Der schwedische Schriftsteller und Philosoph Lars Gustafsson hat 1982 das Gedicht „Die Stille der Welt vor Bach“ in einem gleichnamigen Buch veröffentlicht. „Darin setzt Gustafsson Bach ein, wie ich finde, unerhört beeindruckendes Denkmal; völlig irrational, aber doch und vielleicht gerade deshalb so stark“, findet Eberhard Gill, dem das Gedicht kürzlich quasi in die Hand gefallen ist. Und es hat ihn so beeindruckt, dass er es als Vorlage genutzt hat, eine Hymne auf Kate zu schreiben. Man muss ja nur „ac“ durch „us“ ersetzen, meint er scherzhaft. Es ist natürlich weit mehr.
Zunächst einmal: Wie kamst Du auf die Idee, ein Gedicht zu schreiben, das sich eine Welt vorstellt, in der es noch keine Kate Bush-Lieder gab? Das ist doch eine merkwürdige Vorstellung, denn ihre Lieder gibt es doch!
Eberhard: Ja, da ist tatsächlich eine ungewöhnliche Vorstellung. Die Idee hatte ich, als ich den Titel des Gedichts „Die Stille der Welt vor Bach“ von Lars Gustafsson hörte. Ich kannte den Inhalt des Gedichts noch gar nicht, aber allein der Titel hat mich schon umgehauen. Eine unerhörte Vorstellung, sich zu denken, dass die Welt vor Bach still gewesen sein soll. Das war sie sicher nicht! Deshalb ist Gustafssons These rational gesehen völlig absurd. Aber um Ratio geht es hier nicht. Es geht ihm vielmehr um Emotionen und um den Versuch, seiner tiefen Verehrung für Bach einen adäquaten Ausdruck zu geben. So irrational seine These ist, so setzt er doch Bach mit diesem Gedicht, vielleicht gerade wegen seiner Irrationalität, ein lyrisches Denkmal, das seine ganz persönliche Verehrung für Bach so gigantisch und absolut macht.
Aber wie bist Du dann auf die Idee gekommen, dies auf Kate Bush anzuwenden? Zwischen beiden liegen doch Welten.
Eberhard: Das war eigentlich ganz einfach und naheliegend. Denn ich bin seit drei Jahren ein glühender Verehrer des Werkes von Kate Bush. Was liegt da näher als mich an einer Adaption des Gustafssonschen Gedichts zu versuchen? Ich muss doch bloß „ac“ durch „us“ vertauschen, oder?
War es dann tatsächlich so einfach?
Eberhard: Nein, das war es überhaupt nicht. Die größte Schwierigkeit war, dass ich den Eindruck hatte, es ist mir selbst nicht glaubhaft, dass es vor Kate Bush noch eine Stille gegeben haben könnte. Vielleicht kann man das noch zu Bachs Zeiten sagen, aber nach allem, was uns die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gebracht hat mit seinen zwei Weltkriegen und dem fürchterlichen Unrecht, das geschehen ist, kann ich nicht mehr glaubhaft von Stille reden. Deshalb habe ich die Stille durch das Warten ersetzt. Und beide Begriffe haben viel miteinander zu tun. Und Warten ist ja etwas, was die Kate Bush Fans über die letzten vierzig Jahre lernen mussten: 12 Jahre zwischen „The red shoes“ und „Aerial“ und 35 Jahre zwischen ihren beiden Konzerten. Darin sind wir als Fans geübt und sehr geduldig, wenn es uns auch nicht leicht fällt. Und ich fand es reizvoll, dieses Warten vorzuverlegen: auf Kates Geburt und schließlich ihr erstes Album. Ich gebe zu, das hat fast etwas Messianisches, aber irgendeinen Ausdruck muss die Verehrung doch finden. Außerdem sind wir ja jetzt in der Adventszeit und Advent heißt ja nichts anderes als Warten auf die Ankunft, das Erscheinen. Deshalb passt das Gedicht für mich auch in diese Jahreszeit.
Das hat wirklich etwas Messianisches. Beim Thema Stille fällt mir natürlich sofort die Textzeile „the world is so loud“ von ihrem jüngsten Album ein, also das Beklagen des Stimmengewirrs, der Nachrichtenflut und des Umstandes, dass man sich kaum noch auf Wesentliches besinnen kann – wie etwa auf eine simple Schneeflocke, die vom Himmel fällt. Wir warten sehnsüchtig auf die Zeit nach der Stille, Kate beschwört sie. Wie passt das für Dich zusammen?
