Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.
Friedrich Hölderlin
Von Eberhard Gill
Die Musik von Kate Bush, der englischen Sirene, hat mich mit ihrer Verführungsgewalt schon in manch bedrohliche Situation gebracht. Zeit, dachte ich mir, mich etwas distanzierter und analytischer mit ihrem Werk zu befassen. Und da sie 2018 das Lyrikbuch „How to be invisible“ mit ausgewählten Songtexten veröffentlicht hat, knöpfe ich mir seit einigen Monaten jedes Wochenende einen ihrer Songtexte vor. Den schaue ich mir dann sehr gründlich an, denke über zugrundeliegende Strukturen und Wortwahl nach, höre den Song mehrfach und intensiv, lese die Besprechung im Song-ABC auf der Morningfog-Webseite, setze mich mit den Lesermeinungen in SongMeanings auseinander und lasse mich von den Kommentaren auf Youtube inspirieren.
Dabei bin ich kürzlich über eine verblüffende Auffälligkeit gestolpert. In „Deeper Understanding“ ist von einer „little black box“ die Rede, vielleicht einem Computer, der dessen Benutzer in die Einsamkeit und Isolation treibt. Also etwas Kleines, Unscheinbares, scheinbar Nettes und gleichzeitig etwas Gefährliches. Und eine Seite weiter vorne im Buch war im Song „A Coral Room“, einem Song über die Trauer nach dem Tod der Mutter, zärtlich und intim von einem „little brown jug“ die Rede. Und dann gab es doch, erinnerte ich mich, auch in „And Dream of Sheep“ das „little light“, das an der Rettungsweste einer Frau leuchtet, die alleine hilflos im Ozean treibt. Und es gab den „little kiss“ in „This Woman’s Work“, dieses zärtliche „give me that little kiss, give me your hand“, in dem das Leben des Kindes und der gebärenden Mutter auf Messers Schneide steht. Jedes Mal ist dieses Wort „little“ mit so viel Zärtlichkeit [1] verbunden. Und stets geht es dabei um Gefahr oder Bedrohung. Sollte dahinter etwa ein allgemeines Prinzip im Werk von Kate Bush stehen?
Als Wissenschaftler muss ich so eine gewagte These natürlich überprüfen. Und nach vielen Stunden mühsamem Texteditierens und statistischer Analysen bin ich tatsächlich einen Schritt weitergekommen. Dazu habe ich zunächst eine Datei erstellt, die die Texte aller von ihr geschriebenen Songs umfasst: 117 Songs, 24.691 Worte auf 121 Seiten in 11-Punkt-Schrift. Schon alleine dieses Ergebnis jagte mir einen Schauer über den Rücken. Wie viele Fans so etwas wohl besitzen? Und was diese Datei wohl für verborgene Schätze der Erkenntnis birgt? Aber nach so einem Zwischenergebnis beginnt dann erst die eigentliche Kernerarbeit zum Wörtchen „little“ und meiner These.
Kate hat das Wort „little“ in 27 ihrer Songs verwendet (23 Prozent der gesamten Songs). Insgesamt taucht es 53-mal auf, also im Schnitt etwa zweimal in diesen Songs. In der Reihenfolge der von ihr am meisten verwendeten Worte ihres Werks nimmt „little“ den Platz 24 ein. Übrigens wird diese Reihenfolge angeführt vom Wort „Out“, das 188-mal vorkommt und dem Wort „Love“, das mit 180-mal am Zweithäufigsten verwendet wird. Das Wort „little“ wird in 34 verschiedenen Zusammenhängen gebraucht: in 24 Prozent der Fälle abstrakt, wie etwa in „little lines“, in 47 Prozent der Fälle im Zusammenhang mit Personen, wie etwa in „little girl“, und in 29 Prozent der Fälle im Zusammenhang mit einem Ding, wie etwa in „little brown jug“.
Die Spanne der Gefühle, die mit „little“ assoziiert werden können, ist enorm und reicht von Unsicherheit über einen Wunsch bis zu Schutz und Rettung und tatsächlich ist es ganz häufig das Gefühl der Zärtlichkeit, das mit „little“ ausgedrückt wird. Die Gefahren, Bedrohungen und vielleicht der Horror, der in diesen „little“-Songs lauert, reicht vom Risiko in einer Beziehung oder deren Ende über Waffen und Krieg bis hin zu psychischer Krankheit und Tod. Aber gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Zärtlichkeit des Wörtchens „little“ und einer bedrohlichen Situation im Song? Dazu habe ich bei jeder Verwendung des Wortes „little“ die vorhandenen Korrelationen zu einer Bedrohungslage auf einer Werteskala eingeschätzt. So entstanden dann 53 Korrelationswerte, deren Verteilung ich mir angeschaut habe. Es hat mich sehr überrascht, dass die Werte klar in zwei Gruppen auseinanderfallen. In der ersten Gruppe (29%) gibt es keinen oder nur einen schwachen Zusammenhang zwischen Zärtlichkeit und Bedrohung. In der zweiten Gruppe (71%) ist jedoch der Zusammenhang deutlich bis sehr stark. Kate Bush verwendet also tatsächlich das Wort „little“ meistens und eindeutig im Zusammenhang mit Bedrohung.
