Das Song-ABC: Among Angels

Dies ist definitiv einer der ergreifendsten Songs von Kate Bush. Among Angels ist der Schlusstitel ihres Albums „50 Words for Snow“, ihres zweiten Albums von 2011. Wie viele Stücke dieses Albums zeigt er uns Kate Bush am Klavier, wieder einmal stellt sie die Fähigkeiten zur Schau, die sie als Teenager entwickelt hatte. Aber insbesondere in diesem Stück zeigt sich, welche Entwicklung sie seither in diesen Jahren gemacht hat, zu welcher Reife sie gelangt ist. Dieses karge, ergreifende Liebeslied an einen bedrängten, geliebten Menschen hat nichts mit Schnee zu tun, dem zentralen Thema des Albums. Es passt aber perfekt als Coda zur Atmosphäre dieses Albums voller glitzernder, winterkühler und übernatürlicher Träumereien.
Der Song ist offenbar einige Zeit vor dem Album entstanden, worauf Graeme Thomson hinweist. „Among Angels hatte sie allerdings bereits drei Jahre zuvor geschrieben und angesichts der Entstehungszeit, des Textes und der Stimmung, die Trauer, Liebe und Zweifel in sich vereint, fällt es schwer, den Song nicht als Reaktion auf den Tod ihres Vaters, der 2008 verstarb, zu verstehen“ [6].
Es passte einfach hinein in die Stimmung des Albums, es hatte seinen Ursprung in der gleichen Quelle der Inspiration. Deshalb wurde es aufgenommen, wie Kate Bush es in einem Interview sagte: „[…] although it has nothing to do with snow I felt that it’s, it had it’s place in there atmospherically, it just seemed to feel, you know, part of the same place that the other songs were coming from“ [7].

Als einziger live gespielter Song dieses Albums war er Teil von Kates Zugabe während der Before The Dawn-Konzerte, eine Live-Aufnahme wurde Ende 2016 auf dem gleichnamigen Konzertalbum veröffentlicht. Er war auch die B-Seite der Lake Tahoe-Picture-Disc, die zum Record Store Day 2012 veröffentlicht wurde [1]. Bei ihren Before The Dawn-Konzerten war Among Angels das einzige Stück, das Kate Bush allein auf der Bühne spielte, was zur Intimität des Songs beitrug. Among Angels ist ein Song, der von einem Gefühl der Einsamkeit und der Suche nach Trost und Erlösung handelt. Er handelt von der Verzweiflung, die wir empfinden, wenn wir uns an einem dunklen Punkt unseres Lebens befinden. Wir vergessen die Menschen, für die wir uns wichtig sind, die uns immer zur Seite stehen. Kate Bush nennt diese Personen die Engel. Das könnte man religiös interpretieren, aber das gibt der Text in seiner Gänze nicht her. Engel sind Menschen, die uns, ob physisch anwesend oder nicht, Trost spenden. Es sind Menschen, deren Liebe ewig und unerschütterlich ist und deren Unterstützung immer da ist. Das Lied ist damit eine tröstliche, zärtliche Aufmunterung.
Aber neben diesem Trost hat der Song auch eine sehr realistische, lebensnahe Perspektive. Er ist eindeutig auch eine Aufforderung zur Selbstreflektion: „Only you can do something about it / There’s no-one there, my friend“. Kate Bush ist Realistin, für sie haben wir alle die Fähigkeit, unsere eigenen Probleme anzugehen und unser eigenes Glück zu finden. Das Lied startet in dieser sehr geerdeten Stimmung, doch bald wird das spirituell überhöht und Kate Bush spendet uns himmlischen Trost zu zarten Akkorden: “I see angels standing around you / They shimmer like mirrors in summer / But you don’t know it”. „Während „Zweifel kommen und gehen“ („in and out of doubt“) spricht der Song von Liebe, Hoffnung, Tod, Glaube und Kampf“, so sagt es treffend Graeme Thomson [6]. 
Kate Bush schreibt selten aus einer rein persönlichen Perspektive, sie zieht die Distanz zu einer fiktiven Figur vor. Doch dieser Song kommt mir wie ein äußerst persönliches Lied vor. Dies gibt es manchmal bei Kate Bush, man denke an Moments Of Pleasure und A Choral Room. Vielleicht ist es an einen Freund gerichtet, vielleicht an die Sängerin selbst (der Tod ihres Vaters). Er zeigt tiefes Mitgefühl für die Person, an die es gerichtet wird. Der Song gibt jedoch nicht vor, zu wissen, wie man das heilt, was nicht in Ordnung ist. „Only you can do something about it“, lautet ja die erste Zeile. Dennoch ist das Lied voller Trost: „There’s someone who’s loved you / Forever / But you don’t know it“.

