There Goes A Tenner stammt vom Album The Dreaming aus dem Jahr 1982, einem Album, in dem die Komponistin und Sängerin ALLES will und auf dem jeder Song ein Experiment ist. Der Gesang geht weg von der auf den früheren Alben vorhandenen Süße und Leichtigkeit hin zu mehr Ernst, er ist tiefer und kräftiger, erdiger. Es gibt noch mehr Stimmfärbungen als früher, den Inhalten angepasst, die Stimme ist dabei immer unter völliger Kontrolle. Themen des Albums sind Konflikte und der Kampf gegen Hemmnisse, Grenzen und Selbstzweifel.
There Goes A Tenner nimmt alle diese Dinge auf und zeigt sie uns fast exemplarisch. Auf den ersten Blick scheint der Song fast leicht, aber er ist viel komplexer, als er erscheint. Man sieht schon an meiner Literaturliste, wie viele verschiedene Aspekte es zu erfassen gab. Die Biografen machen es sich wieder recht einfach und schauen auf die Oberfläche. Typisch ist Graeme Thomson, der meint, der Song sei „eine tänzelnde Krimiparodie, die sich durch Kate Bushs weichen, melodischen Cockney-Akzent auszeichnet“ [1].
Der Song wurde am 2. November 1982 als Single veröffentlicht [7]. Die Kritiken zur Single waren nicht sehr positiv, um es neutral zu sagen. Beispiele kann man auf [7] nachlesen. Sie war ein Misserfolg: „There Goes a Tenner attracted no interest from radio stations and television stations. The single did not sell well and became Bush’s first single to miss the top 75 in the UK, peaking at number 93“ [8]. Daran änderte auch das skurrile Video nichts, das von Paul Henry inszeniert wurde und das Kate als Teil einer Bande zeigt, die eine Bank ausraubt [7].
Kate Bush schien sich klar darüber zu sein, dass der Song als Single nicht ideal war. Für sie war es aber offensichtlich einer der zugänglichsten Titel des Albums: „But I think I’ve reached a stage where, because The Dreaming didn’t work, we all felt–especially from an airplay point of view–that in order to get airplay, which you need for a single to work, we should go for one that was more obvious, and there is no doubt that There Goes a Tenner is one of the more obvious songs.“ [6]
Das Ungewöhnliche, Experimentelle des Songs wird gut von Rob Jovanovic beschrieben, der den „skurrilen Mix aus spöttischem Londoner Akzent, einem hohen, mädchenhaften Refrain und gut eingefangener irischer Klangfarbe“ hervorhebt [2]. Auch den vielgestaltigen Gesang stellt er heraus: „Der schizophrene Gesang passte gut zum Auf und Ab der Stimmung in diesem Song, und die tuckernde Melodie wurde häufig für sanfte Zwischenspiele unterbrochen“ [2].
„Mit einer Barpiano-ähnlichen Einlage beginnt There goes a Tenner, dazu setzen Bläser ein […] und durch die Trompeten und die Breaks hat man das Gefühl, die gehetzte Sängerin stolpert auf der Flucht vor was auch immer durch die Gegend“ [3]. Der Gesang der Protagonistin ist zurückgenommen, sie singt mit einem deutlichen Akzent. Aber immer wieder wird die Protagonistin von einem gegensätzlichen Impuls in Träumereien abgelenkt, eine hohe Stimme enthüllt Selbstzweifel [16]. Das sind fast comicartige Einlagen, in einer kindlichen Stimme gesungen („all my words fade“). Es gibt zudem dunkle, tiefe, düstere Töne im Chorus („We‘re waiting“), die wie eine Ermahnung aus dem Grab klingen. Karikatur und Düsternis treffen in diesem Song zusammen – es ist ein gereiftes Echo auf das ähnliche Coffee Homeground vom Album Lionheart. „Die atmosphärischen Einlagen lassen den Song noch seltsamer und zugleich wunderbarer werden [3].
Aber im Untergrund dieses Songs ist offenbar etwas nicht in Ordnung. There Goes A Tenner ist skurril, aber beunruhigend [16], „[der Song] hat einen düsteren Subtext“ [1]. Graeme Thomson hat dazu eine Vermutung. „Die an einen Krimi aus den Ealing-Filmstudios erinnernde Geschichte von Amateurganoven, die ihr „großes Ding“ planen […], lässt die Interpretation zu, dass Kate Bush hier unbewusst die eigenen Ängste und Unsicherheiten bei der Produktion ihres Albums kommentiert“ [1]. Für mich ist das ein nicht von der Hand zu weisender Aspekt, aber es gibt noch mehr zu entdecken.