Wem das noch nicht spannend genug ist, der kann sich nun noch den zeitlichen Verlauf dieses Zusammenhangs von Zärtlichkeit und Bedrohung über die Spanne Ihrer Alben anschauen und so einen Einblick in ihre Entwicklung als Künstlerin bekommen. Dieser Verlauf zeigt nämlich eine Kurve ähnlich der Maxwell-Verteilung, d.h. spärliche Verwendung im frühen Werk, dann aber ein schneller steiler Anstieg zu einem Maximum, also häufigster Verwendung, gefolgt von einem flachen langsamen Abfall. Was heißt das nun konkret? In ihrem ersten Album „The Kick Inside“ von 1978 kommt das Wort „little“ kaum vor und ist nicht verbunden mit Bedrohung. Sie muss diesen Zusammenhang nach Fertigstellung Ihres ersten Albums gefunden haben, denn in „Lionheart“ kommt beides schon deutlicher vor. Am häufigsten jedoch hat sie das Wort und dessen besonderen Zusammenhang im Zeitraum von 1980 bis 1985 benutzt, nämlich in den Alben „Never for Ever“ und „Hounds of Love“. Im Album „The Dreaming“, das auch in diesen Zeitraum fällt, benutzt sie es wenig, was auch verständlich ist, da dieses Album ihr „wütendstes“ Album ist. Und da bleibt für Zärtlichkeit nun mal wenig Platz. Danach besteht der starke Zusammenhang von Zärtlichkeit und Bedrohung in ihrem Werk zwar weiter, wird aber immer weniger eingesetzt. In ihrem bislang letzten Album „50 Words for Snow“ kommt es gar nicht mehr vor.
Aber was sagt das nun über ihre Lyrik, ihr Werk und ihre Gedankenwelt? Beide, das Wort „little“ und die Bedrohung, könnten ja nicht unterschiedlicher sein. Hier das kleine unscheinbare Wörtchen „little“, ganz konkret, klein, marginal und fast zu übersehen und dort die abstrakte Bedrohung, die sich über den ganzen Song zieht wie unheimliche, dunkel dräuende Gewitterwolken, die Unheil verheißen.
Hat sie dieses Wort eingesetzt um die Verletzlichkeit, die dem Wort innewohnt, der übermächtigen Bedrohung entgegen zu setzen? David gegen Goliath? Sicher nicht, denn Dualismus spielt in ihrem komplexen Werk keine Rolle. Dafür denkt sie viel zu differenziert. Benutzt sie das Wort in einem dramaturgischen Sinn, um mit dem Verletzlichen die Bedrohung nur noch unausweichlicher zu machen? Franz Kafka hatte sich solch eines Stilmittels bedient, als er im Dom-Kapitel des Romans „Der Prozess“ schreibt „Eine hohe, starke, an einer Säule befestigte Kerze … vermehrte vielmehr die Finsternis.“ Auch das scheint mir nicht plausibel, denn es ist zu zweckmäßig, zu berechnend und schlicht zu kurz gesprungen. Symbolisiert das Wort etwa „Rettung“ aus der Gefahr und man sollte es als eine Konkretisierung von Friedrich Hölderlins Zeilen „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ aus seiner Patmos-Hymne sehen? Ich denke, mit solch simplen Auswegen wird man weder Hölderlin gerecht noch tut man Kate Bush einen Gefallen. Niemand wird bei Kate Bush gerettet.