Among Angels ist der einzige Titel, bei dem Kate als alleinige Interpretin genannt wird. Es gibt kein Schlagzeug, keine Rhythmusinstrumente, wir hören das Klavier und einen fast schmerzenden, leisen Gesang, zärtlich, voller Emotion, wunderbar gesungen. Das ungedämpfte Klavier lässt die Obertöne durchgehend hören, was dem Ganzen eine ätherische Atmosphäre verleiht. In der Mitte des Songs kommen leise Streicher dazu im Streicherarrangement des amerikanischen Orchestrators Jonathan Tunick. Dies macht die Emotionen des Songs noch stärker. Ganz zart und ruhig sind diese Streicher, sie wirken wie ein zarter Schleier über der Musik, es sind verhallende Echos der Klaviertöne. „Fünf Minuten lang umkreist Kate Bush vorsichtig tastend die Melodie, bis sie sie schließlich packt und das Stück [….] zu Ende singt““, so sagt es Graeme Thomsom [6]. Der Song nimmt sich Zeit, lässt die Zeit stillstehen. Der Schluss ist ein Streicherakkord, der ganz allmählich verhallt. Der Beginn des Songs (Album-Version) ist bemerkenswert, es beginnt mit einer Art Fehlstart. Der Titel startet zunächst mit einem offenbar falschen Akkord, woraufhin Kate Bush ein „No“ als Entschuldigung murmelt und dann neu mit dem Grundakkord beginnt, mit einem D im Bassschlüssel. Dieser Fehler blieb „[…] auf der Aufnahme enthalten. Es waren eigentlich nur Kleinigkeiten, aber sie zeugen von einem tief empfundenen, neuen Verlangen, die Stimmung des Moments zu bewahren“ [6]. Kate Bush erläuterte das 2011 während ihres BBC Radio 4-Interviews: „I was going to take that off, so it just started with the top of the track, but a couple of friends said “No, no, no, don’t take it off!” Because it’s great because you actually get drawn into the song because you’re going “Oh, what happened there?“ [1]. Schön, dass sie es so gelassen hat!
Leider gibt es zum Album kein Songbook, für eine musikalische Analyse beziehe ich mich auf [4]. Es gibt häufige Taktwechsel in der Musik, was das Gefühl der Zeitlosigkeit verstärkt, weil es ein „Mitwippen“ verhindert. Notiert ist der Song in a-Moll, die Akkorde dieser Tonart bestimmen den Song. Tonika und Dominante der Paralleltonart C-Dur sind ebenfalls prominent vertreten. Aber es gibt auch Ausweichungen nach A-Dur, einer weiter entfernten Tonart.
Bei der Deutung der Tonarten beziehe ich mich auf Beckh [5]. Wie so oft sind die Tonarten bei Kate Bush auf den Punkt genau genutzt. Laut Beckh ist a-Moll schwermütig und poetisch. Es steht für die romantische Zwienatur, die Zwielicht-Natur, es ist die Sehnsuchtstonart. Damit gibt es genau die Grundstimmung des Songs wieder. A-Moll unterscheidet sich in seinem Charakter klar von C-Dur. Das ist die Tonart des klaren Lichts, die Tonart der nüchternen Klarheit. Bei aller romantischen Zärtlichkeit enthält der Song ja auch genau solche realistischen Momente der Klarheit. Aber da gibt es noch mehr. Nach Beckh „hat das schwermütige, poetische a-Moll schon durchaus Anteil an der Romantik von A-Dur“. A-Dur, das sind Lichteshöhen, das ist überirdische Leichtigkeit, das ist die Überwindung der Erdenschwere. A-Dur ist die Tonart des überirdischen Lichts, sie steht für höchste verklärte Seelenstimmung. Welche Tonart könnte besser für die Engel stehen und ihren Trost?
Zur Wirkung des Songs möchte ich Personen sprechen lassen, die ihn live bei den „Before The Dawn“-Konzerten erlebt haben. Stephen W. Tayler hat dabei mit Kate Bush zusammengearbeitet. “When I was invited by Kate to become the ‘Kate Vocal Navigator’ for the Before The Dawn live shows, we spent months with the crew and the band rehearsing and preparing. Every day at lunchtime, when the rehearsal stage was empty, Kate would come and practise a few songs at the piano with just me in the room, controlling her sound. One song she rehearsed every day was Among Angels. I was almost in tears every time she performed it. I was controlling her vocal live which was nerve-racking as it became a real struggle to concentrate. I was overwhelmed with emotion every time. You could hear a pin drop in the theatre.“ [2]
Die Musikjournalistin Jude Rogers war als Gast bei den Konzerten anwesend. „She came back for the encore, alone, and sat behind her piano. That’s when the weight of the night finally hit me. Pop shorthand still paints Kate Bush as a creature of wide, wild eyes and excess. She is much more about gentleness, thought, and small details.“ [3]