Worum geht es in There Goes A Tenner? Graeme Thomson fasst es ganz kurz zusammen: „Zu der bläserdominierten Melodie erzählte Kate von einem Bankraub oder Überfall, der schief ging“ [2]. Kate Bush hat sich in Interviews recht ausführlich dazu geäußert. „It’s about amateur robbers who have only done small things, and this is quite a big robbery that they’ve been planning for months, and when it actually starts happening, they start freaking out. They’re really scared, and they’re so aware of the fact that something could go wrong that they just freaked out, and paranoid and want to go home“ [6].
Diese Bankräuber warten darauf, dass der Überfall beginnt, dieses Warten ist für Kate Bush eines der Hauptthemen des Songs: „One of the bits in the song is all about waiting, and how the first time they’re just waiting for something to go wrong, and the second time they’re just waiting for the guy to blow the safe up, because when he blows it up, there is so much that could go wrong“ [6].
Beeinflusst wurde Kate Bush durch alte Gangsterfilme, die ihr immer etwas unrealistisch erschienen. Da haben die Räuber alles unter Kontrolle. Kate Bush kann sich das nicht vorstellen: „It’s sort of all the films I’ve seen with robberies in, the crooks have always been incredibly in control and calm, and I always thought that if I ever did a robbery, I’d be really scared, you know, I’d be really worried. So I thought I’m sure that’s a much more human point of view“ [6]. Colin Irwin kommentiert die ganze Thematik so: „Personally I reckon the girl watches too many B-movies“ [4]. Da kann ich nur sagen: zum Glück! Ich sehe viele Einzelheiten des Songs in einem anderen Licht, wenn ich ihn in einem zweiten Durchgang höre. Es ist wie bei guten Kriminalfilmen, bei denen Details im Nachhinein auf einmal eine ganz andere Bedeutung bekommen. Ich wähle diesmal daher ein neues Vorgehen, ich analysiere den Song in zwei Durchgängen. Auf Details des Songs und des Textes kann ich so quasi im Vorbeigehen eingehen.
Der Gesamteindruck des ersten Durchlaufs ist klar: die Protagonistin erzählt die Geschichte des Bankraubs bis zum Scheitern durch eine große Explosion. Der Song ist dabei in ganz klar erkennbare Abschnitte gegliedert, die sich insbesondere in der Stimmfärbung klar voneinander unterscheiden (drei Strophen, zwei Pre-Chorus-Abschnitte, zwei Chorus-Abschnitte, zwei Post-Chorus-Abschnitte, ein Outro).
Geschrieben ist der Song in einem fast reinen 4/4-Takt, bis auf eine ganz kleine Ausnahme [9]. Dieser Takt sorgt dafür, dass der Song geradlinig und entschieden vorangeht. Vielleicht hat auch das dafür gesprochen, ihn zu einer Single zu machen. Notiert ist das mit 2b, das ist hier ein g-Moll. Der ganze Song enthält fast nur Akkorde dieser Tonart bis auf einige ganz wenige Ausnahmen. Außer den Akkorden der g-Moll-Skala kommt nur noch der As-Dur-Akkord vor [9].
Nach Beckh [10] besitzt die Tonart g-Moll eine eher tragische Färbung. Hier fehlt die Hoffnung, es ist ein „unter Tränen lächeln“. G-Moll steht laut Beckh für zu frühes Verzagen, zu frühes Aufgeben der Hoffnung. Als typisches Beispiel führt er die Arie der Pamina „Ach, ich fühl‘s“ aus der Zauberflöte von Mozart an. G-Moll, das ist tragischer Schicksalsernst. Diese Tonart ist eigentlich viel zu dunkel für das comicartige Geschehen, sie weist vielleicht schon auf das Scheitern des Einbruchs oder auf noch düstere Dinge hin.
„Okay, remember“.