Wenn das alles nicht zutrifft, was ist es dann, was ihr an dieser Verbindung so wichtig ist, dass sie sie immer und immer wieder bemüht? Ich sehe hier zwei Gründe. Der erste Grund ist einfach, wenn auch alles andere als lapidar. Wenn wir bedroht sind, versuchen wir diese Situation mit unterschiedlichen Strategien zu meistern. Analytische Geister fokussieren sich auf die Gefahr, gehen im Kopf alle Optionen durch und entscheiden sich für die Variante, die zum besten Verhältnis von Nutzen zu Aufwand führt; Mutige nehmen die Gefahr scharf in den Blick, krempeln die Ärmel hoch, ballen die Fäuste und stellen sich ihr; ängstliche Gemüter ziehen den Kopf ein und hoffen, dass die Welt eine andere sein wird, wenn sie ihre Augen wieder öffnen; für Depressive und Trauernde verblasst die ganze Welt in bleiernes Grau. Allen gemeinsam ist die Verengung des Blicks auf die Bedrohung selbst. Die Anwesenheit des Wörtchens „little“ bei Kate Bush verweigert sich dieser Fokussierung und dieser einseitigen Bewertung. Gerade im Terror, indem man nichts anderes mehr sieht, hört, denkt und fühlt, ist da dieses „little“: die Erinnerung, die Person, das Handeln, das Objekt, auf das so zärtlich geschaut wird. Kate Bush verweigert sich der Fixierung auf die Bedrohung und beansprucht Raum für die Zwischentöne. Da ist mehr als diese Bedrohung, die vielleicht sogar etwas Attraktives und Anziehendes haben kann. Diese Bedrohung ruft die Zärtlichkeit geradezu hervor. In „Hello Earth“ (einem Song, den ich nur selten höre, da seine Schönheit für mich fast zu schmerzhaft ist) ist die Protagonistin existenzieller Bedrohung und Tod ausgesetzt, schwebt im Weltall losgelöst von der Erde und betrachtet die Erde liebevoll wie ein Spielzeug und verwebt dies mit Erinnerungen an ihre Kindheit „Peek a boo, peek a boo, little earth“. In „Army Dreamers“ wird der „little soldier“ im Sarg heimgebracht und die Katastrophe hat sich bereits ereignet.
Wenn man aber genauer hinschaut, ist da noch mehr zu entdecken: ein zweiter Aspekt, der in manchen „little“-Songs auftaucht. Schön kann man das im Song „A Coral Room“ beobachten. Hier ist zunächst von dem „little brown jug“ die Rede, den die verstorbene Mutter so gerne hatte. Wenige Zeilen später zerbricht dieser kleine Krug und es heißt „Oh little spider climbing out of a broken jug“. Die Bedrohung kommt dem mit Zärtlichkeit betrachteten Objekt gefährlich nahe. Die Bedrohung, der Tod, kriecht aus diesem Krug. Das „little“ hat das Objekt geändert und ist nun nicht mehr auf den Krug bezogen, sondern auf die kleine Spinne. Die Bedrohung nähert sich diesem mit so viel zärtlicher Trauer bedachten Objekt an und nimmt es beinahe ein. Die Bedrohung rückt der Zärtlichkeit gefährlich auf den Leib.
Ähnliches, aber noch weiter gehend, passiert in „Deeper Understanding“, wo die „little black box“, also vielleicht der Computer, einerseits Zugang zu den Informationen der Welt ermöglicht, zum Freund wird und einen gleichzeitig in die Isolation und Einsamkeit treibt. In diesem Bild verschmelzen Zärtlichkeit und Bedrohung vollständig, sind nicht mehr zu unterscheiden, bedingen sich in fortlaufendem Wechsel gegenseitig.
Die Bedrohung kann also im Extremfall selbst in die Zärtlichkeit schleichen, wie in „little black box“. Macht die Bedrohung dann die Zärtlichkeit zunichte, etwa wie ein Pac-Man, der wehrlose kleine Pünktchen auffrisst? Nein, das ist zu dualistisch gedacht. Die „little black box“ ist beides: sie symbolisiert den Weg in die Einsamkeit und den Weg zum Alles-Wissenden, zum Mit-Allem-Verbunden-Sein. Sie ist die Metapher der Ambivalenz. Beides kommt hier in einem einzigen Bild zusammen.
Lange habe ich danach gesucht, was denn eine Synthese von Zärtlichkeit und Bedrohung sein könnte, deren gegenseitige Durchdringung und Verschmelzung. Dieses Problem kann man sogar noch allgemeiner fassen, unabhängig von Kate Bush und unabhängig von diesen beiden Begriffspaaren, nämlich mit der Frage: Was ist die Synthese von Gefühlen? Die Antwort finde ich bei Kate Bush: die Synthese von Gefühlen macht diese Gefühle ambivalent, also mehrdeutig. Sie macht sowohl die Zärtlichkeit als auch die Bedrohung ambivalent. Ambivalenz ist also die Synthese in der Dialektik der Gefühle bei Kate Bush. Es ist freilich keine philosophische Synthese wie bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, sondern eine poetische Synthese: nicht abstrakt, sondern konkret, nicht zwangsläufig, sondern dynamisch, nicht erhebend, sondern schillernd.
Diese Ambivalenz macht die Poesie und Tiefe ihres Werkes aus. Diese Ambivalenz mutet sie nun uns Hörern zu. Damit müssen wir leben. Und so wie Kate Bush auf dieser Ambivalenz besteht, so blicke ich mit Zärtlichkeit auf ihr Werk, das eine solche Bedrohung für mich darstellt.
[1] Wenn jemand anderes als Kate Bush jemals in der Lage war stimmlich und vor allem gestisch die Zärtlichkeit auszudrücken, die dem Wörtchen „little“ in ihren Songs innewohnt, dann war es der Musiker Maxwell in seiner Live-Version in 1997 von „This Woman‘s Work“.
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