Das Song-ABC: All We Ever Look For

Diesem Song nähere ich mich ein bisschen mit Ehrfurcht. Er gehört zu meinen absoluten Lieblingsliedern von Kate Bush. Zudem stammt er vom Album „Never For Ever“, das mich damals endgültig für Kate Bush gewonnen hatte. „All We Ever Look For“ ist wahrscheinlich nur Insidern bekannt, was ich sehr schade finde. Ich bewundere seine „abrupte Großartigkeit“ [1] und seine Thematik: der Song setzt „sich mit den Wünschen und Bedürfnissen auseinander, die sich von einer Generation zur nächsten wandeln“ [1]. Nicht nur die Thematik ist interessant, sondern auch die musikalische Gestaltung. Das Fairlight, ein Synthesizer, wird auf diesem Track mit großer Wirkung eingesetzt, viele Soundsamples werden integriert. An einer Stelle singt eine Gruppe von Hare-Krishna-Anhängern das „Maha-Mantra“, wobei Kate einen winzigen Teil einer Zeile aus diesem Mantra verwendet: Krishna, Hare Krishna“ – „a God“. Es folgen Vogelgezwitscher – „a Drug“ – und schließlich Applaus – „a Hug“ [2]. Diese Samples erklingen zu den Geräuschen einer Frau, die über einen Fußboden geht und Türen öffnet, hinter denen diese Töne warten. Es gibt keinen Text dazu. Die eben hinzugefügten assoziierten Worte „God“, „Drug“ und „Hug“ werden erst in der anschließenden Coda gesungen.
Ich liebe auch die wunderbaren Klänge, die sich durch das Lied ziehen. Kate Bushs Bruder Paddy spielt eine Koto (eine japanische Zither), Morris Pert spielt Pauken. Das alles gibt dem Lied ein fremdartiges Flair. Zusammen mit dem schreitenden Rhythmus entsteht der Eindruck eines altehrwürdigen, höfischen Tanzes. Auch die sparsam eingesetzten Backing-Vocals von Preston Heyman, Paddy Bush, Andrew Bryant und Gary Hurst gefallen mir [2]. Die Schönheit dieses Songs geht mir immer wieder unter die Haut. Vielleicht ist „All We Ever Look For“ ein Weckruf, auf jeden Fall vermittelt es eine Erkenntnis: „All we’re ever looking for / Is another open door.“
Kate Bush hat sich mehrmals zu diesem Song geäußert. Die Hauptthematik ist eine, die wir alle kennen – wir sind auf der Suche (nach Glück? Erfüllung? Sinn?), aber meist vergeblich oder auf eine falsche Art und Weise. „All We Ever Look For is about how we seek something, but in the wrong way, or at wrong times, so it is never found.“ [8] Unseren Eltern ging das schon so, dies überträgt sich abgewandelt auf die Kinder. „One of my new songs, ‚All We Ever Look For‘, it’s not about me. It’s about family relationships generally. Our parents got beaten physically. We get beaten psychologically.“ [6] In einem anderen Interview führt sie dies noch genauer aus: „It’s interesting the things that we do pick up from our parent – the way we look or little scratching habits or something and obviously the genetic thing must be in there. All the time it’s going round in a big circle – we are always looking for something, all of us, just people generally and so often we never get it. We’re looking for happiness, we’re looking for a little bit of truth from our children, we’re looking for God, and so seldom do we find it because we don’t really know how to look.“ [7]

Die polnische Flexi, die mit dem Titel All We Ever Look For gelistet ist, auf der aber wohl der Song Egypt drauf ist.

