Das Song-ABC: Experiment IV

„Experiment IV“ ist ein Song einer Art, der bei Kate Bush ab und zu vorkommt. Eine politische Botschaft, meist pessimistisch, wird in einen eingängigen Song verpackt. Er setzt damit eine Reihe fort, die mit „Breathing“ und „Army Dreamers“ begann und die mit „Heads we’re dancing“ fortgeführt wurde. Der Song ist das einzige neu komponierte Stück für das Best-of-Album „The whole story“. Er wurde als Single veröffentlicht und erreichte in Großbritannien Platz 23 [1]. Das Lied erzählt die Geschichte eines geheimen militärischen Experiments, des Experiments IV. Es soll ein Sound kreiert werden, der schrecklich genug ist, um Menschen zu töten. Das Ende der Geschichte ist unklar, aber das Experiment geht gründlich schief. Im Musikvideo wird fast jede Person, die an dem Projekt arbeitet, durch den schrecklichen Klang getötet.
Die erste Strophe (Texte aus [2]) beginnt mit „We were working secretly for the military / Our experiment in sound was nearly ready to begin“. Diese Eröffnungszeilen führen unmittelbar in die Geschichte ein. In den nächsten Zeilen kündigt sich dann schon das ganze Verhängnis an: „We only know in theory what we are doing / Music made for pleasure, music made to thrill / It was music we were making here until…“ Vor diesem Experiment wurde Musik nur zum Vergnügen verwendet, niemand hat sie als Waffe benutzt. Dieser Sound aber wird alles verändern. Den Wissenschaftlern, Kate Bush als Protagonistin des Songs ist offenbar eine davon, wird befohlen, ein Instrument des Todes zu schaffen. „They told us all they wanted / Was a sound that could kill someone from a distance.“ Aber das verhängnisvolle Experiment läuft aus dem Ruder: „So we go ahead and the meters are over in the red / It’s a mistake in the making“. Die für das Experiment Verantwortlichen haben sich ihrer Verantwortung entzogen und das Versuchsgelände und die Menschen dort sich selbst überlassen. „We won’t be there to be blamed / We won’t be there to snitch / I just pray that someone there can hit the switch.“ Nur ganz verschämt und beschönigend wird im Outro mitgeteilt, dass man um das Gelände Warnhinweise aufgestellt hat: „And the public are warned to stay off.“ Verantwortung sieht anders aus.
Kate Bush hatte die Idee gereizt, etwas so Positives wie Musik ins Negative, Tödliche zu verkehren. „I consider music a really positive force, it’s something that is there to help people, to make them happy, to make them think. […] And the thought of people using sound in such a negative way […] it’s so obscene. The irony of using something that’s so beautiful, in a way, to actually kill people rather than help them, I find fascinating.“ [5]
Das übergeordnete Thema ist, dass der natürliche Forscherdrang des Menschen durch andere Menschen missbraucht werden kann. „[…] often [scientists are] trying to create something that they consider positive, productive and very much something that would help mankind, but so often along the way those good intentions end up being used, particularly by other people, for completely the opposite reasons. Particularly experiments that end up being used by the military, things like the atom bomb.“ [5] Kate Bush blickt jetzt in diesem Song aber nicht auf eher ferne Wissenschaften, nicht auf atomare Versuche, sie richtet den Blick auf sich, auf ihre Passion, auf die Musik. Könnte man auch das ins Negative verkehren? Das ist der eigentliche Inhalt: Ist meine Berufung korrumpierbar? Ist meine Musik für Böses nutzbar? Das ist keine fern liegende Frage, Musik wurde später u.a. in Guantanamo als Folterinstrument verwendet [13]. Insofern hat Kate Bush hier eine realistische Sicht auf die Dinge.
„Experiment IV“ ist sehr eingängig , durchgehend wird ein 4/4-Takt durchgehalten. Die Tonart ist ein b-Moll [2]. Wie immer setzt Kate Bush die Tonart punktgenau ein. Nach Beckh [3] ist b-Moll die Todestonart, sie ist starkfinster, sie ist „todverwandt“. Totenstimmung und Todeskampf wird durch sie verkörpert. In b-Moll fasst „die harte Faust des Todes die Menschenseele“ an. Es ist die „Tonart des Sterbens, des harten Todeskampfes, die Tonart, in der wir vor allem die Bitternis des Todesstachels empfinden.“ Genau darum geht es ja: um die vernichtende, zerstörerische, tödliche Macht, die auch der Musik innewohnt.
Eine Interpretation des Songs wäre ohne das Video dazu [4] unvollständig. Kate Bush hatte offenbar viel Zeit, sich mit der Konzeption zu befassen und übernahm auch die Regie. Namhafte Schauspieler wie Dawn French, Hugh Laurie („Dr. House“), Peter Vaughan (Maester Aemon in „Game of Thrones“) und Richard Vernon standen ihr zur Verfügung. Das Video war sehr erfolgreich, es wurde für die Grammy Awards 1988 in der Kategorie „Best Concept Music Video“ nominiert. Bei „Top of the Pops“ wurde es dagegen nicht gesendet, da es als zu gewalttätig angesehen wurde [6]. Für mich ist es eines der besten Videos zu Songs von Kate Bush. Kate Bush reicherte den kleinen Film mit liebevollen Details an, die weit über den Text hinausgehen und die zur Deutung des Songs beitragen. Sie war begeistert davon, nicht mal selbst im Mittelpunkt zu stehen und einfach die Geschichte zu erzählen. „I was excited at the opportunity of directing the video and not having to appear in it other than in a minor role, especially as this song told a story that could be challenging to tell visually.“ [7]
Für die Dreharbeiten wurde ein Ort gefunden, der mit seiner verwunschenen Atmosphäre viel zur Wirkung des Videos beitrug. „I chose to film it in a very handsome old military hospital that was derelict at the time. It was a huge, labyrinthine hospital with incredibly long corridors, which was one reason for choosing it. Florence Nightingale had been involved in the design of the hospital.“ [7] Der Aufwand war enorm, aber alle hatten offenbar viel Spaß „The video was an intense project and not a comfortable shoot, as you can imagine – a giant of a building, damp and full of shadows with no lighting or heating but it was like a dream to work with such a talented crew and cast […].“ [7]

