vom „they“ des ersten Chorus auf das „we“. In der zweiten Strophe hört man Männerstimmen im Hintergrund, die aber eigentlich nur so etwas wie unterstützende Akkorde singen. Im zweiten Chorus tritt Kate Bush als leise Hintergrundstimme dazu. Mit dem „we“ meint sie offensichtlich sich selbst.
Es gibt in diesem Ablauf zwei getrennte Welten. Es-Dur ist die Welt der Erzählerin. E-Dur, einen Halbton höher, ist die Welt der Erwartungen und Wünsche. Im ersten Chorus ist es die Welt der Erwartungen der anderen Menschen, im zweiten Chorus sind wir bei uns selbst angekommen. Es ist eine musikalische Wanderung von außen nach innen, zu uns selbst. Aber Es-Dur und E-Dur sind harmonisch sehr weit voneinander entfernt. Allein schon daran sieht man, dass die Welt unserer Erwartungen und Wünsche etwas ist, was von uns (Es-Dur) auf harmonischem Weg nur schwer erreichbar ist. Die Tonarten sind – wie immer bei Kate Bush – sehr subtil und treffend eingesetzt. Unsere reale Welt steht in Es-Dur. Diese Tonart ist „nicht nur tiefstes Dunkel, sondern zugleich die Wiederaufwärtswendung zum Licht“. Sie besitzt einen starken, positiver Charakter, einen Charakter des Heroischen [4]. Ja, die Protagonistin hat Zweifel, Ängste, aber sie lässt sich davon nicht unterkriegen. Im Inneren ist sie eine Heldin.

… und die polnische Flexi, die mit dem Song Blow Away gelistet ist, auf der sich aber wohl All We Ever Look For befindet

E-Dur steht für die Sphäre der Erwartungen, der Wünsche, der Suche. Beckh meint zu dieser Tonart, sie „hat die Helligkeit einer ganz anderen Welt, einer Welt der Träume, des Dichterischen, der höheren Bilderschau, in der wir der gewöhnlichen Tageswelt gänzlich entrückt sind“ [4]. Zugleich ist sie eine Tonart der Herzenswärme, der Herzensinnerlichkeit, der Liebeswärme [4]. Kate Bush schaut offenbar liebevoll und mit Verständnis auf die Erwartungen anderer Menschen. Aber sie hat auch keine Illusionen, Erwartungen sind Träume, sind nichts aus der gewöhnlichen Tageswelt. Aber nach dem zweiten Chorus geht der Song weiter, wir kommen in eine Phase der Verarbeitung. Der Übergang zur Coda ist rein instrumental mit den sich öffnenden Türen. Die Protagonistin probiert neue Wege aus. Wie oben schon geschrieben gibt es hier keinen Text. Dieser Übergang beginnt kurz im Es-Dur der Realität. Hier sind wir nach dem zweiten Chorus wieder angekommen. Dann aber wandelt es sich schnell in eine ganz neue Tonart, das es-Moll. Unser positives Es-Dur hat sich eingedunkelt. Die eigentliche Coda beginnt mit „All we ever look vor“ in es-Moll und geht auch so weiter, mit Ausnahme des letzten Satzes. Der ist wieder in Es-Dur: „But we never do score.“ Rein instrumental geht es dann in Es-Dur dem Ende zu.
Nach Beckh [4] „vollzieht sich [bei es-Moll] ein Übergang von der Sinneswelt in die geistige Welt, ein Übergang, der über die Schwelle führt, die Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Tagesansicht und Nachtansicht der Welt, Sinneswelt und geistige Welt voneinander trennt“. Diese Tonart „kann als die im geistigen Sinne ernsteste aller Tonarten verstanden werden“, sie lässt uns „vor allem den Ernst des Schwellenübergangs, mitunter die Tragik des Schwellenübergangs erleben“. Eine passendere Tonart für ein Akzeptieren der Situation lässt sich kaum finden. Ja, es gibt Erwartungen, das Umgehen damit und mit dem Scheitern ist eine ernste Sache. Kate Bush sagt es selbst – es bleibt uns aber nichts anderes übrig: „The last line – „All we ever look for – but we never did score.“ Well, that’s the way it is – you do get faced sometimes with futile situations. But the answer is not to kill yourself. You have to accept it, you have to cope with it.“ [6] Und so wandelt sich die reale Welt nach es-Moll, dunkelt sich ein. Es ist ein mühsamer Prozess der Verarbeitung. Aber am Schluss sind wir wieder in der Welt von Es-Dur: „You have to accept it, you have to cope with it“ [6]. Es gelingt!
Ich finde es faszinierend, wie der Song um diese Töne E und Es kreist und so zwei Welten subtil musikalisch getrennt voneinander abbildet. Die Botschaft hinter „All We Ever Look For“ liegt offen vor uns, hier verbirgt sich kein Geheimnis. Das Geheimnis liegt hier in den Fundamenten der Musik verborgen. Unser reales Leben und unsere Erwartungen und Wünsche haben nichts miteinander zu tun. Das Verarbeiten dieser Erkenntnis ist ein schwieriger Prozess, unsere Sinnsuche selbst ist ein schwieriger Prozess. Aber wenn wir durch diesen Prozess hindurch sind, sind wir mit uns im Reinen. „All We Ever Look For“ ist ein magischer und einfach wunderschöner Song von einem wunderschönen Album.
Kate Bush hat hier wahrscheinlich ihren eigenen Lernprozess beschrieben. Eine Passage aus einem der Interviews deutet darauf hin: „[…] everything in my life goes into my music. Everything that happens to me affects me, and it comes out in my music. If I did become perfect, and was no longer vulnerable, perhaps I wouldn’t get the same shocks of emotion that make me want to write.“ [5] Vielleicht erklärt dieser letzte Satz auch, warum wir schon so lange auf neue Musik von ihr warten. © Achim/aHAJ

