Das Song-ABC: The Morning Fog

„The Morning Fog“  ist ein sehr spannender und vieldeutiger Song, obwohl er auf dem ersten Blick ganz eindeutig erscheint. Aber wir sind bei Kate Bush, so etwas sollte uns nicht überraschen. Der Song beschließt die zweite Seite des Albums „Hounds Of Love“ und damit die Suite „The Ninth Wave“, die diese zweite Hälfte des Albums einnimmt. Um hinter das Geheimnis dieses Songs zu gehen, muss zuerst einmal geklärt werden, worum es in dieser Suite geht. „The Morning Fog“ ist der siebte und letzte Track dieser Suite, die eigentlich eine Art Mini-Konzeptalbum ist. Es geht um eine Frau, die nach einem Schiffsunglück allein im Meer zu ertrinken droht. Kate Bush sagt klar, worum es geht: „The Ninth Wave was a film, that’s how I thought of it. It’s the idea of this person being in the water, how they’ve got there, we don’t know. But the idea is that they’ve been on a ship and they’ve been washed over the side so they’re alone in this water.“ [6] „The Morning Fog“ beendet diese Suite. Es sieht so aus, dass die Frau ihre Nahtoderfahrung überlebt und wieder zu Bewusstsein kommt. Da sie dem Tod so nahe gekommen ist, verspricht sie, das Leben besser zu schätzen, ebenso wie diejenigen, die an ihrem Leben teilhaben. So der Text.
Das Lied hat unheimlich viel Atmosphäre, weil es die Auflösung und der Höhepunkt dieser unglaublichen Geschichte ist und nach so viel Dunkel einen helleren Ton anschlägt. Auch die Biographen sehen das so. Graeme Thomson ist voller Begeisterung: „Schließlich kündigt ‚The Morning Fog‘ den kommenden Morgen und eine Art emotionale Rettung an. Die Nebelschwaden sind eine geistige Macht, die über die Wellen zieht und das Mädchen wieder ans Land geleitet, zurück ins Leben, denn sie hat es überstanden und ist erfüllt von ihrer wiederentdeckten Liebe“ [1, S.263]. Für ihn ist es ein Song wie von warmen Sonnenlicht durchdrungen, „[…] der die Freude und Dankbarkeit eines Menschen ausdrückt, der von einer weiten Reise zurückkehrt – „I kiss the ground“ – und der nun entschlossen ist, die wirklich wichtigen Dinge zu wertschätzen: das Leben, die Liebe, die Natur und die Musik. Man kann es als Botschaft an ihr eigenes Ich verstehen: Lass dieses Glück nicht vergehen, singe davon, feiere es“ [1, S. 273]. Die musikalische Gestaltung trägt für Graeme Thomson viel zu dieser Wirkung bei, insbesondere wird das Gitarrenspiel von John Williams hervorgehoben: „John Williams spielte einen wunderbaren Gitarrenpart für „The Morning Fog“ ein – klare schimmernde Töne wie Tautropfen, wie eine Knospe, die sich zur Blüte öffnet“ [1, S. 276]. Dem ist kaum etwas hinzuzufügen.

Schauen wir auf den Text, so scheint alles diese helle und positive Botschaft eines Happy Ends zu untermauern. Der Morgen ist gekommen, die Heldin ist gerettet und an Land gebracht: „I’m falling / And I’d love to hold you know / I’ll kiss the ground / I’ll tell my mother / I’ll tell my father / I’ll tell my loved one / I’ll tell my brothers / How much I love them“ [2]. Die Biographen lassen es dabei bewenden und wir könnten es uns leicht machen und mit einer weiteren Analyse aufhören. Aber ist der positive Schluss wirklich so eindeutig? Sam Liddicott zum Beispiel äußert in einem sehr lesenswerten Essay [9] Zweifel. Für ihn besteht Unklarheit darüber, ob es sich um eine Rettung handelt, es sich um eine Vision der Frau handelt oder ob hier ihr Geist aus dem Jenseits spricht. Im Folgenden will ich versuchen, mich einer Klärung dieser Frage zu nähern. Sicher ist, dass es keine Eindeutigkeit gibt. Der Text sagt nichts aus über die Umstände dieser Rettung. Es könnte also sein, dass dies ein Wahn, eine Wunschvorstellung, eine Nahtoderfahrung ist. Die oben zitierten letzten Zeilen zeigen vielleicht eine Wunschvorstellung an. Die Protagonistin möchte, dass diese Dinge geschehen. Sie möchte ihren geliebten Personen sagen, wie sie sich fühlt. Kate Bush spricht 1985 davon, dass dieser Song ein Song der Hoffnung und des Lichts ist: „Morning Fog“ is the symbol of light and hope. It’s the end of the side, and if you ever have any control over endings they should always, I feel, have some kind of light in there“[7]. Das gibt keine Hinweise auf unsere Fragestellung, sie sagt nur, dass es ein positiver Schluss ist. Aber das Hinübergehen in den Himmel ist ja auch eine positive Wendung bzw. kann es sein.