Eberhard: Für mich ist das kein Gegensatz. Stille erfahren, heißt nicht, dass man sich wünscht taub zu sein. Du hast in Deiner Frage schon das entscheidende Stichwort gegeben, wenn Du vom Wesentlichen sprichst. Ich möchte das Unwichtige vom Wichtigen trennen können und leider werde ich, und sicher viele andere auch, viel zu sehr von Unwichtigem überflutet. Das geht weiter als allein die akustische Reizflut. Genauso wie die Stille auch mehr meint als nur die Lautlosigkeit. Stille hängt für mich mit Konzentration und Ruhe zusammen. Das Wesentliche mag für Kate sein, eine Schneeflocke zu beobachten und ihr Schmelzen in ihrer Hand zu spüren. Für mich hat es etwas Wesentliches, Kates Musik zu hören. Und damit meine ich nicht nur ihre vergangenen Alben, sondern ich möchte hören, wo sie gerade als Künstlerin steht: intellektuell, emotional, musikalisch. Deshalb hat die Stille, ihr Schweigen, wenn Du so willst, etwas, von dem ich hoffe, dass es bald mit der Ankunft von etwas Neuem zu Ende geht.
Apropos Neu: Ist es das erste Mal, dass Du mit dem schwedischen Schriftsteller und Lyriker in Berührung gekommen bist?
Eberhard: Nein. Ich kenne seinen Roman „Der Tod eines Bienenzüchters“ seit seinem Erscheinen in 1978. Da ging ich noch zur Schule. In dem Roman gibt es eine wunderbare kleine Science-Fiktion Geschichte „Als Gott erwachte“, die ebenso absurd ist wie „Die Stille der Welt vor Bach“. Die hat mich sehr beeindruckt und ich fand es mutig, so etwas Unvernünftiges zu schreiben, das man eigentlich gar nicht bei Tageslicht vorzeigen darf. Umso mehr gespannt war ich als 1984, da studierte ich bereits in Tübingen, Lars Gustafsson zu einer Podiumsdiskussion im Audimax eingeladen war und jeder Teilnehmer etwas vorlas. Mir hat es dann beinahe die Sprache verschlagen, als ich hörte, dass er begann, unter breitem Schmunzeln der Zuhörer, mein Lieblingsstück, die kleine Science-Fiktion Geschichte, vorzulesen. Ich erinnere mich noch an seinen schwedischen Akzent. Ein Glücksmoment. Ich will keine künstlichen Brücken schlagen zwischen Lars Gustafsson und Kate Bush, aber von Gustafsson stammt der Spruch „Ich bin, kurz gesagt, eine fast uninteressante Person“. Kommt Dir das nicht bekannt vor?
Das erinnert tastsächlich daran wie Kate ihr Werk von ihrer Person trennt, zum Beispiel wenn sie sagt: „I don’t feel that what I have to say personally is that interesting.“ Noch eine Schlussfrage: Wie muss ich das „…wo der Ruf der Sirene Jahrtausende lang verstummt war“ in Deinem Gedicht verstehen?
Eberhard: Sirenen sind Teil der griechischen Mythologie. Es sind weibliche Fabelwesen, die durch ihren betörenden Gesang die vorbeifahrenden Schiffer anlocken, um sie zu töten. Odysseus hat auf seiner Irrfahrt seine Kameraden gebeten, ihn an den Segelmast zu binden und sie aufgefordert ihre Ohren mit Wachs zu verstopfen, um nicht durch den Gesang der Sirenen, wie viele Schiffe vor ihnen, Schiffbruch zu erleiden. Kate hat für mich etwas von einer Sirene: einen unbeschreiblich betörenden Gesang, der für mich persönlich als Zuhörer immer auch mit Gefahr verbunden ist. Und ich habe den Eindruck, dass sie die erste Sirene ist seit einer langen, langen Zeit. Keine hat seit der Zeit der alten Griechen so betörend gesungen. Da hast Du wieder das Unvernünftige von Gustafsson. Aber für mich ist es wahr. Und was die Sirene und Kate betrifft, habe ich eine spannende Entdeckung gemacht. Ich hatte am Schluss meines Beitrags für Deinen Blog im Mai 2017 geschrieben „…Mir ergeht es genauso wie Odysseus, wenn ich Kate Bush höre – bindet mich fest und lasst mich Qualen erleiden. Wenig, was schöner sein kann als das.“ Als ich dann dieses Jahr den Lyrics-Band von Kate „How to be invisible“ in Händen hielt, habe ich kurz den Atem angehalten: denn da gibt es im Text zu „Hounds of Love“ eine einzige Zeile, die sie im Lied nicht singt, die sie aber jetzt dem Liedtext hinzugefügt hat, und zwar „tie me to the mast“. Also, wer weiß, vielleicht liest Kate ab und zu Deinen Blog. Ist doch eine schöne Vorstellung, oder?
Gerne hätte ich zum Vergleich auch das Gedicht von Lars Gustafsson hier veröffentlicht; leider habe ich dafür keine Erlaubnis vom Verlag erhalten. Es ist im Netz aber mühelos zu finden.
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