[1] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.118
[2] https://www.katebushencyclopedia.com/all-we-ever-look-for (gelesen 27.01.2023)
[3] “‪Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.57ff
[4] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.124 (Es-Dur), S.263ff (E-Dur), S.102 (es-Moll)
[5] Mike Nicholls: „Among the Bushes“. Interview „Record Mirror“, 1980
[6] Derek Jewell“: „How To Write Songs And Influence People“. Interview „Sunday Times“. 05.10.1980
[7] Interview „Never for Ever“. EMI 1980
[8] Kate Bush: „Them Bats and Doves“. Kate Bush Club Issue 7. 09/1980.

„Entzückend, lustig, liebenswert“

Illustrator Jim Kay, der das neue Cover für die Taschenbuch-Ausgabe des Lyrik-Buches How to be invisible entworfen hat, hat sich bei Instagram zu Wort gemeldet: „Ich muss sagen, dass Kate Bush die entzückendste, lustigste und liebenswerteste Person ist, mit der ich je das Glück hatte, mich zu unterhalten. Ich war vor dem Telefonat so nervös, aber innerhalb von 30 Sekunden vergisst du das alles und sie bringt dich zum Lachen. Danke Faber für diese Gelegenheit und danke Kate, für alles.“ Das Cover ist demnach nach einer Idee von Kate entstanden, die Kay dann umgesetzt hat. Auch das KT-Symbol findet sich in der Zeichnung wieder – in einem Blatt unterhalb des Wortes „Invisible“. Kay ist freier Illustrator und hat vor allem für die Schmuckausgaben der Harry Potter-Reihe die Illustrationen entworfen.

