Das Song-ABC: Aerial Tal

Eine Minute und zwei Sekunden lang ist Aerial Tal vom Album Aerial. Nur einige Akkorde, Vogelstimmen echt und mitgesungen, kein Text. Kann darüber überhaupt ein inhaltsreicher Beitrag geschrieben werden? Ich machte mich an die Arbeit, tauchte ein, stellte mir Fragen zum Song, die offenbar kaum einer bisher gestellt hatte und … ein Abgrund tat sich auf! Mein Nachdenken führte auf Dinge, die ich noch nirgendwo dazu auch nur ansatzweise gelesen habe! Das wird was ganz Neues, seid gespannt!
Aerial Tal ist einfach und schlicht. Eine Amsel beginnt einsam ihr Lied, dann kommt das Klavier dazu und spielt eine sich hypnotisch wiederholende Akkordfolge. Der Gesang der Amsel wird von Kate Bush in einer Imitation des Vogelstimmengesangs begleitet. Es ist ein entzückendes Duett zwischen diesen beiden Sängerinnen. Das Gurren von Tauben leitet in den nächsten Song über.
Aerial Tal ist ein reizendes Zwischenspiel, es verbindet zwei Songs der A Sky of Honey-Suite unmittelbar miteinander, bildet eine Brücke. Dieser kurze und irgendwie fremdartige Song enthält eine der zentralen Aussagen dieser Suite: Kate interpretiert das Lied der Vögel. Vielleicht hat es daher Verwendung als Teaser in der Werbung gefunden. Kate Bush beschreibt ihre Intentionen so: „Ich habe versucht, ein menschliches Äquivalent zum Vogelgesang zu finden. Ich liebe den Gesang von Vögeln sehr! Er ist wunderschön! Vielleicht liebe ich ihn gerade deswegen, weil es sehr emotional klingt, ohne dass er uns durch tausend Worte unsere Imagination nimmt.“ [1]
Ohne einen solchen Titel wäre Kate Bush einfach nicht Kate Bush, so meinte „Joanni“ im Bush-Forum [4], wie wahr! Zwischen den ruhigen Traumstücken ringsum ist es ein richtiger Wellenbrecher. Die Atonalität des Amselgesangs ist ein wirksamer Kontrast zu den harmonischen Songs ringsum. Es ist ein Stück, das einem beim Zuhören zum Lächeln bringt, es wirkt leicht und heiter. Obwohl es eigentlich überhaupt kein richtiger Song ist, hat er etwas Berührendes an sich. Wie und warum wirkt dieses Musikstück? Es ist hilfreich, dazu die musikalische Gestaltung [2] genauer unter die Lupe zu nehmen.

Reiner 4/4-Takt herrscht, es geht ohne Ablenkung voran. „Chirpily!“ steht als Spielanweisung da. Notiert ist das mit vier Kreuzen, es ist wohl ein E-Dur. Das Klavier spielt eine konstante Akkordfolge aus Achteln, die sich in jedem Takt zweimal wiederholt. Nur am Anfang und am Schluss des Songs fehlt diese Akkordfolge. Die Akkorde werden laut Partitur mit Pedal gespielt, das lässt die Akkorde miteinander verschwimmen. Die Akkordfolge (das „Pattern“) sieht so aus: E-Gis-H-Dis / Gis-Cis-E / Gis-Dis/ E. Das sind der E-Dur-Akkord ergänzt um die große Septime, der cis-Moll-Akkord (nicht in der Grundstellung), eine Quinte und als Einzelton der Grundton von E-Dur. Es sind alles Töne aus der E-Dur-Skala, von Akkord zu Akkord verringert sich die Anzahl der Töne im Akkord. Darüber erheben sich jedes mal anders in der rhythmischen Gestaltung und an anderer Position die Vogelgesangimitationen parallel zum Amselgesang, es ist ein richtiger Zwiegesang. Die erste melodische Phrase ist noch reiner Vogelgesang. Die Amsel macht die Einleitung, der Mensch nimmt das auf. Auch vor dem Klavier-Pattern erklingt Amselgesang. Das Pattern scheint auf den Gesang des Vogels zu reagieren. Am Ende (es beginnt zum Pattern, endet dann ohne) hören wir einen weiteren Vogel, die Taube, erst echt, dann nachgesungen. Laut Songbook ist der Text „a sea of honey, a sky of honey“, das ist aber eigentlich nicht zu verstehen. Es passt aber vom Rhythmus her.
