Das Song-ABC: The Infant Kiss

abcGäbe es einen Wettbewerb für den doppelbödigsten Song von Kate Bush – meine Wahl würde auf „The infant kiss“ fallen. Kein anderer Song spielt so stark mit den Erwartungen des Hörers und zieht einem so subtil den Boden unter den Füßen weg.
Die erste Ebene: Ein zärtliches Liebeslied, im Rahmen üblicher Popsongs. So klingt es.
Die zweite Ebene: Die konventionelle Erwartung „Frau liebt Mann“ wird aber sofort nach den ersten Zeilen auf den Kopf gestellt. Eine erwachsene, junge Frau (offenbar ein Kindermädchen, für die Betreuung eines Schuljungen zuständig) fühlt sich von diesem kleinen Jungen sexuell angezogen. Sie fühlt diese Anziehung ganz stark, versucht ihr zu widerstehen, weiß um das Unnormale („But things are not right“, „Back home they’d call me dirty“). Jetzt ist dieses Lied eine Provokation. Eine solche Art von Liebe wird allenfalls in Grenzen zwischen Mann und Mädchen akzeptiert (z.B. im Roman „Lolita“ von Nabokov) – aber zwischen einer Frau und einem Jungen? Zur Veröffentlichungszeit des Songs 1980 hat dies einen Hauch von Skandal. Der ganze Text handelt davon, dass die Frau gegen diese Gefühle ankämpft – so kann das Geschehen von einem freigeistigen Zuhörer gerade noch toleriert werden.
Die dritte Ebene: Merkwürdige Textzeilen sind eingeschoben. „Knock, knock. Who’s there in this baby?“ – das klingt nach einem Geheimnis. „Ooh, how he frightens me. When they whisper privately“ – das fällt völlig aus dieser Geschichte heraus. „Words of caress on their lips. That speak of adult love.“ – spätestens hier war ich beim ersten Hören in den Achtzigern verwirrt. Die beiden Textebenen fügen sich nicht ineinander. Werden hier zwei Geschichten erzählt? Was weiß die Sängerin, was ich als Hörer nicht weiß?
Aufschluss geben Informationen von Kate Bush selbst, in denen sie sich bemüht, die verbotene zweite Ebene zu entkräften (die Geister die ich rief …). „The thing that worries me is the way people have started interpreting that song. They love the long word-paedophilia. It’s not about that at all. It’s not the woman actually fancying the young kid. It’s the woman being attracted by a man inside the child. It just worries me that there were some people catching on to the idea of there being paedophilia, rather than just a distortion of a situation where there’s a perfectly normal, innocent boy with the spirit of a man inside, who’s extremely experienced and lusty. The woman can’t cope with the distortion. She can see that there’s some energy in the child that is not normal, but she can’t place it. Yet she has a very pure maternal love for the child, and it’s only little things like when she goes to give him a kiss at night, that she realizes there is a distortion, and it’s really freaking her out. She doesn’t fancy little boys, she’s got a normal, straight sexual life, yet this thing is happening to her. I really like the distortedness of the situation.“ [1]
Das ist nun eine andere Situation. Die beiden Ebenen fügen sich zusammen, wenn man diesen Hintergrund kennt und dazu noch weiß, wovon der Song inspiriert ist. Vorlage für den Song ist Henry James Erzählung „The Turn of the Screw“ (dtsch. „Die Drehung der Schraube“) bzw. die darauf aufbauende Verfilmung „The Innocents“ (deutsch „Schloss des Schreckens“). [2]
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Eine Szene aus dem Film „The Innocents“, der als Inspriration für „The Infant Kiss“ gedient hat.