Die (neue) Geschichte der Fischmenschen

Mit dem Wechsel zu dem Marketing- und Vertriebslabel state51 kehrt offenbar auch mehr Humor auf der Internetseite von Kate ein. Wer beim neuen Logo rechts auf den Kreis geht, der landet auf einer Seite, die sich dem Mythos der Fish People widmet. Und wir erfahren, dass die Fischmenschen eine Zivilisation waren, die etwa 900 Jahre vor Christus lebte und plötzlich verschwand: „Über sie ist wenig bekannt, außer, dass sie eines Tages aus den Ozeanen an Land gingen, als niemand hinsah. Es wird angenommen, dass sie ihrer Zeit um Jahrhunderte voraus waren. Ihre Kultur war nicht durch Reichtum oder sozialen Status definiert und sie schafften jegliche Gewalt ab, da sie an die Harmonie der Natur und die Gleichheit aller Ozeane glaubten.“ Die Fischmenschen „konnten gleichzeitig mit allen Wasserlebewesen und mit den meisten Menschen in der westlichen Hemisphäre sprechen. Es gab bestimmte Frequenzen in ihrer Sprache, die nur von kleinen Krebstieren und sehr kleinen Kindern verstanden werden konnten. Die volle Bedeutung dessen, woher ihre unverwechselbaren Buchstabenformen stammen, ist verloren gegangen.“ Aber es gibt eine sehr schöne Erklärung für die Typografie, die den Bogen von den Walgesängen auf The Kick Inside bis zu dem Vogelgezwitscher auf Aerial schlägt: Die Buchstabenform habe etwas mit den komplexen Routen der Zugvögel und den Unterwassersäugetieren zu tun. Schön auch die letzte These: „Fischmenschen sollen eines Nachts, als alle beim Abendessen waren, zurück ins Meer gegangen sein, und die Prophezeiung besagt, dass sie wieder an Land zurückkehren werden, wenn ihre Lehren gebraucht würden, um eine verwundete Welt zu heilen.“ Die Buchstabenform beschäftigt die Marketingexperten dann doch noch weiter. Als Beweis werden Zeichnungen aus dem 19. Jahrhundert präsentiert (Bild unten), die Kopien von Höhlenmalereien von einer mediterranen Insel zeigen – natürlich erhalten und archiviert im Britischen Museum. Und es folgt noch eine Entschlüsselung von Professor Barnbrook (Foto oben), der die Buchstabenformen in 4 Leveln erläutert – wobei Level 2 mit Deeper Understanding betitelt ist. Bei Professor Barnbrook könnte es sich um Jonathan Barnbrook handeln, einem englischen Grafikdesigner, der auch Schrifttypen entwickelt und in London lebt. Barnbrook hat unter anderem die Alben Heathen, Reality, The Next Day und Blackstar von David Bowie designed und die entsprechende Typografie entwickelt. Von ihm entwickelte Schrifttypen heißen dann auch schon mal Bastard, False Idol, Moron (Trottel) oder Sarcastic.

Neue Logos, neuer Partner

Kate wechselt offenbar ihr Vertriebslabel und wechselt mit Fish People zum 1. März von Warner Music zu The State51 Conspiracy. Das gilt für alle Alben ab der The Dreaming-Ära; mit The Kick Inside, Lionheart und Never for Ever wechselt sie das Label ausschließlich in den USA. The State51 Conspiracy ist ein unabhängiges Label, das 1992 in England gegründet wurde und unter anderem mit Van Morrison, Donovan, Keving Godley und den Organisatoren des Glastonbury Festival (wo schon öfter über einen Live-Auftritt von Kate spekuliert wurde) zusammenarbeitet. In einem Statement auf Twitter zeigte sich The State51 Conspiracy „zutiefst geehrt“, die Vermarktung der Alben für Fish People übernehmen zu dürfen. Weiter heißt es: „Wir freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit an Katalogveröffentlichungen, einschließlich einiger Sonderpräsentationen.“ So wird zum Beispiel eine Neuveröffentlichung von Hounds Of Love im Laufe des Jahres in Aussicht gestellt. Ein neues Album wurde allerdings nicht angekündigt. Erstes Ergebnis der Kooperation ist die komplette Überarbeitung der Fish People-Logos auf Kates Seite, dazu können auch im Shop neue T-Shirts, Hoodies , Puzzle, Schürzen und weitere Fanartikel vorbestellt werden. Sie sollen ab dem 24. März zur Verfügung stehen.

Mode, inspiriert von The Ninth Wave

Bei der Londoner Fashion Show hat Modedesigner Steven Stokey-Daley, der mit seinem Label SSDaley unter anderem Künstler wie Musiker Harry Styles einkleidet, jetzt seine neue Herbst- und Winterkollektion 2023 präsentiert – und die ist von der Songsuite The Ninth Wave inspiriert. „Als ich The Ninth Wave von Kate Bush hörte, fand ich das ganze Universum darin“, wird Daley zitiert. Er sehe Musik als Kleidung und habe sich bei dieser Kollektion von der Musik leiten lassen. Daley: „Der Sog des Wassers hat uns in eine frische neue Welt geführt, eine Welt, in der es um das Selbstvertrauen geht, der zu sein, der ich sein möchte.“ Eröffnet wurde die Show von dem englischen Ausnahme-Schauspieler Sir Ian McKellen, ebenfalls Fan von Kate. Er hatte ihr nach den Before the Dawn-Konzerten den Evening Standard Theatre Awards verliehen. McKellen las aus Tennysons „The Coming of Arthur“, von dem sich Kate zu The Ninth Wave hatte inspirieren lassen und aus dem die Textzeilen „Wave after wave, each mightier than the last, til last, a ninth one…“ stammen. Kate hatte das noch etwas längere Tennyson-Zitat auf dem Konfetti zur Einleitung der The Ninth Wave Suite genutzt, Daley hat ein blaues Shirt mit dem Spruch entwickelt. McKellen trug übrigens eine seidene Matrosenmütze, einen marineblauen Caban-Mantel, Hemd, Schal und eine weit geschnittene blaue Hose. Daley, der aus Liverpool stammt, hat in seiner TNW-Kollektion das Porträt eines Seemanns aufgegriffen, Kragen verlängert, nautische Streifen mit seinen Logos neu interpretiert und locker fallende Seidenkrawatten über tief geknöpfte Hemden fallen lassen. In einer imaginären Seefahreruniform wurden Hemden zerrissen und mit paillettenbesetzten Slips neben handgestrickten Sturmhauben getragen. Er hat Kapuzenjacke mit asymmetrischen Verschlüssen mit braunen Baumwoll-Cargohosen kombiniert und auch sein Markenzeichen, Strickwaren mit lebensechten Drucken oder getrockneten Blumen verziert, in die Kollektion aufgenommen. Anzugjacken wurden mit Matrosenkragen geschnitten, mit kontrastierenden Handnähten gesäumt, mit handgefertigten Keramikknöpfen abgerundet und auf Seidenhemden getragen. Zur Kollektion gehört auch Damenmode, bestehend aus schräg geschnittenen Seidenkleidern, Paillettenbesätzen und zart geschnittenen Silhouetten. Bezahlbar dürfte das alles nicht sein – aber immerhin gut ausschauen. Und vielleicht kann man ja doch auf das Tennyson-Shirt sparen. Das dürfte so um die 400 bis 500 Pfund kosten.