Wir alle streben nach einem Ideal, einem „Gott“, auch dies führt Kate Bush näher aus. „Belief is motivation, and without that you don’t do anything. I mean, if your ‚God‘ is to have a husband and children, and you actually fulfill that… Many people don’t see the thing they love and believe in as ‚God‘. Most of us aren’t happy, really, and it’s only because our God isn’t complete.“ [5] Es ist schon außergewöhnlich, dass sich Kate Bush so ausführlich zu dem äußert, was sie mit einem Song ausdrücken wollte. Das Thema schien ihr wirklich eine Herzensangelegenheit gewesen zu sein. Aber es ist ein Thema, das uns alle jeden Tag betrifft. Wir sind mit den Erwartungen anderer Menschen und unserer Familie (an uns) konfrontiert, das beeinflusst uns. Wir haben Erwartungen an uns selbst, streben nach einem Ziel. Wir sind ständig auf der Suche, öffnen alle möglichen Türen – aber sind es die richtigen? Und wir schaffen es meist nicht, uns darüber klar zu werden und es uns einzugestehen.
„All We Ever Look For“ ist ein tiefsinniges, fast bekenntnishaftes Lied. Die Aussagen von Kate Bush passen genau zum Text, hier verbirgt sich kein tieferes Geheimnis. Das wirkliche Wunder ist die subtile musikalische Gestaltung. Um das nachvollziehen zu können, werde ich mich am Text und den Noten [3] entlang hangeln. Das Lied ist im 4/4-Takt geschrieben, es gibt nur einige eingestreute 2/4-Takte. Die erste Strophe, beginnend mit „Just look at your father“ steht in Es-Dur. Der Chorus ab „All they ever want for you“ steht in E-Dur mit kurzen Ausflügen in die Paralleltonart cis-Moll. Es folgt dann eine kurze instrumentale Überleitung in Es-Dur. Der zweite Durchgang ist genauso tonartenmäßig gestaltet. Die zweite Strophe ab „The whims that we’re weeping for / Our parents would be beaten for“ steht in Es-Dur, der folgende Chorus in E-Dur. Im Text in diesem zweiten Chorus steht aber „All we ever look for“. Es wechselt jetzt die Sichtweise vom „they“ des ersten Chorus auf das „we“. In der zweiten Strophe hört man Männerstimmen im Hintergrund, die aber eigentlich nur so etwas wie unterstützende Akkorde singen. Im zweiten Chorus tritt Kate Bush als leise Hintergrundstimme dazu. Mit dem „we“ meint sie offensichtlich sich selbst.
Es gibt in diesem Ablauf zwei getrennte Welten. Es-Dur ist die Welt der Erzählerin. E-Dur, einen Halbton höher, ist die Welt der Erwartungen und Wünsche. Im ersten Chorus ist es die Welt der Erwartungen der anderen Menschen, im zweiten Chorus sind wir bei uns selbst angekommen. Es ist eine musikalische Wanderung von außen nach innen, zu uns selbst. Aber Es-Dur und E-Dur sind harmonisch sehr weit voneinander entfernt. Allein schon daran sieht man, dass die Welt unserer Erwartungen und Wünsche etwas ist, was von uns (Es-Dur) auf harmonischem Weg nur schwer erreichbar ist. Die Tonarten sind – wie immer bei Kate Bush – sehr subtil und treffend eingesetzt. Unsere reale Welt steht in Es-Dur. Diese Tonart ist „nicht nur tiefstes Dunkel, sondern zugleich die Wiederaufwärtswendung zum Licht“. Sie besitzt einen starken, positiver Charakter, einen Charakter des Heroischen [4]. Ja, die Protagonistin hat Zweifel, Ängste, aber sie lässt sich davon nicht unterkriegen. Im Inneren ist sie eine Heldin.

… und die polnische Flexi, die mit dem Song Blow Away gelistet ist, auf der sich aber wohl All We Ever Look For befindet

