Das Album „The Dreaming“ ist voll von bemerkenswerten Songs, die die Grenzen des konventionellen Pops ausweiten. „Suspended in Gaffa“ ist da keine Ausnahme. Schon der Rhythmus ist selten in der Popmusik. Der Song ist ein beschwingter, schneller Tanz im Dreivierteltakt, der in den Strophen vom Klavier vorangetrieben wird. Der Strophentext wird von Kate Bush fast sich überschlagend schnell gesungen, das macht einen zungenbrecherischen Eindruck. Selten wird in einem Song von Kate Bush in so kurzer Zeit so viel Text untergebracht. Die Gesangsstimme ist dabei eher tief, ein typischer Chor aus Kate-Stimmen in der hohen Lage bildet dazu den Gegenpol. Vor den Chorus-Abschnitten klingen verzerrte Sätze hinein, halb gesprochen, halb gesungen (z.B. „Mother, where are the angels? I’m scared of the changes“ [10]). Im Gegensatz zu den Tanzstrophen sind die Chorus-Abschnitte stark rhythmisch betont, vorwärtsdrängend. Hier überlagert ein Marsch den schnellen Tanz und peitscht das Geschehen voran. Die Stimme von Kate Bush klingt auch in der tiefen Lage voll, rund und beherrscht.
Worum geht es in „Suspended in Gaffa“? Im Leben bemüht man sich darum, Dinge zu erreichen und meist gelingt es nicht. Bei aller Mühsal erkennt man manchmal für einen ganz kurzen Moment das, was möglich wäre. Dann ist dieser Blitz wieder vorbei und es bleibt nur die Erinnerung. Man verzweifelt an sich und möchte den Lohn am liebsten ohne Mühe haben. Ausreden und Entschuldigungen werden gesucht. Aber das ist ein Verschließen der Augen, das funktioniert nicht, man muss sich weiter anstrengen. Nur dann kann das Ergebnis erreicht werden, mit dem man zufrieden ist.
Kate Bush war zu diesem Song sehr offen und formuliert dies so: „It’s about seeing something that you want – on any level – and not being able to get that thing unless you work hard and in the right way towards it. When I do that I become aware of so many obstacles, and then I want the thing without the work. And then when you achieve it you enter … a different level – everything will slightly change. It’s like going into a time warp which otherwise wouldn’t have existed.“ [1] Das ist der Inhalt und für Kate Bush sollte man nicht mehr hineindeuten und nicht überinterpretieren. „But when you explain it […] it doesn’t sound like anything. The idea is much more valuable within the song than it is in my telling you about it. When you analyse it, it seems silly.“ [1]
Dieses Streben nach Vollkommenheit scheint tief aus der Seele von Kate Bush zu kommen. Offenbar musste sie dieses Gefühl aus sich herauslassen. Es ist einer der ganz wenigen Songs (der einzige Song?), für den Kate Bush einen autobiografischen Hintergrund einräumt: „Suspended in Gaffa is reasonably autobiographical, which most of my songs aren’t.“ [1] All dies wird in einer bilderreichen Sprache gesungen, voll mit Metaphern, auch Kindheitserinnerungen blitzen auf, der Hof, die Scheune, der Garten („Out in the garden there‘s half of a heaven“) [4].