Tour-Andenken versteigert

Auf der englischen Online-Plattform Omega Auctions sind jetzt mehrere bemerkenswerte Andenken von der Before The Dawn-Tour versteigert worden, die offenbar einem Crew-Mitglied gehört haben. Besonders sind vor allem die In-Ear-Monitoring-Kopfhörer der Nobelmarke Jerry Harvey Audio, die mit dem Aufdruck „Mrs McIntosh“ versehen sind – entweder ein Hinweis darauf, dass Kate verheiratet ist und den Nachnamen ihres Mannes angenommen hat, oder ein Hinweis auf ihren besonderen Humor.

Dazu gibt es einen Satz Songtexte mit handgeschriebenen Hinweisen (etwa bei dem Song Lily), eine To-do-Liste und ein Ablaufplan für die Proben für den 29. Juli 2014 – der ebenfalls besonders ist, weil er von der Begrüßung (Good Morning!) kurz und knapp den Ablauf vorgibt. An dem Tag wurden mit Hello Earth, Jig Of Life und Waking The Witch von 11 bis 13 Uhr drei Songs geprobt, danach gab es Mittagessen, 30 Minuten Zeit zum Aufräumen und von 14.30 bis 19 Uhr die komplette Version von The Ninth Wave – das gemeinsame Abendessen nicht zu vergessen. Ein zweiter Auktionsposten enthält eine Sammlung von Dokumenten: Liedtexte mit kommentierten Anweisungen, Probenpläne und Produktionsnotizen sowie weitere Teile und Ersatzteile für Kate Bushs In-Ear-Monitoring-Kopfhörer. Dritter Posten sind ein Kapuzenanorak von The North Face und ein Shirt, beides in schwarz und der Größe XL, die ausschließlich an Cast und Crew verteilt wurden. Jacke und Shirt sind unter anderem mit dem gestickten Design ‚The KT Fellowship presents Before The Dawn Cast & Crew‘ versehen. Der namentlich nicht genannte Tontechniker, der die Tour-Andenken jetzt zur Versteigerung angeboten hat, hatte 2010 auch für Sting gearbeitet und von der Tour ebenfalls Andenken eingestellt. Für seine Before The Dawn-Andenken konnte er insgesamt 2150 Pfund erzielen. Davon entfielen 700 Pfund auf die Kopfhörer – was vergleichsweise günstig ist. Neu starten die bei 659 Dollar, die Top-Kopfhörer kosten 2200 Dollar – und wer wie Kate spezielle benötigt, legt noch mal Geld drauf…

