Bis in die letzte Stuhlreihe ist der kleine Saal im Forum Schlossplatz besetzt. Als ein „Ort der Reflexion und Debatte“ stellt sich die seit 1994 im schweizerischen Aarau bestehende Einrichtung dar. Das Publikum soll hier “zur Auseinandersetzung mit kulturellen und gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart“ angeregt werden. Dafür haben die Macher aber auch wirklich eine schöne Stätte gefunden: eine alte Villa, die hoch über der Aare thront, am Eingang zur Altstadt der Aargau-Metropole mit ihren trutzigen Häusern. Was hier gleich passieren wird, darauf weisen in diesem schönen Saal mit seinen knarrenden Dielenböden und dem Kronleuchter zwei Dinge hin: Vorne, auf einem kleinen Podest, ruht ein länglicher Metallkasten mit Saiten, den man als Experte vielleicht als die Zither Marovany erkennt. Und an der Wand ist eine kleine Karte von Madagaskar festgepinnt.
Von hinten erschallt ein „Good Evening“ und ein Mann mit grauem Wuschelkopf nimmt im Schneidersitz an der Marovany Platz. Im nächsten Moment ist der Raum erfüllt von filigranen Tongirlanden, die nicht nur Weltmusikfreaks bekannt vorkommen. Auf Kates Alben „The Sensual World“ und „The Red Shoes“ kann man solche auch entdecken. Kein Wunder, denn besagter Herr mit dem grauen Wuschel und dem fast zarten Lächeln ist ihr Bruderherz Paddy Bush. Klar, er hat sich schon ein wenig verändert, seit er in der Fernsehfassung von „The Wedding List“ den Bösewicht spielte oder auf den Werbefotos für The Red Shoes“ posierte, doch man erkennt ihn sofort. Was um Himmels willen tut er mitten in der Schweiz? Die Antwort ist denkbar einfach: Er möchte Begeisterung wecken für seine größte Leidenschaft seit Jahrzehnten, die Musik Madagaskars. Zu den Eidgenossen hatte ihn eine gute Freundin, die Ethnologin Eva Keller gelockt. Sie ist auf Madagaskar spezialisiert, hat im Erdgeschoss der Villa eine Ausstellung namens „Teny – Tany – Tantara“ mit einem außergewöhnlichen Konzept kuratiert: Man erschließt sich an etlichen Lausch-Stationen die Rieseninsel ganz über den Hörsinn. Nachdem schon der große Röhrenzither-Virtuose Justin Vali im Rahmen der Ausstellung ein Konzert gegeben hat, passt es wunderbar, dass Justins Kumpel Paddy sich nun auch die Ehre gibt. Sein Vortrag heißt „The Beauty and Complexity of Malagasy Music“, wird immer wieder von Klangbeispielen und Anekdoten durchzogen – und einige davon berühren natürlich auch die Arbeit mit seiner Schwester.
Von Beginn an ist klar: Paddy ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Wenn er seine Biographie anhand der madagassischen Töne entrollt, kann man gar nicht anders, als sich von der Begeisterung anstecken zu lassen. Wenn er spricht, tänzelt er manchmal vor Enthusiasmus, wenn er der Musik zuhört, hat er ein fast hingebungsvolles Lächeln auf den Lippen. Er hat diese charakterstarke, britisch distinguierte Stimme, die jetzt im etwas fortgeschritteneren Alter (der Mann wird demnächst 65) an eine mildere Ausgabe des deutschen Synchronsprechers Christian Brückner erinnert. Auf fast unheimliche Weise wird mir bewusst, an wie vielen Stellen er nicht nur singend und spielend, sondern auch sprechend auf Kates Alben vertreten ist. Das wäre doch mal eine schöne Aufgabe, denke ich mir während des Vortrags: Eine Liste aller Passagen von „Never For Ever“ bis „50 Words For Snow“ erstellen, in denen Paddy Bush einen Sprechereinsatz hat.
Valiha – Bambus kontra Metall
Und schon sind wir mittendrin in der Materie. Paddy zeigt auf die Landkarte: „Madagaskar ist eigentlich so etwas wie die Vereinigten Staaten des Indischen Ozeans. In den letzten 2000 Jahren wurde es von Menschen aus dem gesamten Indischen Ozean besiedelt. Sie sehen sich alle als madagassisch an, nicht aus Afrika, Indonesien oder aus Borneo.“ Übers Meer kam auch der Bambus, der schließlich in riesigen Wäldern an der Ostküste wuchs und aus dem die Röhrenzither Valiha gefertigt wurde. Man schnitt Kerben in die Haut, schälte so die Saiten heraus. Vergleichbare Instrumente gab es zuvor schon bei Ureinwohnern im Regenwald des heutigen Chinas. Es könnte das älteste Instrument der Welt sein. „Tausende von Jahren wurde die Valiha so gespielt, dann kamen die Franzosen auf die Insel, brachten Fahrräder mit, und die Leute kamen auf die Idee, die Saiten aus den Bremskabeln herzustellen.“ Wie silbrig und kristallklar dadurch plötzlich der Sound wurde, demonstriert Paddy an einem Klangbeispiel des Virtuosen Sylvestre Randafison. Die wunderbar fließenden Linien hören sich fast wie eine klassische Konzertharfe an. Doch wie kam er eigentlich selbst zur madagassischen Musik?