Beim Anhören des Stückes kommt es mir vor, als ob es an zwei Stellen kleine Umstellungen in der Akkordfolge des Patterns gibt. In der Partitur findet sich das nicht. Es klingt so, als ob an diesen Stellen der erste und der dritte Akkord vertauscht worden sind. Hier kann ich mich aber auch durchaus irren.
Die im Pattern verwendeten Akkorde sind E-Dur und cis-Moll, E-Dur ist auch die Tonart des Stückes. E-Dur ist gemäß Beckh [3] die wärmste aller Tonarten. Sie steht für Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit, Liebeswärme. Es ist laut Beckh die „Sonnentonart“ und eine sehr poetische Tonart. Es herrscht in ihr die „Helligkeit einer anderen Welt, eine Welt der Träume, des Dichterischen, der höheren Bilderschau, in der wir der gewöhnlichen Tageswelt gänzlich entrückt sind.“ [3]. Die Paralleltonart cis-Moll ist laut Beckh ähnlich wie E-Dur, „nur ist da alles mehr in ein Element von Schwermut und Sehnsucht getaucht.“ [3]
Jetzt habe ich das Lied eingehend beschrieben. Die Biographen (und alle Texte über das Album, die ich kenne) lassen das maximal so stehen. Sie gehen noch nicht einmal auf die musikalische Gestaltung ein. „Aerial Tal“ scheint für sie nichts weiter als etwas für Kate Bush typisch Skurriles zu sein. Heiter kommt das Stück daher, Amsel und Kate Bush im Duett, leicht und beschwingt, etwas absonderlich. Man belässt es dabei. „Und doch klingt die Musik, zurückhaltend im Hintergrund, irgendwie mystisch. [….] da verbirgt sich noch mehr!“ [4], so „Dark Raven“ im Forum! Ja, genauso ist es! Aber was verbirgt sich da? Für mich sind einige Fragen unbeantwortet.
Warum steht dieses Stück genau an dieser Stelle in der Suite? Die Suite würde musikalisch auch ohne das funktionieren. Und warum werden genau diese zwei Vögel, Amsel und Taube, so prominent verwendet? Die Songs ringsum sind in cis-Moll, durch dieses E-Dur ist „Aerial Tal“ herausgehoben, gleichsam aus dem melancholischen Fluss in die Helligkeit einer anderen Welt gesetzt. Was kann das bedeuten?

Es gibt im Song keinen Text. Endlich mal ein Song, in dem man den Text nicht analysieren braucht, so könnte man denken. Aber Moment: es gibt die Überschrift. Was bedeutet die? Die Biographen schweigen sich darüber aus. Auch sonst findet sich nirgendwo ein Hinweis. War diese Frage zu schwer zu beantworten? Fragen über Fragen und keine Antworten. Ich werden versuchen, ein stimmiges Gesamtbild zu entwickeln. Das Bush-Forum [4] ist die einzige Quelle, in der auf diese Fragen wenigstens ansatzweise eingegangen worden ist. Die Menschen dort sind wirklich gut und sympathisch (leider ist kaum noch Aktivität da). „toriah“ warf eine wichtige Frage auf: „und nochmal werfe ich die frage in den raum: was bedeutet „tal“ ? dieses wort scheint es im englischen nicht zu geben, jedenfalls konnte ich noch keine übersetzung dafür finden. und mein englisch ist ziemlich fliessend..“. Von „killerstorm“ kam die Idee, dass dies vielleicht ein indisches Wort sein könnte: „The tal is the basic meter of all classical music in India.“ [4] Schauen wir uns diese Idee einmal genauer an.
Ein Tal oder Tala ist in der Musik Indiens, Bangladeschs und Pakistans ein metrischer Zyklus mit einer bestimmten Anzahl von Schlägen, die während einer musikalischen Darbietung im gleichen Muster wiederkehren. Tala könnte im Allgemeinen mit Rhythmus oder Takt gleichgesetzt werden, obwohl es in der westlichen Musik kein genaues Gegenstück zum Tala-Verfahren gibt [5]. Aerial Tal ist sehr klar rhythmisch strukturiert, das Klavier-Pattern gibt die Struktur vor. Es gibt also gewisse Übereinstimmungen mit dem Begriff „Tal“ aus der indischen Musik. Zufall? Aerial Tal würde dann so etwas wie Rhythmus der Luft, der Vögel bedeuten. Ich würde diese These für vollkommen überzeugend halten, wenn sie auch eine Beziehung zu den anderen offenen Fragen hätte. Aber da sehe ich keine Verbindung (was aber auch an meiner mangelnden Fantasie liegen könnte). Es muss also noch eine tiefere Schicht geben.