Das Song-ABC: The Morning Fog

„The Morning Fog“  ist ein sehr spannender und vieldeutiger Song, obwohl er auf dem ersten Blick ganz eindeutig erscheint. Aber wir sind bei Kate Bush, so etwas sollte uns nicht überraschen. Der Song beschließt die zweite Seite des Albums „Hounds Of Love“ und damit die Suite „The Ninth Wave“, die diese zweite Hälfte des Albums einnimmt. Um hinter das Geheimnis dieses Songs zu gehen, muss zuerst einmal geklärt werden, worum es in dieser Suite geht. „The Morning Fog“ ist der siebte und letzte Track dieser Suite, die eigentlich eine Art Mini-Konzeptalbum ist. Es geht um eine Frau, die nach einem Schiffsunglück allein im Meer zu ertrinken droht. Kate Bush sagt klar, worum es geht: „The Ninth Wave was a film, that’s how I thought of it. It’s the idea of this person being in the water, how they’ve got there, we don’t know. But the idea is that they’ve been on a ship and they’ve been washed over the side so they’re alone in this water.“ [6] „The Morning Fog“ beendet diese Suite. Es sieht so aus, dass die Frau ihre Nahtoderfahrung überlebt und wieder zu Bewusstsein kommt. Da sie dem Tod so nahe gekommen ist, verspricht sie, das Leben besser zu schätzen, ebenso wie diejenigen, die an ihrem Leben teilhaben. So der Text.
Das Lied hat unheimlich viel Atmosphäre, weil es die Auflösung und der Höhepunkt dieser unglaublichen Geschichte ist und nach so viel Dunkel einen helleren Ton anschlägt. Auch die Biographen sehen das so. Graeme Thomson ist voller Begeisterung: „Schließlich kündigt ‚The Morning Fog‘ den kommenden Morgen und eine Art emotionale Rettung an. Die Nebelschwaden sind eine geistige Macht, die über die Wellen zieht und das Mädchen wieder ans Land geleitet, zurück ins Leben, denn sie hat es überstanden und ist erfüllt von ihrer wiederentdeckten Liebe“ [1, S.263]. Für ihn ist es ein Song wie von warmen Sonnenlicht durchdrungen, „[…] der die Freude und Dankbarkeit eines Menschen ausdrückt, der von einer weiten Reise zurückkehrt – „I kiss the ground“ – und der nun entschlossen ist, die wirklich wichtigen Dinge zu wertschätzen: das Leben, die Liebe, die Natur und die Musik. Man kann es als Botschaft an ihr eigenes Ich verstehen: Lass dieses Glück nicht vergehen, singe davon, feiere es“ [1, S. 273]. Die musikalische Gestaltung trägt für Graeme Thomson viel zu dieser Wirkung bei, insbesondere wird das Gitarrenspiel von John Williams hervorgehoben: „John Williams spielte einen wunderbaren Gitarrenpart für „The Morning Fog“ ein – klare schimmernde Töne wie Tautropfen, wie eine Knospe, die sich zur Blüte öffnet“ [1, S. 276]. Dem ist kaum etwas hinzuzufügen.