Among Angels ist ein wunderbarer, tiefsinniger Song. Er vermittelt eine Botschaft der Hoffnung und des Trostes in Zeiten der Verzweiflung. Gleichzeitig spricht er die universelle menschliche Erfahrung der Suche nach Sinn und Erlösung an. Stephen W. Tayler bringt es auf den Punkt: „I heard it for the first time when I was mixing the album 50 Words For Snow with Kate. The mood, simplicity, intimacy and emotion hit me right there and then. It’s such a profound and evocative song and such a stunning performance“ [2]. Wie bei allen großen Songs nützt er sich nicht ab, wie auch Stephen  W. Tayler feststellt: “I’ve heard Among Angels too many times to count, yet still feel the same emotions whenever I hear it, as if for the very first time.” [2] Das live zu hören, zum Abschluss eines großartigen Konzerts …. das muss eine überwältigende Erfahrung gewesen sein. Jude Rogers sagt es so und fasst für mich die Wirkung des Songs perfekt zusammen: „Among Angels says something magical in its shy notes and discordant moments: that people are there. There are angels that surround me, „like mirrors, that shimmer like summer“. I rest my „weary world in their hands“, lay my „broken laugh at their feet“. The music takes me to another place too, like a late Talk Talk song, quietly, effervescently. On Tuesday, that meant everything. Kate and I, for a moment, were alone, together.“ [3]
Among Angels ist einfach „Elegant und außergewöhnlich – ein grandioser Abschluss“ [6], wie es Graeme Thomson kurz und (zu) knapp zusammenfasst. Mich überwältigt der Song jedesmal, wenn ich ihn höre. Ich muss dann immer einen Moment ganz still sitzen und warten, bis die Emotionen abklingen.
Among Angels ist der Schlusspunkt von 50 Words For Snow. Neue Musik hat Kates Bush seitdem nicht veröffentlicht. Wir warten und warten und haben die Hoffnung irgendwie verloren. Der Song gibt uns ja Trost und Hoffnung und so will ich auch diesen Text mit etwas Hoffnung enden lassen. Könnte irgendwann etwas Neues kommen? Im Jahr 2011 hat sich Kate Bush in einem Interview dazu geäußert. „Well I’ve already got some ideas for the next one but I need to take some kind of break because I’ve been working so consistently for quite a long time now and I just need to sort of step back for a bit really, I think that’s very important ’cause I think if you work incessantly I think it’s quite dangerous. I think you start to lose you know a sort of picture of… I mean that’s just me; maybe it works for other people.“ [7]
Das gibt doch Hoffnung! Ein neues Album muss für Kate Bush eine neue Welt sein, so sagte es sie auch in diesem Interview: „I suppose I like to think that each album is really different from the one before. That’s really important to me ’cause I don’t want to feel like I’m making the same record all the time. I want it to be just a completely new challenge […].“ [7] Hoffen wir, dass sich irgendwann diese neue Welt für uns öffnet! © Achim/aHAJ

[1] https://genius.com/Kate-bush-among-angels-lyrics (gelesen 24.03.2024)
[2] https://www.loudersound.com/features/kate-bush-40-greatest-songs-of-all-time/2 (gelesen 24.03.2024)
[3] https://thequietus.com/articles/16137-kate-bush-beyond-the-hits (gelesen 25.03.2024)
[4] https://chordify.net/chords/kate-bush-songs/among-angels-chords (gelesen 24.03.2024)
[5] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner; Stuttgart 1999. S.78f (a-Moll), S.71f (C-Dur) und S.136f (A-Dur)
[6] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.406f und S.416
[7] https://musicfeeds.com.au/features/podcast-kate-bush-talks-50-words-for-snow/ (gelesen 31.03.2024)

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