England im 19. Jahrhundert: Miss Giddens, die ältliche Tochter eines Landpfarrers, tritt eine Stelle als Gouvernante auf einem Landsitz an, um über die Erziehung der Geschwister Miles und Flora zu wachen. Die Kinder sind nach dem mysteriösen Tod der früheren Gouvernante Ms. Jessel und des Hausverwalters Peter Quint verstört. Kurz nach ihrer Ankunft kehrt Miles aus dem Internat zurück. Miss Giddens sieht – scheinbar als einzige – wiederholt geisterhafte Erscheinungen eines Mannes und einer Frau, die die Haushälterin Mrs. Grose als Quint und Miss Jessel identifiziert. Auf Nachfragen nach den Gründen für den Tod von Miss Jessel und Peter Quint und das Verhältnis der beiden zu den Kindern erhält die neue Gouvernante keine oder ausweichende Antwort. Ihre prüde viktorianische Fantasie wird durch die düsteren Geheimnisse angeheizt. Miss Jessel war Quint offenbar sexuell hörig und ertränkte sich (schwanger?) nach dessen Tod, und auch Miles folgte Quint „wie ein kleiner Hund“. Was und wie viel wissen die Kinder von dieser Geschichte? Welche Sünden hat Miles im Internat begangen, die zu seinem Rauswurf führten? Wegen des verschwörerischen Gehabes der Kinder und Miles’ frühreifem Auftreten keimt in Miss Giddens der Verdacht, die Geister der Verstorbenen hätten Macht über die Kinder erlangt. Sie beharrt gegenüber Flora darauf, diese sei von Miss Jessels Geist besessen, bis das Mädchen einen hysterischen Anfall erleidet. Miss Giddens schickt Flora mit Mrs. Grose und den anderen Bediensteten fort (oder wird Flora vor der neuen Gouvernante in Sicherheit gebracht?), um mit Miles allein zu sein. Auf Miss Giddens’ Drängen gesteht Miles, wegen ungebührlichen Betragens vom Internat verwiesen worden zu sein. Er beschimpft sie und rennt in den Garten, wo er Quints Namen ruft und zusammenbricht. Nachdem Miss Giddens seinen Tod festgestellt hat, küsst sie ihn auf den Mund und faltet ihre Hände wie zum Gebet – dasselbe Bild, das in der ersten Einstellung des Films zu sehen war. [3] [4]

Bis zuletzt wird nicht aufgelöst, was real und was Wahn ist. Weder die Textvorlage von Henry James noch der Film geben eine Deutung der Handlung, die sowohl als Geistergeschichte als auch als psychologische Studie der Gouvernante aufgefasst werden kann: Es bleibt offen, was sich tatsächlich abspielt, und was nur in der Vorstellungswelt der Erzieherin geschieht [5]. Die Erzählung „spielt mit der unterdrückten und verklemmten Sexualität der Viktorianer, ihrer Angst vor allem Irrationalen und ihrer Angst vor Kontrollverlust“ [4].
Damit sind wir noch eine Ebene tiefer. Ist dies alles nur eine Wahnvorstellung einer verklemmten Frau? Ist dies alles nur Einbildung? Mein Fazit auf dieser Ebene: Die Unterdrückung von sexuellen Gefühlen ist schlecht. Wenn mit ihnen nicht auf gesunde, unverkrampfte Weise umgegangen wird, dann führen sie zu nicht auflösbaren Emotionen und zu Verwirrung.
Das folgende Zitat fasst das alles sehr gut zusammen: „In any case, this song illustrates perfectly the unusual nature of Kate Bush’s subject matter, her complete freedom from lyric-writing conventions, and her daring and willingness to tackle any subject, however contentious, that suggests itself to her muse. This had been present ever since her first album, The Kick Inside, whose title track took on the themes of incest and suicide.“ [6]
Textlich haben wir nun verstanden, was hier passiert. Musikalisch bildet der Song diese Verstörung auf eine ganz subtile Art und Weise ab. Er kommt daher wie ein melancholisches Wiegenlied und nimmt damit die Stimmung des Liedes „O Willow Waly“ auf, der zu Beginn des Filmes erklingt („We lay my love and I, beneath the weeping willow. But now alone I lie and weep beside the tree. Singing „Oh willow waly“ by the tree that weeps with me. Singing „Oh willow waly“ till my lover return to me. We lay my love and I beneath the weeping willow. A broken heart have I. Oh willow I die, oh willow I die…“) [7]. Aber aus dem Rhythmus des Wiegenliedes ist ein 4/4-Takt geworden, der nur ab und zu durch 2/4-Einschübe aufgehalten wird [8].
Ganz zart kommt die Musik daher, Klavier, Streicher, Gitarre. Es gibt eine Gesangsstimme, die die Geschichte erzählt: Miss Giddens. Ab und zu wird diese Gesangsstimme gedoppelt wie durch einen „Schatten“, der tiefer und rauer den gleichen Text mitsingt. Dies geschieht oft, wenn von dem Jungen die Rede ist (z. B. bei „What is this? An infant kiss“, „You know how to work me“ und „There’s a man behind those eyes“).  Für mich symbolisiert dies die Besessenheit des Jungen durch Quint. Ein sanfter Frauenchor tritt hinzu, der an einigen Stellen einen Hintergrund und Gegenpol bildet, ohne einen Text zu singen. Das erinnert stark in der Stimmung an das traurige „Oh willow waly“ aus dem Film – es symbolisiert für mich Miss Jessel. Die Geschichtenerzählerin ist mit den beiden Geistern konfrontiert und dies geschieht so, dass es bewusst fast nicht wahrgenommen wird. Eine Sphäre des Unbewussten und Unerklärlichen dringt in die Realität des Liedes vor.