Schauen wir auf den Text, so scheint alles diese helle und positive Botschaft eines Happy Ends zu untermauern. Der Morgen ist gekommen, die Heldin ist gerettet und an Land gebracht: „I’m falling / And I’d love to hold you know / I’ll kiss the ground / I’ll tell my mother / I’ll tell my father / I’ll tell my loved one / I’ll tell my brothers / How much I love them“ [2]. Die Biographen lassen es dabei bewenden und wir könnten es uns leicht machen und mit einer weiteren Analyse aufhören. Aber ist der positive Schluss wirklich so eindeutig? Sam Liddicott zum Beispiel äußert in einem sehr lesenswerten Essay [9] Zweifel. Für ihn besteht Unklarheit darüber, ob es sich um eine Rettung handelt, es sich um eine Vision der Frau handelt oder ob hier ihr Geist aus dem Jenseits spricht. Im Folgenden will ich versuchen, mich einer Klärung dieser Frage zu nähern. Sicher ist, dass es keine Eindeutigkeit gibt. Der Text sagt nichts aus über die Umstände dieser Rettung. Es könnte also sein, dass dies ein Wahn, eine Wunschvorstellung, eine Nahtoderfahrung ist. Die oben zitierten letzten Zeilen zeigen vielleicht eine Wunschvorstellung an. Die Protagonistin möchte, dass diese Dinge geschehen. Sie möchte ihren geliebten Personen sagen, wie sie sich fühlt. Kate Bush spricht 1985 davon, dass dieser Song ein Song der Hoffnung und des Lichts ist: „Morning Fog“ is the symbol of light and hope. It’s the end of the side, and if you ever have any control over endings they should always, I feel, have some kind of light in there“[7]. Das gibt keine Hinweise auf unsere Fragestellung, sie sagt nur, dass es ein positiver Schluss ist. Aber das Hinübergehen in den Himmel ist ja auch eine positive Wendung bzw. kann es sein.
Im Jahr 1992 ist Kate Bush dann schon eindeutiger beim positiven Schluss und neigt der Rettungstheorie zu: “Well, that’s really meant to be the rescue of the whole situation, where now suddenly out of all this darkness and weight comes light. You know, the weightiness is gone and here’s the morning, and it’s meant to feel very positive and bright and uplifting from the rest of dense, darkness of the previous track. And although it doesn’t say so, in my mind this was the song where they were rescued, where they get pulled out of the water. […] And it was also meant to be one of those kind of „thank you and goodnight“ songs. You know, the little finale where everyone does a little dance and then the bow and then they leave the stage“ [6]. Aber ganz deutlich sagt sie, dass dies nicht im Text steht: „And although it doesn’t say so, in my mind this was the song where they were rescued […]“.
In den „Before the Dawn“-Shows im Jahr 2014 gab es ein noch eindeutigeres Ende: Die hoffnungslose Situation löst sich auf. Die Protagonistin wird lebend aus dem Wasser gezogen. Eine glückliche und triumphale Auflösung für das Publikum! Wieder könnten wir nun aufhören. Aber die Fragestellung ist für mich immer noch nicht befriedigend geklärt. Im Laufe der Zeit hat sich offenbar Kate Bush immer klarer dafür entschieden, die Geschichte positiv mit einer Rettung enden zu lassen. Aber war dies im Moment der Komposition auch schon so eindeutig? Ist da nicht trotzdem immer noch diese zweite, dunklere Ebene? Und wird Kate Bush nicht VOR diesem Song in den Shows wie in einem Totenzug von der Bühne getragen? Sam Liddicott [9] wirft in den Raum, dass Kate Bush als erste Zugabe in der Konzertreihe ausgerechnet „Among Angels“ brachte und dann „Cloudbusting“. Spielt das auf die Möglichkeit an, dass die Heldin im übertragenen Sinne unter Engeln ist und sich ganz am Ende in den Wolken befindet? Hier muss aber hinzugefügt werden, dass diese Zugaben nicht direkt auf „The Morning Fog“ folgen.
Schaut man sich die Suite „The Ninth Wave“ insgesamt an, so wird die Stimmung im Laufe der Suite immer dunkler. Mir jedenfalls geht es so, dass ab „Watching You Without Me“ alles offen für Interpretationen ist. Das Lied handelt von geliebten Menschen, die darauf warten, dass die Protagonistin nach Hause kommt, ohne zu wissen, wo sie ist. Die Protagonistin ist wie eine unsichtbare Präsenz da, wie ein Geist. Für mich kippt hier die Geschichte. Dies könnte der Punkt sein, an dem sie dem unerbittlichen Schrecken der Wellen zu erliegen beginnt.  Es könnte sein, dass alles danach, also insbesondere „Hello Earth“ und „The Morning Fog“, ein Todestraum ist, ein Beobachten aus dem Himmel heraus. Ist die Protagonistin am Ende von „Hello Earth“ in einer Art Himmel angekommen?
Das ist eine Frage, die sich anhand des Textes und der musikalischen Gestaltung vielleicht einfacher beantworten lässt. Lassen sich hier textliche Indizien für das Hinübergehen in eine andere Welt finden? Das Ende von „Hello Earth“ beginnt mit den Worten „Why did I go? / Why did I go?“ [2]. Die Protagonistin stellt sich die Frage, warum sie gehen muss. Das klingt nach einer Erkenntnis im Moment des Todes. Dann kommt diese ganz außerordentliche Passage mit dem deutschen Text: „Tiefer, tiefer / Irgendwo in der Tiefe gibt es ein Licht“ [2]. Ich nehme das wörtlich: Die Protagonistin sinkt hinab in die Tiefe, auf ein geheimnisvolles Licht zu, das könnte das Ertrinken und das Hinübergehen in eine andere Welt sein. Die letzten Worte sind „Go to sleep little earth“ [2], ein Abschied von der Welt. Ohne Akkorde verdämmert, erstirbt „Hello Earth“ auf einem hohen Cis, dem Kernton dieses Songs.
„Hello Earth“ spricht also von Text und musikalischer Gestaltung her für die These des Übergangs in ein Totenreich, in einen Himmel. Gibt es auch in „The Morning Fog“ dafür Indizien? Unser Song beginnt dann richtig laut nach diesem ganz leisen, verlöschenden Ende von „Hello Earth“. Es beginnt mit „The light / Begin to bleed / Begin to breathe / Begin to speak“ [2]. Fasst man dies mit dem Schlusstext von „Hello Earth“ zusammen, dann kann dies so gelesen werden, dass das Licht in der Tiefe erreicht wurde und dass dieses Licht wie eine überirdische Erscheinung zu sprechen beginnt. Ist das eine Engelserscheinung am Tor zum Himmel? Und dann wird die Protagonistin laut dem Text wiedergeboren: „I am falling / […] Being born again / Into the sweet morning fog“ [2]. Wer in die Tiefe hinabsinkt und dort ein sich auftuendes Licht sieht, der ertrinkt. Es gibt hier im Text nichts, das etwas anderes aussagt. Und woher fällt sie? Auf den rettenden Strand kann sie ja aus dem Meer nicht gefallen sein. Hat sie eine überirdische Macht aufgenommen und setzt sie nun in einem himmlischen Gefilde ab?

