Das Song-ABC: Aerial

abcMit dem Song „Aerial“ bricht endgültig die Morgendämmerung, die sich gegen Ende des Songs „Nocturne“ in einem orgiastischen Chor als eine Form spiritueller Sonnengruß im Viervierteltakt angekündigt hatte, über das Land herein. Wie der Name schon verrät, handelt es sich um ein romantisch inspiriertes „Nachtstück“ in Cis-Moll. Die erste Hälfte der Nachtmusik besteht aus langgezogenen, vom Metrum befreiten, ätherischen Rezitativen der Zauberin (überwiegend in Sekund- und Terzschritten voranschreitend), während im Schlusschor ein letztes Mal die beschwörende Kraft des Kollektivs zum Zuge kommt. Harmonisch findet ein spannungsgeladenes Wechselspiel zwischen Cis-Moll und A-Dur als Grund-, Sept-/ oder Nonakkord statt. Hier beginnt nun auch die rituelle Transformation (Selbstveränderungsprozess), die anhand von Victor Turners Ritualtheorie eingehender beleuchtet werden kann. Typisch für musikalische Szenen dieser Art ist, dass sich die Melodik der Chöre aus sehr einfachen, rezitativen Elementen zusammensetzt.
aerial02Auf der Textebene wird deutlich, dass der Ort am Horizont, an dem sich Meer und Sonne treffen, als Geburtsstätte des Feuerballs gedeutet wird. Die goldene Färbung des Wassers und des Himmels bzw. das Zusammenfließen dieser beiden Sphären wird mit dem Bild des Honigs, dem Futtersaft der Bienen, verglichen. Somit wird – wie bereits in „The Painter’s Link“ auch – die fließende, zyklische Geburt der Sonne aus dem Meer des unendlichen Kosmos zum sakralen Kontext eines rituellen, körperlichen Fruchtbarkeitsfestes erhoben.
Die Chorpassage aus „Nocturne“ stellt innerhalb von „An endless sky of honey“ eine Grenzsituation dar. Sie vertont den Moment zwischen Nacht und Tag, zwischen Schlafen und Erwachen (hier werden im Zuhörer/Zuschauer natürlich auch Assoziationen von Leben und Tod erweckt). Wenn mit einem lauten Tutti des Instrumentalsatzes auch der Chor in Takt 156 auf der Grundstellung von Cis-Moll endet, beginnt bereits das minimalistische Streichermotiv der Verwandlungsszene aus „Aerial“.
„Aerial“ kann als fulminanter Höhepunkt des zweiten Aktes bzw. der zweiten Seite des Doppelalbums betrachtet werden und spaltet sich auch in seiner Form als stampfender Tanz im Dreivierteltakt rhythmisch von den zuvor oftmals sehr lyrischen Szenen des zweiten Aktes ab. Das Textzitat „The song must be sung“ macht die Notwendigkeit einer dionysischen, musikalischen Beschwörung deutlich. Das eintaktige Begleitmotiv besteht die ersten 26 Takte lang lediglich aus pendelnden Achtelnoten zwischen den Harmonien Cis-Moll-7 und Cismoll-9, während der Bass in hoher Lage und auf Viertelebene folgende viertaktige Wellenlinie zeichnet: e’ e’ d’/ cis’ cis’ d’/ e’ e’ d’/ cis’ cis’ d’/.
Immer im zweiten Takt wird auf Schlag drei/Ton d’ ein rhythmischer Akzent gesetzt. Die ungewöhnliche Betonung des Dreivierteltaktes geht mit der Rück-Verwandlung der Zauberin zum Vogel einher und versinnbildlicht, dass auch auf der rhythmischen Ebene nichts so ist, wie es zu sein scheint. Die Welt steht Kopf. Stück für Stück wachsen ihr und der Band während der endlosen Kreistänze lange Schnäbel und Flügel. In den folgenden Worten des Theaterwissenschaftlers Friedemann Kreuder wird veranschaulicht, welch bedeutende, theatrale Rolle der Maske innerhalb des Rituals zukommt. Wenn sich die Zauberin und ihre Gefährten mit Vogelmasken und Federn schmücken, so findet aus Sicht des Rituals tatsächlich eine reale Verwandlung statt. Durch die Verwendung der Masken wird aber auch die psychologische Tiefenstruktur solch komplexer Rituale sichtbar.

„In afrikanischen Sprachen gibt es zumeist kein Lexem, das sich wörtlich mit ‚Maske‘ übersetzten ließe. Ähnlich wie das altlateinische Wort ‚larva‘ im Sinne von ‚Gespenst‘, ‚Spukgestalt‘ oder ‚dämonische Verkleidung‘ wird die ‚Maske‘ durch das bezeichnet, was sie angeblich repräsentiert: als Geist, Ahnengeist, Vorfahren oder als Tote u.Ä. Ritualmasken eignet eine thanatologische Dimension, indem sie Beziehungen herstellen, zwischen den Lebenden und den Verstorbenen einer Gesellschaft oder denjenigen Geisterwesen, die auf die Lebenden heilbringend einwirken sollen. Die Maske assimiliert den Träger mit demjenigen, was sie versinnbildlicht und verleiht ihm aus der Sicht der Teilnehmer am Ritual auch dessen Wirkungskraft… mit der Maske verband sich traditionell ein lebloses Objekt mit einem lebendigen Körper, traf anorganische Natur auf organische. Von daher ist die Maske Ausdruck unserer Doppelnatur als Verbindung von Natur und Kultur.“ (1)