Die Strophen werden in einem fast erzählenden Tonfall gesungen, nah an Sprache, mit Cockney-Akzent. Der Anfang der ersten Strophe zeichnet ein klares Bild einer Räuberin, die die Pläne durchgeht, die sie und ihre Partner ausgearbeitet haben. Die Wiederholung von „Okay, remember“ zeigt die Nervosität der Protagonistin. Sie versucht sicherzustellen, dass ihre Partner den Plan genau befolgen, um Fehler zu vermeiden und nicht erwischt zu werden.
„The sense of adventure / Is changing to danger“.
Aber diese Räuber scheinen überfordert zu sein. Kate Bush hat erwähnt, dass das Lied davon inspiriert ist, wie kontrolliert und ruhig Kriminelle in Filmen wirken, wenn sie Raubüberfälle begehen und wie schrecklich nervös sie selbst wäre, wenn sie eine Bank ausrauben würde. Der „sense of adventure“ bezieht sich darauf, dass die Erzählerin offenbar geglaubt hat, ein Bankraub würde Spaß machen und abenteuerlich sein. Das ist diese Romantisierung in Filmen, von der Kate Bush gesprochen hat. Jetzt aber bereut die Protagonistin dies offenbar. Das Abenteuer hat sich „in Gefahr verwandelt“. Die Realität der Situation gewinnt die Oberhand und die Protagonistin erkennt jetzt, dass Gefahr auf sie zukommt.
„My excitement / Turns into fright“
Die Aufregung verwandelt sich in Angst. Dieser Pre-Chorus-Abschnitt wird in einer etwas höheren Stimme gesungen, das ist melodischer und gesanglicher als in den Strophen, klingt weniger wie eine Erzählung. Während der gesamte Song fast durchgängig im 4/4-Takt steht, findet sich in den beiden kurzen Pre-Chorus-Abschnitten der ungewöhnliche 5/4-Takt [9]. „Der 5/4-Takt zeichnet sich in der Welt des Rhythmus durch seine einzigartige Struktur aus. Bei dieser Taktart gibt es fünf Schläge pro Takt, wobei die Viertelnote einen Schlag erhält. Dadurch entsteht ein ungerader, unregelmäßiger Rhythmus […]“ [11].
Warum gibt es diese kleine, kaum merkliche Ausweichung in einen anderen Takt? Das Lied würde auch wunderbar funktionieren, wenn hier auch der 4/4-Takt gegeben wäre. Es muss also eine Bedeutung haben, einen verborgenen Sinn besitzen. Der 5/4-Takt ist schon etwas recht Seltenes und er wird oft dann verwendet, wenn etwas von der Normalität Abweichendes ausgedrückt werden soll. „Gustav Holst verwendete den 5/4-Takt für die Eröffnung seines Meisterwerks „The Planets“ [….]. Mit „Mars – the bringer of war“ schuf er eine dramatische [Musik]“ [11]. Aber ich vermute, eine ganz andere Assoziation könnte Kate Bush zur Verwendung dieser Taktart inspiriert haben. „Ein weiteres bemerkenswertes Musikstück, das den 5/4-Takt verwendet, ist das Thema aus der bekannten Film- und Fernsehserie Mission Impossible, komponiert von Lalo Schifrin“ [11]. Diese Serie stammt aus den Jahren 1966 bis 1973 [12], Kate Bush als erklärte Fernseh- und Filmliebhaberin wird sie sicherlich gekannt haben. Eine Geschichte über einen scheiternden Bankraub und dazu „Mission Impossible“, ich finde das sehr einleuchtend.
„All my words fade / What am I gonna say? / Mustn’t give the game away“ Dies ist der erste Chorus-Abschnitt, gesungen wird mit einer hohen kindlichen Stimme, wie ein kleines Kind, das sich im Dunkeln fürchtet. Ist die Protagonistin in die Kindheit zurückversetzt, erinnert sie sich daran? Ich spüre das Bangen darum, dass alles gut geht. Hier gibt es eine Abweichung von g-Moll, der As-Dur-Akkord erklingt zu den Anfangssilben von „What am I gonna say / Must‘nt give the game away“[9]. Zur Bedeutung dieser weit von g-Moll entfernten Tonart beziehe ich mich wieder auf Beckh [10]. As-Dur ist die „zur tiefsten Tiefe hinunterführende Tonart“. Es ist die dunkelste der Dur-Tonarten, das „Licht in der Finsternis“, vom mysteriösem Charakter. Beckh verwendet Ausdrücke wie „Schwanengesang“ und „Durchgang durch die Todespforte“ [10]. Warum wird in den Chorus-Abschnitten aus dem ansonsten streng durchgehaltenen g-Moll des Scheiterns und der Tragik in so eine Tonart des Übergangs in eine Jenseits-Welt ausgewichen? Ein Versuch einer ersten Deutung: Die Protagonistin ist innerlich voller Angst, von düsteren Vorahnungen erfüllt.