Um weiterzukommen, habe ich einen sehr fantasievollen Freund um eine Idee gebeten, was denn das Wort „Tal“ im Songtitel Aerial Tal von Kate Bush bedeuten könnte. Die Antwort fand ich sehr inspirierend. Der Songtitel Aerial Tal von Kate Bush könnte eine Variation des Begriffs „Aerial Toll-Houses“ sein, eine Lehre in der östlichen orthodoxen Theologie über den Prozess der Seelenreinigung nach dem Tod. In einigen Interpretationen repräsentieren die „Aerial Toll-Houses“ verschiedene Hindernisse oder Versuchungen, denen eine Seele auf ihrem Weg zum himmlischen Paradies begegnet. [6]
Luftzollhäuser (auch „telonia“ genannt, aus dem Griechischen für telonia = Zoll) sind ein Volksglaube, den es in der Orthodoxen Kirche gibt. Nach dem Tod eines Menschen verlässt danach die Seele den Körper und wird von Engeln zu Gott geleitet. Während dieser Reise durchquert die Seele ein Luftreich, das von bösen Geistern bewohnt wird. Die Seele begegnet diesen Dämonen an verschiedenen Stellen, die als Mauthäuser bezeichnet werden. Hier versuchen die Dämonen dann, sie der Sünde zu bezichtigen und die Seele, wenn möglich, in die Hölle zu ziehen. [7] Ergibt sich ein schlüssiges Bild, wenn wir Aerial Tal als musikalisches Luftzollhaus betrachten, als Übergangsstadien zwischen den Welten, zwischen Leben und Weiterleben?
Aerial Tal steht zwischen Liedern in cis-Moll und ist nach E-Dur gerückt. Nach Beckh [3] herrscht in E-Dur die „Helligkeit einer anderen Welt“. Das passt schon einmal. Vor dem Song kommt Sunset, das mit dem Sonnenuntergang endet, dem Vergehen des Lichts. Das ist so etwas wie ein Sterben. Nach Aerial Tal folgt Somewhere In Between. Schon der Songtitel sagt, dass wir hier in einer Zwischenwelt angekommen sind. Es ist die Welt vor der Wiederauferstehung in Nocturn und Aerial. Aerial Tal steht dazwischen, es markiert den Übergang in diese andere Welt. Wir sind hier an einem Ort zwischen Vergehen und Werden, wo Zeit keine Bedeutung hat. Das Klavier-Pattern hebt ja geradezu durch seine hypnotische Wirkung die Zeit auf. Bisher passt das verblüffend gut. Finden wir in Aerial Tal auch die ins Jenseits leitenden Engel oder die Dämonen der Versuchung?

Was hat es mit der Amsel auf sich? In nahezu allen Kulturen werden Vögel als Darstellung der menschlichen Seele gesehen. In der Mythologie sind Vögel oft Glück bringende Erscheinungen. Bereits im Altertum verkörperten sie die menschliche Seele, die im Augenblick des Todes aus dem Körper tritt und davonfliegt. Auch in der christlichen Kultur gilt der Vogel als Sinnbild der Seele. Er erscheint auf Darstellungen Marias mit dem Kinde, in denen das Christuskind einen Vogel in der Hand oder an der Leine hält [8]. Vögel sind also ganz allgemein Symbole des Übergangs der Seele.