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Zu Beginn des Videos betritt ein Wissenschaftler (Richard Vernon) das Versuchsgelände durch einen getarnten Eingang in einem Geschäft für Instrumente und Musik, „Music for pleasure“. Der gelangweilte Mann hinter dem Verkaufstresen zählt offenbar frisch eingetroffene Exemplare der Single zu „Experiment IV“. Der Laden steht voll mit Musikinstrumenten, die schon eine Rolle in Songs von Kate Bush gespielt haben. Zu sehen sind z.B. Dijeridu, Strumento da Porco, Balalaika, Mandoline, Posaune, ein Kontrabass und eine keltische Harfe [11]. Offenbar ist dieses Geschäft ein Sinnbild für Kate Bush und ihre Musik. Der Professor wird von zwei Wissenschaftlern in Empfang genommen (Dawn French, Hugh Laurie). Offenbar steht das Experiment kurz vor dem Abschluss. Sie betreten einen Kommandoraum, der wie ein Tonstudio aussieht (es geht ja auch um Musik). Hinter einer Glasscheibe sieht man schemenhaft einen für den Versuch vorbereiteten Probanden. Der Professor heißt Jerry Coe, das ist wohl ein Wortspiel mit „Jericho“, der Stadt, deren Mauern beim Klang von Posaunen einstürzten. Er erinnert sich daran, wie er vom Militär (als General: Peter Vaughan) zu diesem Experiment IV gezwungen wurde. Er erinnert sich an die Vorbereitungen für den heutigen Tag.
Hier ist der Punkt, um auf den Titel des Songs einzugehen und eine Vermutung zu äußern. „Experiment IV“, dieses düstere Krankenhaus, diese Experimente mit Menschen: es erinnert an die sogenannte „Aktion T4“ der Nazizeit. Es ist eine nach 1945 gebräuchlich gewordene Bezeichnung für die systematische Ermordung von mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen in Deutschland in der Nazizeit unter Leitung der Zentraldienststelle T4. Sie waren Teil der Morde an Kranken, denen bis 1945 über 200.000 Menschen zum Opfer fielen.“ [8] Leider finde ich von Kate Bush keine Äußerungen zum Titel des Songs, es muss also bei dieser Vermutung bleiben. Der Professor erinnert sich an den Beginn der Experimente. Sie nahmen die Schreie von gebärenden Müttern und von seelisch-geistig Kranken (Paddy Bush im Video) auf, das verweist wieder auf die Aktion T4. In diesem Rückblick zeigt immerhin die Wissenschaftlerin so etwas wie Mitgefühl, wie Gewissensbisse.
Heute ist im Video der große Tag. Sie testen das Ergebnis an einem gefesselten Gefangenen. Die Gewissensbisse der Wissenschaftlerin sind anscheinend geschwunden. Diese Szene erinnert an den Film „Uhrwerk Orange“, auch dort wird ein gefesselter Gefangener durch Musik konditioniert. Die geliebte Musik verwandelt sich in das Grauen. Der Gefangene wird von Kate Bushs damaligen Freund und langjährigem musikalischen Mitstreiter Del Palmer gespielt. Will Kate Bush andeuten, dass ihre Musik und deren Produktion ihre Umgebung in den Wahnsinn treiben kann?

