Das Song-ABC: Houdini

abc„Houdini“ – dieser Song vom Album „The Dreaming“ ist wieder eines dieser geheimnisvollen Lieder von Kate Bush, das eine ganz konkrete Begebenheit der Geschichte in einem musikalischen Moment zusammenzieht.
Harry Houdini war ein amerikanischer Entfesselungs- und Zauberkünstler (dies und das Folgende aus [1]). Seine Ehefrau Wilhelmine Beatrice „Bess“ Rahner fungierte viele Jahre als seine Bühnenassistentin. Weltberühmt war er für seine Entfesselungsnummern, die er spektakulär unter Lebensgefahr, etwa in Flüssen unter Wasser, ausführte. Diese Unterwasserentfesselungen zeigte Houdini auch auf der Bühne. Er machte aber auch den Kampf gegen betrügerische Spiritisten zu seiner Lebensaufgabe. Er wurde Mitglied eines Komitees der Wissenschaftszeitschrift „Scientific American“, die einen Geldpreis für diejenigen ausgeschrieben hatte, die vor dieser Jury übernatürliche Fähigkeiten beweisen konnten – ein Preis, der dank Houdini nie vergeben wurde. Houdini infiltrierte spiritistische Gesellschaften mit Gewährsleuten, ließ betrügerische Spiritisten durch Detektive ausspähen, beteiligte sich verkleidet an Séancen und hielt hierüber zahlreiche Vorträge. Die Aufklärung über Spiritistentricks machte er zum regulären Bestandteil seiner Shows, wodurch er sich in der gut florierenden Spiritisten-Zunft viele Feinde einhandelte. Seinen Kampf gegen Spiritisten setzte Houdini noch im Tod fort: Er hatte mit seiner Frau Bess einen Code (Rosabel, believe) vereinbart. Zehn Jahre lang lud Bess verschiedene Spiritisten zur Séance. Einem „echten“ Medium, so der Gedanke, würde Houdinis Geist diesen Code mitteilen, und Bess wüsste so, dass sie tatsächlich mit ihrem verstorbenen Gatten kommuniziert hatte. Dem Geisterbeschwörer Arthur Ford gelang diese Sensation. Diese Geschichte wurde in Zweifel gezogen als sich herausstellte, dass er mit der finanziell und psychisch angeschlagenen Bess eine Affäre hatte. Ob sie ihm den Code verraten hatte, ist ungeklärt.
Genau die Situation einer dieser Séancen gibt der Song wieder. Bess versucht, mit ihrem toten Mann in Kontakt zu treten. Dabei schweifen ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit, Wirklichkeit und Traum vermischen sich. Kate Bush war von der Geschichte sofort fasziniert. „During his incredible lifetime Houdini took it upon himself to expose the whole spiritualist thing–you know, seances and mediums. And he found a lot them to be phoney, but before he died Houdini and his wife worked out a code, so that if he came back after his death his wife would know it was him by the code. So after his death his wife made several attempts to contact her dead husband, and on one occasion he did come through to her. I thought that was so beautiful–the idea that this man who had spent his life escaping from chains and ropes had actually managed to contact his wife. The image was so beautiful that I just had to write a song about it.“ [2].
houdini400Über die Unklarheiten in der Story war sie sich durchaus klar, die Recherche im Vorfeld war akribisch. „It’s such a beautiful image: for this guy, who’d been escaping all his life, to escape death and come back to her. But I didn’t know if he had come back, because the other stories said he hadn’t, so I rang up Psychic News, and this nice lady got all these papers from the 1920s and read me this apparently official declaration from Mrs. Houdini that this had happened. I feel that they were terribly in love because of the whole story. She was saving his life every time. It’s such a great story, I couldn’t resist it.“ [3]
„Houdini“ ist ein „faszinierendes Stück über das Übernatürliche“, eine „unglaubliche Geschichte über Verlust, Liebe, Trauer und übernatürliche Phänomene“ [4]. Es ist die Geschichte einer Frau, die von der Liebe zu ihrem toten Mann besessen ist. Wieder und wieder versucht sie, ihn auch im Tode zu erreichen. „She was saving his life every time“ [3] – und das versucht sie auch weiter nach seinem Tod. So groß ist ihre Liebe, dass sie nicht aufgibt. Kann die Liebe schließlich doch den Tod besiegen? Hat die Rettung nicht in der Vergangenheit jedes mal geklappt? Liebe über den Tod hinaus – dieses Thema wurde schon in Kate Bushs erstem Hit „Wuthering Heights“ besungen. Dort kehrte Cathy zurück zu Heathcliff, hier Harry zu Bess.