„We‘re waiting“
Hier im Post-Chorus ist musikalisch alles anders. Ganz tiefe Stimmen sind zu hören, kaum zu verstehen. Das ist dunkel und unheimlich. Es gibt keine klare Melodie, nur miteinander verschwimmende Akkorde im vollen Orchesterklang. Die Nervosität der Protagonistin schlägt in Angst um, während sie auf den geplanten Zeitpunkt des Überfalls wartet („Wir warten…“).
„We got the job sussed“
Die zweite Strophe ist musikalisch genauso wie die erste Strophe gestaltet. Die Nervosität der Protagonistin schlägt in fehlgeleitetes Selbstvertrauen um („Wir haben den Job durchschaut …“). Alles scheint unter Kontrolle zu sein, die Protagonistin schildert die genaue Situation. Der Plan sieht offenbar vor, einen Tresor mit Sprenggelatine (englisch „gelignite“) zu sprengen. Aber langsam kommen die Ängste der Protagonistin wieder („I’m having dreams about things not going right“).
„Both my partners / Act like actors“
Der zweite Pre-Chorus ist musikalisch wie der erste Pre-Chorus, wieder finden wir die etwas höhere Stimme, wieder finden wir den 5/4-Takt. Langsam gleitet der Text ins Irreale. Faustregel in diesem Song: je höher die Stimme, desto irrealer.
„You are Bogart, he is George Raft / That leaves Cagney and me“ Dieser zweite Chorus ist musikalisch eine Kopie des ersten Chorus. Kate Bush vergleicht ihre Diebeskameraden und sich selbst mit Humphrey Bogart, George Raft und James Cagney allesamt Hollywood-Hauptdarsteller aus den 30er und 40er Jahren, die für ihre Rollen als Gangster und andere harte Kerle bekannt waren [13]. Damit wird angedeutet, dass das Team eher Schauspieler als echte Kriminelle sind. Sie sind eigentlich nicht besonders geschickt im Diebstahl und täuschen nur eine ziemlich überzeugende Fassade vor. Eine Männerstimme im Hintergrund fragt dabei „What about Edward G.?“, ein Verweis auf einen weiteren berühmten Schauspieler dieser Zeit, Edward G. Robinson.
Kate Bush erklärt diesen Bezug auf diese Schauspieler so: „They are people I like. For me, Cagney is one of the greatest actors that has ever been. I just couldn’t believe his acting in White Heat. He’s always played the boy who grew up in a hard time and in a way he was only ever bad because of the things that had influenced him. He comes across as a very human person who had the potential to do something great but was always misled“ [5]. Das gibt eine gute Erklärung, wie Kate Bush die Protagonistin in diesem Song sieht: eigentlich ein guter Mensch, aber fehlgeleitet.
Paul Simper fragte Kate Bush in einem Interview [5], ob der Song von den Krimi-Komödien aus dem Ealing Studios beeinflusst sei. Kate Bush stimmt dem zu: „Yeah, that’s right. So it’s like maybe they get a bit cocky… I dunno, I’ve never done a robbery, but I think that in a situation like that you’d almost try to be like the person you admire so perhaps they’d be like Cagney and George Raft. They idea was nothing like deep – it was just handy! The real challenge of that song was to make it a story but also keep it like a Thirties tune“ [5].
„We’re waiting“
Auch der zweite Post-Chorus ist musikalisch wie der erste Post-Chorus gestaltet. Die Einbrecher warten erneut, während die Zündschnur am Sprengstoff glimmt. Jetzt klingt dieser Stimmenchor fast noch unheimlicher und grabestiefer als beim ersten Auftreten.