Im Jahr 1992 ist Kate Bush dann schon eindeutiger beim positiven Schluss und neigt der Rettungstheorie zu: “Well, that’s really meant to be the rescue of the whole situation, where now suddenly out of all this darkness and weight comes light. You know, the weightiness is gone and here’s the morning, and it’s meant to feel very positive and bright and uplifting from the rest of dense, darkness of the previous track. And although it doesn’t say so, in my mind this was the song where they were rescued, where they get pulled out of the water. […] And it was also meant to be one of those kind of „thank you and goodnight“ songs. You know, the little finale where everyone does a little dance and then the bow and then they leave the stage“ [6]. Aber ganz deutlich sagt sie, dass dies nicht im Text steht: „And although it doesn’t say so, in my mind this was the song where they were rescued […]“.
In den „Before the Dawn“-Shows im Jahr 2014 gab es ein noch eindeutigeres Ende: Die hoffnungslose Situation löst sich auf. Die Protagonistin wird lebend aus dem Wasser gezogen. Eine glückliche und triumphale Auflösung für das Publikum! Wieder könnten wir nun aufhören. Aber die Fragestellung ist für mich immer noch nicht befriedigend geklärt. Im Laufe der Zeit hat sich offenbar Kate Bush immer klarer dafür entschieden, die Geschichte positiv mit einer Rettung enden zu lassen. Aber war dies im Moment der Komposition auch schon so eindeutig? Ist da nicht trotzdem immer noch diese zweite, dunklere Ebene? Und wird Kate Bush nicht VOR diesem Song in den Shows wie in einem Totenzug von der Bühne getragen? Sam Liddicott [9] wirft in den Raum, dass Kate Bush als erste Zugabe in der Konzertreihe ausgerechnet „Among Angels“ brachte und dann „Cloudbusting“. Spielt das auf die Möglichkeit an, dass die Heldin im übertragenen Sinne unter Engeln ist und sich ganz am Ende in den Wolken befindet? Hier muss aber hinzugefügt werden, dass diese Zugaben nicht direkt auf „The Morning Fog“ folgen.
Schaut man sich die Suite „The Ninth Wave“ insgesamt an, so wird die Stimmung im Laufe der Suite immer dunkler. Mir jedenfalls geht es so, dass ab „Watching You Without Me“ alles offen für Interpretationen ist. Das Lied handelt von geliebten Menschen, die darauf warten, dass die Protagonistin nach Hause kommt, ohne zu wissen, wo sie ist. Die Protagonistin ist wie eine unsichtbare Präsenz da, wie ein Geist. Für mich kippt hier die Geschichte. Dies könnte der Punkt sein, an dem sie dem unerbittlichen Schrecken der Wellen zu erliegen beginnt.  Es könnte sein, dass alles danach, also insbesondere „Hello Earth“ und „The Morning Fog“, ein Todestraum ist, ein Beobachten aus dem Himmel heraus. Ist die Protagonistin am Ende von „Hello Earth“ in einer Art Himmel angekommen?
Das ist eine Frage, die sich anhand des Textes und der musikalischen Gestaltung vielleicht einfacher beantworten lässt. Lassen sich hier textliche Indizien für das Hinübergehen in eine andere Welt finden? Das Ende von „Hello Earth“ beginnt mit den Worten „Why did I go? / Why did I go?“ [2]. Die Protagonistin stellt sich die Frage, warum sie gehen muss. Das klingt nach einer Erkenntnis im Moment des Todes. Dann kommt diese ganz außerordentliche Passage mit dem deutschen Text: „Tiefer, tiefer / Irgendwo in der Tiefe gibt es ein Licht“ [2]. Ich nehme das wörtlich: Die Protagonistin sinkt hinab in die Tiefe, auf ein geheimnisvolles Licht zu, das könnte das Ertrinken und das Hinübergehen in eine andere Welt sein. Die letzten Worte sind „Go to sleep little earth“ [2], ein Abschied von der Welt. Ohne Akkorde verdämmert, erstirbt „Hello Earth“ auf einem hohen Cis, dem Kernton dieses Songs.