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Zur Bridge des Songs wird der Schalter umgelegt und das Experiment beginnt. „It could feel like falling in love“ – ein geisterhaftes Wesen manifestiert sich, umschwimmt wie eine Art Wasserwesen den Probanden. „It could feel so bad / But it could feel so good / It could sing you to sleep“ – hier zeigt es sich als wunderschöne Frau in weiß mit langen blonden Haaren, von Kate Bush  gespielt – eine Meerjungfrau vielleicht. „But that dream is your enemy“ – in der Musik kommen schroffe Streichersequenzen dazu, die an die Mordszene aus Psycho erinnern. Der Geist verwandelt sich in ein Monster. Vielleicht ist das Wesen eine Banshee. Die Sirenen der griechischen Mythologie werden oft als Meerjungfrauen dargestellt. Sirenen locken durch ihren betörenden Gesang vorbeifahrende Schiffer an, um sie zu töten [10]. Eine Banshee ist im Volksglauben Irlands (die Mutter von Kate Bush stammt aus Irland) ein weiblicher Geist aus der Anderswelt, dessen Erscheinung einen bevorstehenden Tod ankündigt. „Sie wird meist als totenbleiche und weißgekleidete Frau mit langem weißlichen oder schwarzen Haar dargestellt. Ihre Augen sind oft glutrot vom ständigen Weinen. In den meisten Beschreibungen ist sie eine alte Frau, seltener jung und schön.“ [9] Zu einer instrumentalen Passage tötet das Wesen die Wissenschaftlerin und den Professor, der zweite Wissenschaftler (Hugh Laurie) kann dem Kontrollraum entkommen und versucht, Hilfe zu holen. Hier ertönt eine wunderschöne Melodie auf der Violine, von dem bekannten Virtuosen Nigel Kennedy gespielt. Musik ist eigentlich schön, auch wenn sie tödlich ist. Dass die Musik der Violine mit Tod und Wahnsinn verknüpft ist, ist bei Kate Bush nicht neu. „Violin“ ist ebenfalls ein Song über die dämonische Macht der Musik, insbesondere der Violine. Das Wesen bricht nun aus und tötet in diesem Krankenhaus alle, die ihm begegnen. Auch Hugh Laurie muss dran glauben, er kann sein Telefonat (Bitte um Hilfe oder Warnung?) nicht mehr beenden. Offenbar hat er mit dem General telefoniert, denn der legt im nächsten Bild den Hörer auf. Er scheint sehr zufrieden mit diesem aus seiner Sicht erfolgreichen Experiment. Dass Menschen sterben mussten, das ist nebensächlich. Eine weibliche Adjutanz bringt dem General Tee. Es ist Kate Bush. Für einen kurzen Moment wird ihr Gesicht von der Fratze des Monsters überlagert.
Das Video endet damit, dass die Umgebung des „Musikgeschäfts“ abgesperrt und mit Verbotsschildern gesichert ist. Vor dem Eingang von „Music for pleasure“ scheinen Leichen in weißen Kitteln zu liegen. Hier erinnert mich dieser Schriftzug über dem Eingang zu dem Todesgelände an das überaus zynische „Arbeit macht frei“ über den Eingängen der nationalsozialistischen Konzentrationslager [12]. Am Ende des Songs ist ein Hubschrauber zu hören. Kate Bush entkommt (als Anhalterin?) und lädt uns ein, ihr kleines Geheimnis zu bewahren. Aber ihr Augenzwinkern am Ende ist wahrscheinlich genauso tödlich wie der Kuss der Meerjungfrau. Der Tod ist entkommen, der Geist ist aus der Flasche, das Wissen über die Möglichkeiten ist in der Welt.
„Experiment IV“ ist ein tiefgründiger Song über den Drang nach Wissen. Es ist ein Song über die Korrumpierbarkeit von eigentlich schönen Dingen. Das sind Themen, die uns alle angehen und die uns alle betreffen. Kate Bush beweist, dass diese Botschaft auch gut mit Hilfe eines eingängigen Popsongs transportiert werden kann. © Achim/aHAJ

[1] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Experiment_IV (gelesen 21.04.2021)
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.84f
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.232-235
[4] https://m.youtube.com/watch?v=NTUcoR8_pyE&vidve=5727&autoplay=1 (gesehen 21.04.2021)
[5] „The Story so far“, Interview mit Laurie Brown für den kanadischen Fernsehsender Much Music, gesendet 10.06.1987
[6] https://www.katebushencyclopedia.com/experiment-iv (gelesen 12.04.2021)
[7] https://www.katebush.com/news/experiment-iv-other-sides (gelesen 12.04.2021)
[8] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Aktion_T4 (gelesen 14.04.2021)
[9] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Banshee (gelesen 14.04.2021)
[10] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Sirene_(Mythologie) (gelesen 14.04.2021)
[11] https://songmeanings.com/songs/view/95373/ (gelesen 14.04.2021)
[12] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Arbeit_macht_frei (gelesen 24.04.2021)
[13] z.B. https://www.deutschlandfunk.de/die-dunkle-seite-der-musik.1148.de.html?dram:article_id=241338 (gelesen 24.04.2021)

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