Das Cover des Albums nimmt Bezug auf diese lebensrettende Beziehung zwischen Houdini und Bess. Auf dem Cover steht „With a kiss I’d pass the key…“, dies ist ist ein Zitat aus „Houdini“. Bess ist zu sehen, wie sie ihrem mit Ketten gefesselten Mann bei einem Kuss einen kleinen Schlüssel mit der Zunge übergibt. „It’s a little depiction from the song. I didn’t even know he was married, but apparently she used to help him out quite a lot. As he used to go into his tank or jump in the river, she’d give him a parting kiss and pass a tiny silver key into his mouth. He’d wander off, then take it out and unlock the thing.“ [3]
Der Schlüssel – golden leuchtend – ist das hervorstechend farbige Ding auf diesem düsteren, sepiabraunen Cover. Es sieht nicht aus wie ein Schlüssel, es ist eher ein goldener Ring. Der Ehering ist das Zeichen für die Liebe und die unbrechbare Verbundenheit. Er ist hier der Schlüssel, der den Weg aus der Welt der Toten zurück in die Welt der Lebenden öffnen soll. Dies gibt dem Albumtitel „The Dreaming“ eine weitere Bedeutungsebene – das Träumen von einem Tor zur jenseitigen Welt, geschaffen durch die Liebe.
Im Hintergrund des Covers ist Efeu zusehen, der dies in seiner Symbolik unterstreicht. Efeu steht für unbedingten Überlebenswillen, Treue, Tod, Hoffnung auf Auferstehung, das Gesetz ewigen Lebens [5]. Der Efeu besagt in der Blumensprache „Keine Macht der Welt soll mich je von Dir trennen!“ [5]. Genau das versucht Bess verzweifelt zu erreichen. Verweist das schon auf den Song „Under the ivy“?
Wasser als tödliches Element spielt in diesem Song eine zentrale Rolle. Houdinis Unterwasserentfesselungen waren extrem gefährlich und angeblich musste bei seiner letzten Nummer dieser Art der Tank mit einer Axt zerschlagen werden, um ihn zu retten [3]. Dieser Schrecken und diese Panik spiegelt sich in den Erinnerungen von Bess wider. In den Lyrics heißt es „Through the glass / I’d watch you breathe. / Bound and drowned, And paler than you’ve ever been. / With your life / The only thing in my mind — We pull you from the water!“ [6]. Um diesen Horror auch im Gesang wiederzugeben, griff Kate Bush bei der Aufnahmesession zu drastischen Mitteln. „Well the idea is that it’s as she’s watching him go off into his tank of water for the last time, and it’s the idea that she is this sort of possessed demon that’s terrified of him going. And I drank about a pint of milk before I did the vocal and ate like two bars of chocolate. And the great thing about those sort of foods is it really creates a lot of mucus and normally that’s the last thing you want when you sing, you normally want a very pure voice, but I wanted to get all that sort of spit and gravel in the thought. So I worked on bringing the gravel out and then we also… as I sung the track we speed the track up a bit so that when it was played back the voice would just be slightly deeper, just have slightly more weight in it. “ [7]
Der Schrecken des Ertrinkens, damit hätte „Houdini“ auch ein Teil von „The ninth Wave“ sein können. Das Wasser als düstere Bedrohung – eines der zentralen Motive im Werk von Kate Bush. Aber es finden sich hier weitere der zentralen Bush-Motive. Es ist nicht nur ein „Wasserlied“ (ich habe meine persönlichen Bezeichnungen für Motivkreise). Houdini ist auch ein „Geschichtslied“: es beschäftigt sich mit einem ganz besonderen Moment aus der Geschichte einer historischen Person. Es ist ein „Totenlied“: Erinnerungen an verstorbene reale Personen werden wiedererweckt. Es ist ein „Geisterlied“: übernatürliche Phänomene bestimmen die Story des Songs. Es ist ein „Wahnlied“: den Rahmen des Normalen verlassende, wahnhafte, obsessive Züge einer Beziehung spielen eine Rolle.