„You blow the safe up / Then all I know is I wake up, covered in rubble“ In dieser dritten Strophe ist der Safe explodiert. Sie haben zu viel Sprengstoff verwendet und Banknoten werden in die Luft gesprengt – eine weitere bekannte Szene aus Filmen wie „Butch Cassidy und Sundance Kid“ und anderen [14]. Menschen taumeln in den Trümmern der Bank umher. Die Protagonistin ist von der Explosion betäubt und es ist unklar, ob der Rest des Liedes von Ereignissen handelt, die tatsächlich geschehen sind. Es könnten auch weitere Angstträume sein, wie sie sie schon zuvor hatte. Es könnten aber auch die verwirrten Gedanken von jemandem sein, der gerade in die Luft gesprengt wurde.
„One of the rabble needs mummy („What’s all this, then?“)“ Der Text „What’s all this, then?“ soll nach der Transkription [13] im Hintergrund zu hören sein. Dieser Ausdruck ist für mich kaum zu hören, da muss ich mich auf die Transkription verlassen. Es ist ein Ausdruck, der in der gesamten britischen Kultur, insbesondere in der Komödie, stereotypisch mit Polizisten in Verbindung gebracht wird [14]. Er bedeutet sinngemäß etwa „Was ist denn hier los?“. Offenbar kommt die Polizei zum Tatort.
„The government will never find the money“ Diese Textzeile ist sehr mysteriös und hat bei Deutungsversuchen im Internet zu Spekulationen geführt. Warum wird niemand das Geld aus dem Tresor finden? Offenbar wurde es vom Winde verweht, wie es der Text später sagt. Bei einem typischen Raubüberfall übernimmt die Polizei die Ermittlungen. Kate Bushs Verwendung des Wortes „Government“ (Regierung) ist also sonderbar [15]. Ist das eine politische Anspielung? Ist der Überfall vielleicht politisch motiviert? Kate Bush hat irische Wurzeln und die IRA hat solche Überfälle durchgeführt. Rob Jovanovic hebt ja auch die irische Klangfarbe des Songs hervor [2]. Es mag sein, dass dies ein sublimer politischer Subtext ist. Es gibt aber im Song keine weiteren Hinweise darauf.
„I’ve been here all day / A star in strange ways“ Diesen Satz kann man mit „Ich bin den ganzen Tag hier / Ein Star auf seltsame Weise“ wörtlich übersetzen, aber das trifft nicht den Doppelsinn. Kate Bush setzt hier ein Wortspiel ein [13]. Die Protagonistin denkt darüber nach, wie merkwürdig es ist, dass einer Kriminellen so viel Aufmerksamkeit zuteil wird und verweist dabei auf Strangeways, ein berühmtes Gefängnis in Manchester. Auf dieses Gefängnis nehmen auch die Smiths in ihrem Albumtitel „Strangeways, Here We Come“ Bezug [13]. Vielleicht ist die Protagonistin nach dem Überfall in dieses Gefängnis verlegt worden.
Ab „I‘ve been here all day“ setzt eingewoben in den Klangteppich eine langgeschwungene Melodie ein, wie ein Lied aus einer anderen Welt. Die musikalische Welt verändert sich und geht in die Welt des Outro-Abschnittes über.
„Apart from a photograph, they’ll get nothing from me / Not until they let me see my solicitor“ Hier hat die Protagonistin einen klaren Moment. Das ist eindeutig eine Verweigerung der Aussage, bevor es eine Rechtsberatung gegeben hat. Ein Solicitor bespricht sich als Rechtsanwalt mit seinem Klienten und berät diesen juristisch, tritt aber nicht selbst vor (höheren) Gerichten auf [17]. Da die Rechtsberatung noch nicht stattgefunden hat, haben wir hier eine klare zeitlich Einordnung: es muss kurz nach dem gescheiterten Raub sein.
„Ooh, I remember / That rich, windy weather“ Nach dem zweifachen Durchgang durch die Abschnitte Strophe – Pre-Chorus – Chorus – Postchorus folgt nach der dritten Strophe nicht ein Abschnitt Pre-Chorus – Chorus – Postchorus, es folgt jetzt ein anders gestaltetes Outro. Hier lösen sich die Dinge wirklich von der Realität. Die Protagonistin ist möglicherweise immer noch bewusstlos oder stirbt sogar. Ab hier ist in der langgeschwungenen Melodie wie aus einer anderen Welt ein Chor aus Kate-Stimmen zu hören, der aber nur Vokalisen singt, keinen Text. Vielleicht ist der Text des Outros eine Erinnerung oder ein halb unbewusster Traumzustand. „Reiches, windiges Wetter“ beschreibt einen Wirbel fliegender Banknoten ziemlich gut. „Ooh, ich erinnere mich an dieses reiche, windige Wetter“, das ist eine Erinnerung an vergangene Dinge.