Schauen wir nun zusätzlich auf die verwendeten Symbole. Die „Morgenröte“ ist ein Symbol für Hoffnung, Neubeginn und reichhaltige Chancen zur Erfüllung der eigenen Persönlichkeit [4]. Das passt zu Wiedergeburt jeder Art, also sowohl zum Übergang in den Himmel als auch zu einer Rettung. Das zweite Symbol ist für mich verräterischer. Fragt sich eigentlich niemand, warum im Titel dieses Songs ausgerechnet der Nebel vorkommt? Warum kommt im Titel nichts mit „Rettung“ vor? Der Nebel bildete „in vielen Mythologien einen Schleier über den Übergang zum Jenseits“ [5]. Auch dies spricht für mich eher für die Himmelsübergangs-Theorie. Schauen wir jetzt einmal genauer auf die musikalische Gestaltung, da lassen sich weitere Indizien finden. „The Morning Fog“ ist in einem flotten 4/4-Takt gehalten, es gibt nur Dur-Akkorde , die Tonart ist ein eindeutiges E-Dur [2]. Nach viel cis-Moll in „Hello Earth“ ist dies eine Art „Erlösung“ in der Dur-Parallele E-Dur [2]. E-Dur ist aber eigentlich nur ein „aufgehelltes“ cis-Moll, das ist kein grundsätzlicher Wandel. Es ist nur eine Stimmungsnuance. Bei einer Rettung würde ich eine ganz andere Tonart erwarten, um dies klar und deutlich abzugrenzen. Aber das fehlt, es gibt nur mehr Licht.
Die Songstruktur ist einfach, es gibt zwei Takte zu Beginn, dann ein sich beständig wiederholendes Akkordschema [2]. Es ist eine konstante Abfolge der Akkorde E-Dur – A-Dur – H-Dur – A-Dur. Reines E-Dur ist das, Tonika – Subdominante – Dominante – Subdominante [2]. Volkmar Kramarz nennt diese Akkordfolge die „Dur-Formel“ [8], es ist eine Vereinfachung des Blues-Schemas [8]. „Die Dur-Formel lässt sich gut einsetzen bei Songs, die betont kompakt und übersichtlich sind, die zum Mitsingen und Mitmachen einladen, die eine eingängige Hookline haben oder die Spaß und Stimmung bringen sollen“ [8]. Es ist eine Akkordfolge, die Leben hereinbringt: „Sehr gut geeignet sind Songs mit diesem Muster daher übrigens als Zugaben oder als Songs, die mal wieder richtig Schwung in den Laden bringen sollen.“ [8] Das entspricht genau den Intentionen von Kate Bush: „And it was also meant to be one of those kind of „thank you and goodnight“ songs. You know, the little finale where everyone does a little dance and then the bow and then they leave the stage“ [6]. Rettung oder Himmelsübergang, das passt zu beiden Deutungen.
Interessanter ist es mit den beiden Takten zu Beginn, vor dieser wiederkehrenden Akkordfolge. Im ersten Takt haben wir den H-Dur-Akkord, dazu die Melodietöne Fis – H (abwärts) [2]. Im zweiten Takt haben wir den A-Dur-Akkord, dazu die Melodietöne E und H (abwärts) [2]. Es ist sehr ungewöhnlich, dass ein Song nicht mit dem Kernakkord der Haupttonart, also dem E-Dur-Akkord, beginnt, der taucht erst im dritten Takt auf. Der zweite Takt ist in E-Dur (H ist die Dominante, A die Subdominante), aber der erste Takt kann als reines H-Dur (Fis ist die Dominante) interpretiert werden. Der Schlusstakt des Songs ist identisch mit dem Anfangstakt (reines H-Dur) [2], die Akkordfolge bricht auf H-Dur ab. Es fehlt ein Takt mit dem E-Dur-Akkord, um „The Morning Fog“ richtig in der Tonart abzuschließen. Das ist sehr ungewöhnlich, es ist ein offenes Ende. Anfang und Ende sind also lesbar so, als ob sie in einer anderen Tonart geschrieben worden wären, einer Tonart, die dazu noch ständig in der durchlaufenden Akkordfolge präsent ist. Schauen wir auf die Tonartenbedeutung gemäß Beckh [3], so passt E-Dur perfekt zum Song. E-Dur ist „Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit, Liebeswärme“. Es hat aber auch „[…] die Helligkeit einer ganz anderen Welt, einer Welt der Träume, des Dichterischen, der höheren Bilderschau, in der wir der gewöhnlichen Tageswelt gänzlich entrückt sind“ [3]. Das ist für beide Deutungen offen.