Oft finden sich bei Kate Bush Verbindungen zum keltisch-schamanischen Kulturkreis. Auch da werden wir fündig (worauf schon „Dark Raven“ [4] hinweist). „Die Amsel ruft uns vom Torweg zwischen den beiden Welten und drängt uns, einen spirituellen Pfad zu verfolgen oder selbstbewusster zu werden. Sie ruft uns in die Dämmerung, zeigt uns den Weg zu den Geheimnissen der Anderswelt und weist darauf hin, dass wir mehr über unsere versteckten Motivationen und Potenziale entdecken können. [9]
Im Schamanismus hütet die Amsel das Tor zur Traumwelt, sie steht an der Schwelle zwischen zwei Welten, der bewussten und der unterbewussten Welt [10]. Die Druiden nannten die Amsel „schwarzen Druiden“, weil sie Zugang zur sogenannten Anderswelt hatte [10]. Die Amsel kann also als Hüterin des Tores in eine andere Welt aufgefasst werden. Am Schluss von Aerial Tal erklingt der Ruf der Taube. Auch hier ist die Symbolik vielsagend. „In der christlichen Kunst ist die Taube Symbol für den Heiligen Geist, aber auch Bild für die Seele im Zustand des himmlischen Friedens. […] So viele Bedeutungen die Taube auch hat – immer weist sie über unser Leben hinaus auf etwas Heiliges, das uns von Gott entgegenkommt […].“ [11]
Ich fasse meine sich aus diesen Details ergebende Analyse von Aerial Tal nun zusammen. Der Sonnenuntergang von Sunset ist so etwas wie ein Einschlafen, ein Lebensende. Ein Moment der Stille folgt, in dem nur das Lied der Amsel erklingt. Die Seele (die Protagonistin) erreicht ein merkwürdiges Zwischenreich und wird von der Amsel empfangen. Die Amsel ist der Hüter dieser Schwelle, sie ist die Begleiterin durch dieses Zwischenreich, sie ist der „Zollhauswächter“. Das Klavier-Pattern setzt ein, hypnotisch, es hebt die Zeit auf. Hier gibt es keine Zeit mehr, wir sind jenseits der Zeit. Die Tonart wird aus dem cis-Moll gerückt in ein leuchtendes, überirdisches E-Dur. Auch die Tonart signalisiert, dass wir woanders angekommen sind. Die große Septime im ersten Akkord des Patterns aber ist eine Dissonanz, das ist nicht rein harmonisch. Es ist die „Befragung“ im „Aerial-Toll-House“. Die Amsel setzt ein mit ihrem Lied, die Stimme der Protagonistin singt dann dazu im Duett. Die Befragung geht positiv aus, die Seele ist im Einklang mit der Stimme des Wächters. Die Taube übernimmt, dann endet das Pattern und damit die Befragung, die Taube erklingt weiter. Etwas Göttliches kommt der Seele in Gestalt der Taube entgegen und gewährt so Einlass in das jenseitige Reich, in die Anderswelt. Die Taube singt unverständliche Worte, so wie Gottes Sprache oft schwer zu entschlüsseln ist. Die Tonart wird wieder zurückgesetzt in cis-Moll, wir sind angekommen „irgendwo dazwischen“ in Somewhere in Between. Die Reise der Seele (der Protagonistin) geht weiter.
Mir erscheint die Herleitung und die Begründung dieser Interpretation recht einleuchtend. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass dies eine Interpretation ist und dass Kate Bush dem Song selbst möglicherweise eine andere Bedeutung gibt. Es könnte auch sein, dass sie das Wort „Tal“ aus anderen Gründen gewählt hat, die nur ihr bekannt sind. Auskunft geben könnte sie nur selbst, leider hat sie zu solchen Dingen bisher niemand befragt. Diese Analyse ist ein Versuch, ein entzückendes, skurriles Interludium in seiner Bedeutung einzuordnen. Aber es ist durchaus legitim, es bei „entzückend und skurril“ zu belassen. © Achim/aHAJ

[1] „Alle Vögel sind schon da“. Interview mit Michael Loesl. Der Standard. 15.11.2005.
[2] Kate Bush: Aerial (Songbook), London 2006. Faber Music Ltd. S.96f
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner; Stuttgart 1999. S.263ff (E-Dur) und S.268 (cis-Moll)
[4] https://www.carookee.de/forum/Kate-Bush/129/7559763-0-30115?p=1#tm (gelesen 20.03.2024)
[5] https://www.britannica.com/art/tala (gelesen: 20.03.2024)
[6] https://chat.openai.com (aufgerufen 21.03.2024)
[7] https://en.wikipedia.org/wiki/Aerial_toll_house (gelesen 21.03.2024)
[8] L. Impelluso “Die Natur und ihre Symbole”; Berlin 2005; S.288
[9] https://www.keltische-schamanen.de/tiere-a (gelesen 20.03.2024)
[10] https://coachinglovers.com/besser-leben/krafttier-amsel/ (gelesen 22.03.2024)
[11] https://www.herder.de/el/hefte/archiv/2015/6-2015/die-taube-symbol-fuer-heiliges/ (gelesen 23.03.2024)

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Bitte ausfüllen. Danke. * Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.