„Hello Earth“ spricht also von Text und musikalischer Gestaltung her für die These des Übergangs in ein Totenreich, in einen Himmel. Gibt es auch in „The Morning Fog“ dafür Indizien? Unser Song beginnt dann richtig laut nach diesem ganz leisen, verlöschenden Ende von „Hello Earth“. Es beginnt mit „The light / Begin to bleed / Begin to breathe / Begin to speak“ [2]. Fasst man dies mit dem Schlusstext von „Hello Earth“ zusammen, dann kann dies so gelesen werden, dass das Licht in der Tiefe erreicht wurde und dass dieses Licht wie eine überirdische Erscheinung zu sprechen beginnt. Ist das eine Engelserscheinung am Tor zum Himmel? Und dann wird die Protagonistin laut dem Text wiedergeboren: „I am falling / […] Being born again / Into the sweet morning fog“ [2]. Wer in die Tiefe hinabsinkt und dort ein sich auftuendes Licht sieht, der ertrinkt. Es gibt hier im Text nichts, das etwas anderes aussagt. Und woher fällt sie? Auf den rettenden Strand kann sie ja aus dem Meer nicht gefallen sein. Hat sie eine überirdische Macht aufgenommen und setzt sie nun in einem himmlischen Gefilde ab?

Schauen wir nun zusätzlich auf die verwendeten Symbole. Die „Morgenröte“ ist ein Symbol für Hoffnung, Neubeginn und reichhaltige Chancen zur Erfüllung der eigenen Persönlichkeit [4]. Das passt zu Wiedergeburt jeder Art, also sowohl zum Übergang in den Himmel als auch zu einer Rettung. Das zweite Symbol ist für mich verräterischer. Fragt sich eigentlich niemand, warum im Titel dieses Songs ausgerechnet der Nebel vorkommt? Warum kommt im Titel nichts mit „Rettung“ vor? Der Nebel bildete „in vielen Mythologien einen Schleier über den Übergang zum Jenseits“ [5]. Auch dies spricht für mich eher für die Himmelsübergangs-Theorie. Schauen wir jetzt einmal genauer auf die musikalische Gestaltung, da lassen sich weitere Indizien finden. „The Morning Fog“ ist in einem flotten 4/4-Takt gehalten, es gibt nur Dur-Akkorde , die Tonart ist ein eindeutiges E-Dur [2]. Nach viel cis-Moll in „Hello Earth“ ist dies eine Art „Erlösung“ in der Dur-Parallele E-Dur [2]. E-Dur ist aber eigentlich nur ein „aufgehelltes“ cis-Moll, das ist kein grundsätzlicher Wandel. Es ist nur eine Stimmungsnuance. Bei einer Rettung würde ich eine ganz andere Tonart erwarten, um dies klar und deutlich abzugrenzen. Aber das fehlt, es gibt nur mehr Licht.
Die Songstruktur ist einfach, es gibt zwei Takte zu Beginn, dann ein sich beständig wiederholendes Akkordschema [2]. Es ist eine konstante Abfolge der Akkorde E-Dur – A-Dur – H-Dur – A-Dur. Reines E-Dur ist das, Tonika – Subdominante – Dominante – Subdominante [2]. Volkmar Kramarz nennt diese Akkordfolge die „Dur-Formel“ [8], es ist eine Vereinfachung des Blues-Schemas [8]. „Die Dur-Formel lässt sich gut einsetzen bei Songs, die betont kompakt und übersichtlich sind, die zum Mitsingen und Mitmachen einladen, die eine eingängige Hookline haben oder die Spaß und Stimmung bringen sollen“ [8]. Es ist eine Akkordfolge, die Leben hereinbringt: „Sehr gut geeignet sind Songs mit diesem Muster daher übrigens als Zugaben oder als Songs, die mal wieder richtig Schwung in den Laden bringen sollen.“ [8] Das entspricht genau den Intentionen von Kate Bush: „And it was also meant to be one of those kind of „thank you and goodnight“ songs. You know, the little finale where everyone does a little dance and then the bow and then they leave the stage“ [6]. Rettung oder Himmelsübergang, das passt zu beiden Deutungen.