Aus den Baumwipfeln sind bedrohliche Vogelschreie und wildes Flügelschlagen zu hören. Im Zuschauerraum regnet es Federn. Durch die unermüdliche Wiederholung entsteht ein brodelnder, nahezu neurotischer, zwanghafter Charakter, der das Aufgehen der Sonne krampfhaft erzwingen will. In Takt zehn setzt dann die lallende Stimme der bereits ekstatisch ums Lichtfeuer spukenden Zauberin ein. In diesem letzten Teil des zweiten Akts wird deutlich, wie eng Psyche und Soma im rituellen Geschehen ineinander verschränkt sind. Das sich nun anbahnende, orgiastische Ausbrechen aus den alltäglichen, sozialen Strukturen wird in Form eines ungezügelten Balztanzes gen Sonnenaufgang verwirklicht.
„Aerial“ gliedert sich in fünf Formteile. Im Teil A besteht der Rahmen der einzelnen melodischen Phrasen überwiegend aus zähen, gebundenen, abwärts gerichteten Quarten (fis’-cis’). Der Formteil B stellt einen für sich isolierten Formteil dar. Er widmet sich der Sonne und besteht lediglich aus dem Halbsatz „… in the sun.“ Die Anrufung der Sonne besteht aus einem Auftakt fis’-gis’ (punktierte Achtelnote-Sechzehntelnote), gefolgt von einem Quartsprung zum Wort „sun“, auf dem Ton cis’’. Die rituelle Bedeutung des Wortes „sun“ auf cis’’ kommt zum einen durch seine Sonderstellung als höchster Ton innerhalb der Melodik und zum anderen auch in Form eines acht Takte langen Haltetons, als Ausbruch aus dem rhythmischen Spiel der pulsierenden Instrumente, zum Ausdruck.
Das Licht der Sonne erstrahlt somit erhaben über dem Klangteppich der Instrumente. Durch das ekstatische Tanzen der archaisch gekleideten Darsteller des Chores werden kleine Vogelschwärme aufgeschreckt, während die Marionette sich von ihren „Fäden“ befreit und selbstständig Laufen lernt. In zwielichtiger Atmosphäre stürzte sich die belebte Puppe bereits auf eine weiße Taube, die sie als rituelles Opfer zerrissen und verzehrte hatte. Daraufhin färbte sich der Morgenhimmel, gleich einer makrokosmischen Analogie der Opferung, blutrot. Natürlich besteht hier auch eine metaphorische Beziehung zwischen dem besungenen Wein und dem Blut als Saft des Lebens.
Formteil C stellt auf der Textebene den manischen Größenwahnsinn der Teilnehmer des Rituals dar. Die intensive, orgiastische Wahrnehmung will immer mehr gesteigert werden, was sich nun auch im freien, wild improvisierten Spiel der Band hörbar macht. Immer wieder finden Ausflüchte in kurze B-Dur-Quartvorhalte und kleine Solopartien außerhalb des pulsierenden Rhythmus statt. Der Formteil D hingegen widmet sich thematisch und textlich dem Beginn der Vogelgesänge zur Morgenstunde.
Der ambivalente Gesang der Vögel wird mit dem menschlichen Lachen gleichgesetzt. Denn das Lachen der Menschen ist im Gegensatz zur Wortsprache sehr viel spontaner und voll archaischer Lebenskraft. Lachen kann sowohl einen Ausbruch freudigster Erregung, als auch eine Übersprungshandlung tiefster Bestürzung als Wurzel haben. In Formteil E bricht die Zauberin auf dem Klangteppich der neurotischen Akkordwiederholungen (Cis-Moll-7 und Cis-Moll-9) auf dem Ton gis’ nun in archaisches Gelächter aus, dem sich auch das Publikum aktiv und ekstatisch hinzugeben scheint, bis die maskierte Zauberin dann plötzlich gen Bühnenhimmel abhebt und ein lautes „Ha“ (auf der Grundstellung eines Cis-Moll-Akkordes) den zweiten Akt beendet. Für einen Wimpernschlag lang wird die Bühne abgedunkelt – dann bleibt nur der in Morgenlicht gebadete Birkenwald zurück.
Vasnetsov_Sirin_AlkonostDass die Vögel einst vom Himmel herab stiegen, um den Menschen ihren süßen Gesang zu bringen, entspringt einem alten russischen Mythos, der sich auch in der Malerei verewigt hat. Im Gemälde rechts  sieht man zwei magische Mischwesen, rechts die Alkonost, links die Sirin (Wiktor Wasnezow, 1896). Auch in Rimski-Korsakows Oper „Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronia“ kündigt im 4. Akt der Gesang von Alkonost Fewronia den Stillstand der Zeit und das Vergessen der Vergangenheit an. (Thomas)

1: Kreuder, Friedemann: Maske . In:Theatertheorie. Stuttgart,  2014, S.204.

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