Das Wort „Gaffa“ bedarf einer Erklärung. „Gaffa Tape“ ist ein viel verwendetes Klebeband. Wenn man sich darin mit den Füßen verheddert, dann ist man auch real in einer Situation, in der man nicht vorankommt. Es ist selten, dass Kate Bush ihre Bilder so offen erklärt. „‚Gaffa‘ is Gaffa Tape. It is thick industrial tape, mainly used for taping down and tidying up the millions of leads, and particularly useful in concert situations. Suspended in Gaffa is trying to simulate being trapped in a kind of web: everything is in slow motion, and the person feels like they’re tied up. They can’t move.“ [7]
Die Situation, dass man manchmal einen Blick auf das Vollkommene erhascht, es aber dann nie wieder sieht, findet sich in einer geheimnisvollen Textzeile wieder, die sich nur in Transkriptionen des Songs findet: „I caught a glimpse of god, all shining and bright…“ [10]. Auch dies erklärt Kate Bush freimütig (offenbar war es ihr wichtig, dass dieser Song so verstanden wird, wie sie ihn gemeint hatte): „I remember when I was at school, I was always told about purgatory as being the place that you went to and you saw a glimpse of God and then he went away and you never ever saw him again and you were in the most tremendous pain for the rest of eternity because you couldn’t ever see him again. And it’s a really heavy image, you know, especially for a child. And I think in many ways it’s a very similar thing, trying to get that back that thing that you really want to see again.“ [2]
Für mich ist in diesem Song das Herz von Kate Bush übergelaufen, eine Emotion musste heraus. Die Inspiration kam sehr schnell, alles war auf einmal da, es gab kein langes Nachdenken und Überarbeiten. „When I wrote this track the words came at the same time, and this is one of the few songs where the lyrics were complete at such an early stage.“ [3] Den zungenbrecherisch schnell gesungenen Text hatte ich schon erwähnt, auch für Kate Bush war er eine Herausforderung. „Whenever I’ve sung this song I’ve hoped that my breath would hold out for the first few phrases, as there is no gap to breathe in.“ [3]
Der Song ist in einem reinen 3/4-Takt gehalten. Die Tonarten sind eine Mischung aus a-Moll und C-Dur, dabei stehen die Strophen eher in a-Moll, die Chorus-Passagen eher C-Dur [5]. Diese Tonarten unterstützen die Aussage des Textes, wenn man sich an den von Beckh gegebenen Bedeutungen orientiert. A-Moll ist eine schwermütige, poetische Tonart, es ist die Sehnsuchtstonart [6]. C-Dur steht für klares Licht, für nüchterne Klarheit [6]. Dass passt gut dazu, dass in den Strophen der Zweifel überwiegt, während im Chorus doch mehr entschlossene Klarheit über die Situation besteht.
„Suspended in Gaffa“ wurde als dritte Single aus dem Album ausgekoppelt, aber nur auf dem europäischen Kontinent und in Australien veröffentlicht (in Großbritannien fiel die Wahl auf „There goes a tenner“) [9]. Ein großer Chartserfolg war es nicht. Das Video zum Song wurde schnell aufgenommen. „The video of Suspended in Gaffa was to be done as simply and quickly as possible; as always with very little time to complete it in, the simpler the better. I saw it as being the return to simplicity, a light-hearted dance routine, no extras, no complicated special effects.“ [8] Es ist trotz dieser Einfachheit reizvoll und enthält sogar einen Auftritt von Kate Bushs Mutter [8].
„Suspended in Gaffa“ ist eine persönliches Stück, ein Blick in das Innere von Kate Bush. Ein fröhlicher Tanz gewährt einen Einblick. Der Song funktioniert sehr gut ohne Kenntnis dieses Hintergrunds, aber mit dieser Kenntnis gewinnt er noch erheblich dazu. Auch ein Tanzlied kann eben sehr tiefsinnig sein. © Achim/aHAJ
[1] Richard Cook: „My music sophisticated? I’d rather you said that than turdlike!“. New Musical Express Oktober 1982
[2] BBC Radio 1 Interview durch vermutlich David Jensen, Zeitpunkt unklar
3] Kate Bush: „About the dreaming“. KBC Ausgabe 12.
[4] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013. S.21
[5] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.152ff
[6] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.71f (C-Dur) und S.78f (a-Moll)
[7] Kate Bush. KBC Ausgabe 16. Interview
[8] Kate Bush. KBC Ausgabe 13. Sommer 1983.
[9] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Suspended_in_Gaffa (gelesen 26.11.2019)
[10] https://genius.com/Kate-bush-suspended-in-gaffa-lyrics (gelesen 26.11.2019)
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