„When you would carry me / Pockets floating in the breeze“ Taschen, die im Wind schweben …. Jemand, vielleicht einer der anderen Räuber, versucht, sie aus dem Chaos wegzutragen, während ringsum alles durch die Luft fliegt.
„Ooh, there goes a tenner / Hey, look, there’s a fiver“ Da der Sprengsatz zu heftig war, wird das Geld („Zehner“ und „Fünfer“) im Wind verstreut, was den Zweck des Raubüberfalls zunichte macht. Die Erzählerin kann jetzt nur noch auf das davonflatternde Geld starren. Aber der Satz ist merkwürdig, weg von der Realität. Die Protagonistin hat entweder ihre Situation vergessen oder träumt und fragt sich, woher das ganze fliegende Geld kommt.
„There’s a ten-shilling note / Remember them?“ Die 10-Schilling-Note wurde 1970 aus dem Verkehr gezogen, vor der Umstellung des britischen Pfunds auf das Dezimalsystem im Jahr 1971 [13]. Unter der Annahme, dass es im Safe einer Bank der 1980er Jahre keine alten Banknoten gegeben hätte, zeigt dies einen noch tieferen Abstieg in den Traum oder die Unwirklichkeit.
„That’s when we used to vote for him“
Und hier wird es endgültig mysteriös. Wer ist dieser Mann, der offenbar gewählt worden ist? Zur 10-Shilling-Banknote passt vielleicht Harold Wilson, der Premierminister von 1964 bis 1970. Und wenn das so ist, was will uns diese Zeile sagen? Ich habe nicht die geringste Ahnung! Aber damit bin ich nicht allein, Jamie Andrews befragte dazu Kates Bushs Bruder: „Unfortunately, even John Carder Bush did not know who „him“ is, when I asked him about it“ [18].
Das Outro lässt viele Fragen offen. Warum dieses Zurück in eine vergangene Zeit? Spielt da die Geschichte? Oder erinnert sich die Protagonistin an etwas weit Zurückliegendes? Ist der Song ein alles rekapitulierender Fiebertraum im Todeskampf nach der Explosion, ist es eine Erinnerung am Rande des Totenreichs? Nehmen wir dies als Prämisse an und gehen noch einmal in einem zweiten Durchgang durch den Song, schauen, ob es Sinn ergibt!
Die Tonart g-Moll macht unter diesen Voraussetzungen mehr Sinn. G-Moll, das ist ja nach Beckh [10] tragischer Schicksalsernst, hier fehlt die Hoffnung. Jetzt im Nachhinein passt diese Tonart viel besser. Die Geschichte ist tragisch von Anfang an, es hat nie Hoffnung gegeben. Der Song beginnt mit der ersten Strophe, mit der Textzeile „Okay, remember“. Das lässt sich also alles als Erinnerung auffassen. Das bemerkt man nicht zu Beginn des Hörens, die Idee kommt erst zum Schluss des Dings auf. In diesem Song geht es um das sich Erinnern der Protagonistin, das sagt die erste Zeile.
„All my words fade / What am I gonna say? / Mustn’t give the game away“ Dies ist der erste Chorus-Abschnitt. „Alle meine Worte verblassen / Was soll ich sagen? / Wir dürfen das Spiel nicht verraten“ – deutet sich hier das Sterben an, „verblasst“ die Protagonistin? Zu den Anfangssilben von „“What am I gonna say / Must‘nt give the game away“ kommt hier der As-Akkord vor [9]. Nach Beckh [10] ist As-Dur die zur tiefsten Tiefe hinunterführende Tonart, der „Schwanengesang“, der „Durchgang durch die Todespforte“. Es ist eine Tonart des Sterbens, so macht die Verwendung auf einmal viel mehr Sinn.