E-Dur steht für die Sphäre der Erwartungen, der Wünsche, der Suche. Beckh meint zu dieser Tonart, sie „hat die Helligkeit einer ganz anderen Welt, einer Welt der Träume, des Dichterischen, der höheren Bilderschau, in der wir der gewöhnlichen Tageswelt gänzlich entrückt sind“ [4]. Zugleich ist sie eine Tonart der Herzenswärme, der Herzensinnerlichkeit, der Liebeswärme [4]. Kate Bush schaut offenbar liebevoll und mit Verständnis auf die Erwartungen anderer Menschen. Aber sie hat auch keine Illusionen, Erwartungen sind Träume, sind nichts aus der gewöhnlichen Tageswelt. Aber nach dem zweiten Chorus geht der Song weiter, wir kommen in eine Phase der Verarbeitung. Der Übergang zur Coda ist rein instrumental mit den sich öffnenden Türen. Die Protagonistin probiert neue Wege aus. Wie oben schon geschrieben gibt es hier keinen Text. Dieser Übergang beginnt kurz im Es-Dur der Realität. Hier sind wir nach dem zweiten Chorus wieder angekommen. Dann aber wandelt es sich schnell in eine ganz neue Tonart, das es-Moll. Unser positives Es-Dur hat sich eingedunkelt. Die eigentliche Coda beginnt mit „All we ever look vor“ in es-Moll und geht auch so weiter, mit Ausnahme des letzten Satzes. Der ist wieder in Es-Dur: „But we never do score.“ Rein instrumental geht es dann in Es-Dur dem Ende zu.
Nach Beckh [4] „vollzieht sich [bei es-Moll] ein Übergang von der Sinneswelt in die geistige Welt, ein Übergang, der über die Schwelle führt, die Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Tagesansicht und Nachtansicht der Welt, Sinneswelt und geistige Welt voneinander trennt“. Diese Tonart „kann als die im geistigen Sinne ernsteste aller Tonarten verstanden werden“, sie lässt uns „vor allem den Ernst des Schwellenübergangs, mitunter die Tragik des Schwellenübergangs erleben“. Eine passendere Tonart für ein Akzeptieren der Situation lässt sich kaum finden. Ja, es gibt Erwartungen, das Umgehen damit und mit dem Scheitern ist eine ernste Sache. Kate Bush sagt es selbst – es bleibt uns aber nichts anderes übrig: „The last line – „All we ever look for – but we never did score.“ Well, that’s the way it is – you do get faced sometimes with futile situations. But the answer is not to kill yourself. You have to accept it, you have to cope with it.“ [6] Und so wandelt sich die reale Welt nach es-Moll, dunkelt sich ein. Es ist ein mühsamer Prozess der Verarbeitung. Aber am Schluss sind wir wieder in der Welt von Es-Dur: „You have to accept it, you have to cope with it“ [6]. Es gelingt!
Ich finde es faszinierend, wie der Song um diese Töne E und Es kreist und so zwei Welten subtil musikalisch getrennt voneinander abbildet. Die Botschaft hinter „All We Ever Look For“ liegt offen vor uns, hier verbirgt sich kein Geheimnis. Das Geheimnis liegt hier in den Fundamenten der Musik verborgen. Unser reales Leben und unsere Erwartungen und Wünsche haben nichts miteinander zu tun. Das Verarbeiten dieser Erkenntnis ist ein schwieriger Prozess, unsere Sinnsuche selbst ist ein schwieriger Prozess. Aber wenn wir durch diesen Prozess hindurch sind, sind wir mit uns im Reinen. „All We Ever Look For“ ist ein magischer und einfach wunderschöner Song von einem wunderschönen Album.
Kate Bush hat hier wahrscheinlich ihren eigenen Lernprozess beschrieben. Eine Passage aus einem der Interviews deutet darauf hin: „[…] everything in my life goes into my music. Everything that happens to me affects me, and it comes out in my music. If I did become perfect, and was no longer vulnerable, perhaps I wouldn’t get the same shocks of emotion that make me want to write.“ [5] Vielleicht erklärt dieser letzte Satz auch, warum wir schon so lange auf neue Musik von ihr warten. © Achim/aHAJ

[1] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.118
[2] https://www.katebushencyclopedia.com/all-we-ever-look-for (gelesen 27.01.2023)
[3] “‪Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.57ff
[4] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.124 (Es-Dur), S.263ff (E-Dur), S.102 (es-Moll)
[5] Mike Nicholls: „Among the Bushes“. Interview „Record Mirror“, 1980
[6] Derek Jewell“: „How To Write Songs And Influence People“. Interview „Sunday Times“. 05.10.1980
[7] Interview „Never for Ever“. EMI 1980
[8] Kate Bush: „Them Bats and Doves“. Kate Bush Club Issue 7. 09/1980.

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