Die harmonische Gestaltung zeigt das überaus sensible Verständnis, das Kate Bush wohl instinktiv besitzt. Tonarten sind bei ihr Träger von Bedeutung. In diesem Song ist das geradezu bestürzend gut gelungen. Die Grundtonart – in der das Lied notiert ist – ist ein Fis-Dur. Dies ist aber nur vage, ein zweiter Schwerpunkt liegt auf dem fis-Moll-Akkord. Zwischen diesen beiden Polen schwankt das Lied hin und her [8]. Fis-Dur – das bedeutet sechs Kreuze. Das ist maximal weit entfernt von der klaren nüchternen Welt eines C-Dur ohne Vorzeichen. So viele Vorzeichen deuten auf etwas Besonderes hin, auf ein Anderssein. Dies ist keine klare, rationale Welt, dies ist nicht vernünftig, dies ist herausgerissen aus der Normalität.
Warum Fis-Dur, warum fis-Moll? Fis-Dur – das steht für den „Übergang der Sinneswelt in die geistige Welt, ein Übergang, der über die Schwelle führt, die Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Tagesansicht und Nachtansicht der Welt, Sinneswelt und geistige Welt voneinander trennt.“ [9]. Es steht für die „im Tod, im Hinübergehen Erlösende und Errettende, die Hinüberführende, Venus Urania (himmlisch erlösende Liebe).“ [9]. Besser kann man die reinen Gefühle der Protagonistin nicht beschreiben, die verzweifelt bemüht ist, die Kinder und sich zu bewahren. Es ist eine reine Liebe, unschuldig. Aber da ist auch noch die andere Seite – das fis-Moll. Das ist „tiefster Abgrund, tiefste Absturzgefahr“, es ist die „Tonart des Abgrunds“ [9]. Was Beckh über das fis-Moll-Präludium von Chopin schreibt, das hätte er auch über „The infant kiss“ schreiben können: „Ein wahrer Seelensturm, wie ein Hineingerissenwerden in bis dahin noch nicht geahnte Abgründe seelischen Erlebens, ein Aufgewühltwerden bis in die tiefsten Seelengründe hinein.“ [9]. Besser kann man diese beiden Seiten des Liedes kaum musikalisch charakterisieren.
Der Song endet nicht, es gibt einen direkten Übergang in „Night scented Stock“. Eine schwüle Gegenwelt tut sich dort auf, erotisierend, ohne Text, nur noch Vocalisen. Ist dies die sexualisierte Gegenwelt, die die prüde viktorianische Protagonistin verdrängt und der sie sich nun wortlos öffnet?
„The infant kiss“ ist komplex, ist kühn, erkundet unerforschtes, verbotenes Terrain. Es schildert die Überwältigung durch vollkommen unerwartete Gefühle. Es lässt offen, was real ist und was nicht, was sich außen wirklich abspielt und was nur im Inneren. Es wertet nicht, sondern überlässt die Wertung des Geschehens dem Zuhörer. Ein gutes Fazit zieht Grame Thomson [2]: „Wie oft doch Liebe und sexuelles Verlangen bei ihr als Besessenheit oder Tabu geschildert werden, als beängstigende und unerwünschte Geister und Dämonen, die sich in unserem Innersten einnisten.“. (© Achim/aHAJ)
[1] Kris Needs: Fire in the Bush. Interview in ZigZag. 1980? (zitiert nach http://gaffa.org/reaching/i80_zz.html – gelesen 01.04.2015)
[2] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.219
[3] http://de.m.wikipedia.org/wiki/Schloß_des_Schreckens (gelesen 24.03.2015)
[4] http://www.carookee.de/forum/Kate-Bush/69/Un_baiser_d_enfant_The_Infant_Kiss.8262416.0.01105.html  (gelesen 01.04.2015)
[5] siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/The_Turn_of_the_Screw_%28Oper%29 (gelesen 01.04.2015)
[6] https://suite.io/mark-wallace/56va2a4 (gelesen 01.04.2015)
[7] http://www.imdb.com/title/tt0055018/quotes (gelesen 01.04.2015)
[8] „Kate Bush Complete“. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.101f
[9] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.102ff und S.138ff

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