„We‘re waiting“
Diese dunklen, tiefen, düsteren Töne im Post-Chorus klingen wie eine Ermahnung aus dem Grab. Sind das eventuell die durch den Sprengstoff getöteten Mittäter, die auf das Sterben der Protagonistin warten? Auch das hört man beim ersten Durchhören nicht, dazu braucht man die Kenntnis der ganzen Geschichte. Sind wir hier in der durch den As-Dur-Akkord angekündigten Jenseits-Welt? Hören wir hier die Stimmen der anderen Seite? Warten hier die Toten im Jenseits auf die Protagonistin? Dieser Post-Chorus macht für mich aus diesem Blickwinkel sehr viel Sinn.
„I’ve been here all day / A star in strange ways“ In der dritten Strophe setzt ab „I‘ve been here all day“ eingewoben in den Klangteppich eine langgeschwungene Melodie ein, wie ein Lied aus einer anderen Welt klingt. Sind das himmlische Engelsstimmen? Der Text der dritten Strophe lässt sich so auffassen, dass die Protagonistin in einer Art Zwischenreich zwischen Leben und Tod gefangen ist, vielleicht schon lange.
„Ooh, I remember / That rich, windy weather“ Im Outro-Abschnitt ist in der langgeschwungenen Melodie wie aus einer anderen Welt ein Chor aus Kate-Stimmen zu hören, der aber nur Vokalisen singt, keinen Text. Vielleicht sind es wirklich Engelsstimmen aus dem Jenseits. Im Text wird wieder das Erinnerungs-Motiv beschworen. Das könnte wieder eine Erinnerung der sterbenden Protagonistin sein. Die Dinge lösen sich von der Realität, die Protagonistin ist im ewigen Kreislauf der Erinnerungen gefangen. Wieder kommt der As-Dur-Akkord dazu, auf „Remember“ bei „Oh I remember / That windy weather“ und zu „Tenner“ in „Oh There Goes a Tenner“ [9]. Spricht hier die Protagonistin an der Todespforte? Für mich enthält der gesamte Text des Songs die letzten Worte einer Sterbenden. Vielleicht ist sie schon seit langer Zeit in einer Art Zwischenreich, dem Fegefeuer – der Bankraub passierte, als es noch 10-Shilling-Banknoten gab.
There Goes A Tenner ist wunderbar. Es ist ein Song mit so vielen Details, dass es richtig Spaß macht, das alles zu entschlüsseln. Eine skurrile, comicartige Krimiparodie verdeckt für mich eine düstere zweite Ebene. Aber der Song ist auch einfach so bezaubernd, man muss nicht tiefer blicken. Kate Bush nimmt in ihren Äußerungen zum Song auch nur Bezug auf die erste Ebene. Einfach mal wieder hören, das ist mein Rat. © Achim/aHAJ
[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.241
[2] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.135
[3] https://www.musikansich.de/review.php?id=10175 (gelesen: 04.04.2024)
[4] Colin Irwin: Review The Dreaming. Melody Maker. 11.09.1982.
[5] Paul Simper: Dreamtime is over (Interview). Melody Maker. 16.10.1982.
[6] „The Dreaming Interview“. CBAK 4011 CD (picture disk).
[7] https://www.katebushencyclopedia.com/there-goes-a-tenner/ (gelesen: 31.03.2024)
[8] https://en.m.wikipedia.org/wiki/There_Goes_a_Tenner (gelesen 08.04.2024)
[9] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.158f
[10] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.248f (g-Moll) und S.196ff (As-Dur)
[11] https://www.skoove.com/blog/de/takt-und-taktarten/ (gelesen 08.04.2024)
[12] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Theme_from_Mission:_Impossible (gelesen 08.04.2024)
[13] https://genius.com/Kate-bush-there-goes-a-tenner-lyrics (gelesen 01.04.2024)
[14] https://www.reddit.com/r/katebush/comments/xj1j94/how_do_you_interpret_the_last_verse_of_there_goes/?rdt=53197 (gelesen: 04.04.2024)
[15] https://songmeanings.com/songs/view/54728/ (gelesen: 04.04.2024)
[16] https://www.daysoftheunderground.com/post/kate-bush-rock-folk (gelesen: 04.04.2024)
[17] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Barrister#:~:text=Ihm%20gegen%C3%BCber%20steht%20der%20Solicitor,vor%20Gericht%20(um%201900) (gelesen 08.04.2024)
[18] http://gaffa.org/dreaming/td_tgat.html (gelesen 09.04.2024)
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