Die Musik reflektiert die verschiedenen Ebenen der Geschichte. Die beiden Strophen des Liedes geben die Situation in der Séance wieder. Bess sitzt da zusammen mit Fremden, ist voller Zweifel und doch voller Hoffnung. Wird es diesmal klappen? Die Musik ist zart, klavierbetont, mit schwebenden Basstönen von Eberhard Weber im Hintergrund. Die Melodie springt wunderbar gesungen voller bebender Erwartung zwischen zwei Tönen hin und her, es ist mehr die Andeutung einer Melodie. Der Refrain nach den Strophen beginnt rhythmischer, pochender – Bess ist in der Vergangenheit und denkt an die Situationen zurück, an denen sie ihren Mann mit dem Schlüsseltrick gerettet hat („With a kiss / I’d pass the key / And feel your tongue / Teasing and receiving“ und „Through the glass / I’d watch you breathe / Bound and drowned / And paler than you’ve ever been.“). Diese herzklopfenden Passagen enden in den Ausrufen des Erschreckens, des Entsetzen, der Furcht – wie oft hat Bess um ihren Mann gebangt in diesen lebensbedrohlichen Situationen („With your spit / Still on my lip / You hit the water“ und „With your life / The only thing in my mind / We pull you from the water!“)? Aber wie kann sie ihrem toten Mann diesmal den rettenden Schlüssel geben? Der Refrain endet mit traurigen Streicherklängen, zu denen weiter die Basstöne erklingen. Es ist eine fast resignative Musik des Abschieds, ein Choral, ein Requiem – Houdini kommt nicht wieder. Ganz zum Schluss des Songs nimmt dieser Streicherchoral noch einmal einen zweiten Anlauf, so als ob Bess die Situation nicht akzeptieren will. „You and I and Rosabel believe“ – das bleibt als Rest der Hoffnung.
Die Tonarten des Songs geben diese unklare Situation an der Schwelle zwischen Leben und Tod wieder. „Houdini“ ist mit 6 b’s als Vorzeichen notiert. Am ehesten ist die Tonart als Es-Moll zu identifizieren – aber das ist alles sehr verschleiert und nicht klar zuzuordnen. Daneben prägen die Akkorde Es-Dur, Des-Dur, Ges-Moll und As-Moll das Bild [6]. Beckh gibt in „Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner“ tiefe Einblicke in das Wesen dieser Tonarten [8]. Es-Moll – ein Übergang, der über die Schwelle führt, die Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Tagesansicht und Nachtansicht der Welt, Sinneswelt und geistige Welt voneinander trennt. Es ist die im geistigen Sinne ernsteste aller Tonarten, die uns den Ernst des Schwellenübergangs, die Tragik des Schwellenübergangs erleben lässt. Es-Dur – nicht nur tiefstes Dunkel, sondern zugleich die Wiederaufwärtswendung zum Licht. Des-Dur – wie ein Durchbruch überirdischen Lichts. As-Moll – die Tonart des Scheidens vom Tageslicht, vom Lebenslicht. Jeder Akkord steht für eine Situation an einer überirdischen Schwelle.
So ist alles in diesem Lied die Schilderung einer Grenzsituation. Die Welten des Lebens und des Todes vermischen sich. Realität, Traum, Besessenheit, Trauer, Liebe, Tod, Leben – eine Welt aus den Fugen. Den Schluss bilden die Worte „You / And I / And Rosabel believe“ – das ist vielleicht doch ein positiver Schluss dieses im Kern so traurigen Liedes. (© Achim/aHAJ)

[1] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Harry_Houdini (gelesen 21.02.2016)
[2] Poppix. „The Dreaming“. Summer 1982 (Interview)
[3] ZigZag. „Dream Time in the Bush“ by Kris Needs. 1982 (Interview)
[4] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 243f
[5] Clemens Zerling: Lexikon der Pflanzensymbolik. 2007. Baden und München. AT Verlag. S.60
[6] „Kate Bush Complete“. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.97f
[7] Dreaming Debut. Radio 2. Sept. 13, 1982
[8] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.102, 124, 234 und 179.

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