Interessanter ist es mit den beiden Takten zu Beginn, vor dieser wiederkehrenden Akkordfolge. Im ersten Takt haben wir den H-Dur-Akkord, dazu die Melodietöne Fis – H (abwärts) [2]. Im zweiten Takt haben wir den A-Dur-Akkord, dazu die Melodietöne E und H (abwärts) [2]. Es ist sehr ungewöhnlich, dass ein Song nicht mit dem Kernakkord der Haupttonart, also dem E-Dur-Akkord, beginnt, der taucht erst im dritten Takt auf. Der zweite Takt ist in E-Dur (H ist die Dominante, A die Subdominante), aber der erste Takt kann als reines H-Dur (Fis ist die Dominante) interpretiert werden. Der Schlusstakt des Songs ist identisch mit dem Anfangstakt (reines H-Dur) [2], die Akkordfolge bricht auf H-Dur ab. Es fehlt ein Takt mit dem E-Dur-Akkord, um „The Morning Fog“ richtig in der Tonart abzuschließen. Das ist sehr ungewöhnlich, es ist ein offenes Ende. Anfang und Ende sind also lesbar so, als ob sie in einer anderen Tonart geschrieben worden wären, einer Tonart, die dazu noch ständig in der durchlaufenden Akkordfolge präsent ist. Schauen wir auf die Tonartenbedeutung gemäß Beckh [3], so passt E-Dur perfekt zum Song. E-Dur ist „Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit, Liebeswärme“. Es hat aber auch „[…] die Helligkeit einer ganz anderen Welt, einer Welt der Träume, des Dichterischen, der höheren Bilderschau, in der wir der gewöhnlichen Tageswelt gänzlich entrückt sind“ [3]. Das ist für beide Deutungen offen.
Bei H-Dur ist es aber spannender. Diese Tonart ist „nicht mehr ganz im Irdischen, enthält einen verklärten Nachglanz dieses Irdischen und damit zugleich die Vorahnung des Hinübergehens“ [3]. Sie ist „ein Überirdisches oder nicht mehr im gewöhnlichen Sinne Nur-Irdisches, ein Höheres, das den Jammer des Irdischen wiederum verklärt und erlöst“ [3]. Kate Bush ist eine Meisterin der Tonarten, Beckh hat zu H-Dur eine ganz klare Meinung: „Und vollends von H-Dur wissen alle wahren, am Tonartenverständnis teilhabenden Tondichter, daß man diese ganz außerordentliche, so hoch über dem Irdischen liegende Tonart eigentlich nur ganz selten, dann aber auch so, daß sie etwas ganz bedeutsames ausdrückt, verwendet“ [3]. Schaut man auf das (subtil versteckte) Gewicht, dass Kate Bush der Tonart H-Dur hier verleiht und schaut man auf diese Tonarten-Bedeutung, dann neigt sich für mich die Waagschale doch der Himmelsübergangs-Theorie zu. Aber das ist meine Interpretation.
Ich habe das Gefühl, dass Kate Bush den letzten Track offen lassen wollte. Es gibt keine wirkliche Bestätigung, dass die auf See gestrandete Frau gerettet wurde. Es gibt auch keinen direkten Hinweis darauf, dass sie gestorben ist oder einfach von allem geträumt hat. Es lassen sich im Song Hinweise finden, die für den Tod und eine Auferstehung im Himmel sprechen – aber eindeutig ist es nicht. Kate Bush sagte im Interview von 1992 [6], dass es eine Rettung gibt, aber ich glaube, das war eher, um eine Antwort zu geben und den Menschen ein Gefühl der Aufmunterung zu geben. 
Das ist das unglaublich Faszinierende an „The Ninth Wave“ und damit auch an „The Morning Fog“: Es gibt keine Wahrheit oder klare Antwort. Wie bei einigen großartigen Filmen bleibt ein Hauch von Mysterium. Man denkt, man hat alles verstanden, aber sicher sein kann man sich nicht. Das ist das Großartige an der Musik von Kate Bush: sie ist ein Mysterium. Und hier, bei „The Morning Fog“, da sehen wir einen Ozean voller Geheimnis, voller Doppeldeutigkeit, ein wahres, nicht entschlüsselbares Mysterium. Ich liebe Kate Bush dafür, dass sie uns so etwas zu Füßen legt. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush – Under the Ivy. Bosworth Music GmbH. 2013.
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.120ff (The Morning Fog) und S.95ff (Hello Earth)
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.263ff (E-Dur) und S.171ff (H-Dur)
[4] Günther Harnisch: Herders großes Traumlexikon. Erftstadt 2007. Verlag HOHE Gmbh. S.233
[5] Leonard Reiter: Symbole in Märchen, Mythen und Therapie. Thüngersheim 2010. Vierte, erweiterte Auflage. Verlag Leonard Reiter. S.271
[6] Richard Skinner: Classic Albums interview: Hounds Of Love. Radio 1 (UK), 26. 01.1992
[7] „Hounds Of Love Songs“. Kate Bush Club, Issue 18. 1985
[8] Volkmar Kramarz: Die Popformeln. Die Harmoniemodelle der Hitproduzenten. Bonn 2006. Voggenreiter Verlag. S.117
[9]  https://www.musicmusingsandsuch.com/musicmusingsandsuch/2022/8/27/feature-kate-bushs-hounds-of-love-at-thirty-seven-the-ninth-wave-the-rescue (gelesen 15.01.2023)

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