Bei H-Dur ist es aber spannender. Diese Tonart ist „nicht mehr ganz im Irdischen, enthält einen verklärten Nachglanz dieses Irdischen und damit zugleich die Vorahnung des Hinübergehens“ [3]. Sie ist „ein Überirdisches oder nicht mehr im gewöhnlichen Sinne Nur-Irdisches, ein Höheres, das den Jammer des Irdischen wiederum verklärt und erlöst“ [3]. Kate Bush ist eine Meisterin der Tonarten, Beckh hat zu H-Dur eine ganz klare Meinung: „Und vollends von H-Dur wissen alle wahren, am Tonartenverständnis teilhabenden Tondichter, daß man diese ganz außerordentliche, so hoch über dem Irdischen liegende Tonart eigentlich nur ganz selten, dann aber auch so, daß sie etwas ganz bedeutsames ausdrückt, verwendet“ [3]. Schaut man auf das (subtil versteckte) Gewicht, dass Kate Bush der Tonart H-Dur hier verleiht und schaut man auf diese Tonarten-Bedeutung, dann neigt sich für mich die Waagschale doch der Himmelsübergangs-Theorie zu. Aber das ist meine Interpretation.
Ich habe das Gefühl, dass Kate Bush den letzten Track offen lassen wollte. Es gibt keine wirkliche Bestätigung, dass die auf See gestrandete Frau gerettet wurde. Es gibt auch keinen direkten Hinweis darauf, dass sie gestorben ist oder einfach von allem geträumt hat. Es lassen sich im Song Hinweise finden, die für den Tod und eine Auferstehung im Himmel sprechen – aber eindeutig ist es nicht. Kate Bush sagte im Interview von 1992 [6], dass es eine Rettung gibt, aber ich glaube, das war eher, um eine Antwort zu geben und den Menschen ein Gefühl der Aufmunterung zu geben. 
Das ist das unglaublich Faszinierende an „The Ninth Wave“ und damit auch an „The Morning Fog“: Es gibt keine Wahrheit oder klare Antwort. Wie bei einigen großartigen Filmen bleibt ein Hauch von Mysterium. Man denkt, man hat alles verstanden, aber sicher sein kann man sich nicht. Das ist das Großartige an der Musik von Kate Bush: sie ist ein Mysterium. Und hier, bei „The Morning Fog“, da sehen wir einen Ozean voller Geheimnis, voller Doppeldeutigkeit, ein wahres, nicht entschlüsselbares Mysterium. Ich liebe Kate Bush dafür, dass sie uns so etwas zu Füßen legt. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013.
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.120ff (The Morning Fog) und S.95ff (Hello Earth)
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.263ff (E-Dur) und S.171ff (H-Dur)
[4] Günther Harnisch: Herders großes Traumlexikon. Erftstadt 2007. Verlag HOHE Gmbh. S.233
[5] Leonard Reiter: Symbole in Märchen, Mythen und Therapie. Thüngersheim 2010. Vierte, erweiterte Auflage. Verlag Leonard Reiter. S.271
[6] Richard Skinner: Classic Albums interview: Hounds Of Love. Radio 1 (UK), 26. 01.1992
[7] „Hounds Of Love Songs“. Kate Bush Club, Issue 18. 1985
[8] Volkmar Kramarz: Die Popformeln. Die Harmoniemodelle der Hitproduzenten. Bonn 2006. Voggenreiter Verlag. S.117
[9]  https://www.musicmusingsandsuch.com/musicmusingsandsuch/2022/8/27/feature-kate-bushs-hounds-of-love-at-thirty-seven-the-ninth-wave-the-rescue (gelesen 15.01.2023)