Sein Urerlebnis geht tatsächlich bis ins Jahr 1972 zurück. Paddy studierte damals bei der Ethnomusikologin Jean Jenkins, und die brachte eines Tages die Platte „Musiques Malgaches“ mit, die Charles Duvell fürs Label Ocora in den 1960ern aufgenommen worden war. „Ich war neunzehn, und das Stück ‚Ianao Ve De Roso‘ veränderte mein Leben“, sagt Paddy, während wir zwei schnarrende Männerstimmen hören, die sich über einem Riff von Klängen der Lokanga Voatavo-Zither abwechseln. „Für mich hörte sich das wie ein Bob Dylan-Song mit komplizierten Rhythmen an, von dem ich kein Wort verstand. Sehr alt und doch irgendwie zeitgenössisch.“ 1972 war es noch fast unmöglich, Musik aus Madagaskar zu finden, und es dauerte weitere neun Jahre, bis er wieder auf madagassische Töne stieß.
Nackt-Yoga in Glastonbury
„Ich bekam einen Anruf von Michael Eavis, dem Chef des Glastonbury-Festival. Er wollte, dass Kate dort auftritt. Doch wir hatten zwei Jahre zuvor die Tour Of Life beendet, sie war in der Produktion von „The Dreaming“ und es war unmöglich, jetzt wieder etwas auf die Bühne zu bringen. Ich teilte Michael das mit, und er erzählte mir, dass sie gerade dabei waren, fürs 10-jährige Jubiläum in Glastonbury eine neue Bühne zu entwerfen. Ich sagte zu ihm: ‚Michael, warum baust du nicht eine Pyramide?‘ Einige Zeit später rief er mich wieder an und sagte: ‚Paddy, wann kommst du vorbei und schaust dir deine Pyramide an? Und übrigens: Hat Kate ihre Meinung geändert?‘ Nein, hatte sie nicht. Aber ich ging zum Festival, und das war ein großartiges Jahr, denn ich fand dort diese Platte.“ Paddy zeigt ein Cover, auf dem ein Musiker vor einem Metallkasten mit Saiten sitzt. Er, der in den 1970ern Instrumentenbau und -technologie studiert hatte, liebte seltsame Instrumente – allein deshalb musste er die Platte kaufen. Und sofort hören. Doch wie, wenn auf dem ganzen Festivalgelände kein Plattenspieler aufzutreiben war? „Ich traf eine Freundin, die war gerade dabei, Nackt-Yoga zu praktizieren. Sie sagte: ‚Kein Problem, ich zieh mir nur gerade Stiefel an und du klemmst dich hinten auf mein Motorrad. Bei mir zuhause können wir sie hören.‘“
Auf dieser Ocora-LP namens „Airs à Dancer pour Cithare Sur Caisse de Sud Ouest de Madagascar“ waren unter anderem Stücke der Ahnenverehrung namens Tromba zu finden, und sie faszinierte Paddy so, dass er sie Hunderte von Malen hörte. „Was ich bis dahin an Geistermusik gehört hatte, war Voodoo, verrückt, wild, mit Trommeln. Doch das hier war weich, zärtlich, und eine sehr hoch entwickelte Musik.“ Paddy war so im Bann dieser Musik, dass er die Metallbox, die der Musiker Robert Rindy aus dem Fischervolk der Vezo im Südwesten Madagaskars auf dem Cover spielte, nachbauen wollte. Als Maß diente ihm der Fuß des Musikers auf dem Bild. Und so schaffte er es tatsächlich, seine eigene Version der Marovany aus plattgehämmertem Wellblech herzustellen. „Zehn Jahre später habe ich Robert auf einem meiner Trips ausfindig gemacht. Bernhard Koechlin, der ihn in den 1960ern aufgenommen hatte, hatte ihm auch eine Platte geschickt. Aber leider gab es bei Robert weder einen Plattenspieler noch eine Nackt-Yogi, die ihn zu einem bringen konnte. Also spielte ich ihm seine eigene Aufnahme auf einem winzigen Kassettenrekorder vor. Ich werde den Tag nie vergessen, wie er das hörte und mit leuchtenden Augen sagte: ‚Das bin ich!‘“ Paddy blieb ein paar Wochen bei Robert und ging in die Marovany-Lehre. Doch die Madagassen bringen einem die Musik eigentlich nicht bei, sie monieren lediglich, wann man etwas falsch spielt. Für Paddy eine große Herausforderung, trotzdem ließ er sich nicht ermutigen. Und so kam es, dass auch wir bald in den Genuss seines Zitherspiels kamen… © Stefan Franzen
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