Irgendwo in der Tiefe: Das 4. Experiment

exp4

Von Beate Meiswinkel

We won’t be there to be blamed
We won’t be there to snitch
I just pray that someone there
Can hit the switch
(Kate Bush – Experiment IV)

Sehr geehrter Herr Professor …,

dieses Schreiben erreicht Sie auf anonymem Wege, was ich bedauere. Sehr gerne hätte ich Sie persönlich kennengelernt, da ich eine große Bewunderin Ihrer wissenschaft­lichen Arbeit bin. Allerdings muss ich uns beiden dieses Vergnügen versagen. Im Interesse meines Teams habe ich Maßnahmen für unsere Sicherheit zu treffen. Ich bin sicher, Sie wer­den dafür Verständnis aufbringen.

Wie Ihnen meine Mitarbeiterin bei ihrem Treffen zur Kontaktaufnahme am … mitgeteilt hat – für dessen widrige aber ebenfalls notwendige Umstände ich mich hiermit in aller Form entschuldige – haben wir beschlossen, Ihrem Rat zu folgen und mit unserer Angelegenheit an die Öffentlichkeit zu treten. Da wir unter allen Umständen vermeiden müssen, dass die Presse oder die Polizei aus dem Zusammenhang gerissene Informationen über das Vierte Experiment erhält, wenden wir uns voller Hoffnung und Vertrauen an Sie. Sie sind nach mei­ner bedauerlicherweise kürzlich unter so tragischen Umständen verstorbenen Kollegin und Doktormutter Prof. Dr. B. … der renommierteste Experte unseres wissenschaftlichen Fachge­biets. Dank ihres internationalen Ansehens und Einflusses besitzen Sie allein die Möglichkei­ten, alle Ergebnisse und Daten des Vierten Experiments vollständig, korrekt und vor allem im richtigen Zusammenhang zu veröffentlichen. Zu diesem Zweck übergeben wir Ihnen mit die­sem Brief unsere umfangreichen Berichte, Notizen und Dateien. Jegliche Tonaufnahmen mussten allerdings zerstört werden!

Vorab muss ich Ihnen noch einige Hintergründe über das Vierte Experiment mitteilen. Es handelt sich um ein Forschungsprojekt, das wir unter der Bezeichnung „Sirenengesang“ unter strengster Geheimhaltung für das Militär durchgeführt haben. Alles begann mit dem Experimentieren der Wirkweise von Klängen, Lauten und Geräuschen auf die menschliche Psyche und die Physis. Und wir waren fasziniert… fasziniert von der Kraft, die in der Macht des Klanges liegt, in der Musik…

Wir waren uns selbstverständlich dessen bewusst, dass man mit Klängen starken Ein­fluss auf Menschen ausüben kann. Wir experimentierten anfänglich mit reiner Musik. Dann mischten wir sie mit anderen Klängen. Zunächst mit Alltagsgeräusche, Lauten aus der Natur. Später verwendeten wir Extremeres: die Schmerzensschreie von Gebärenden. Geräusche aus Schlachthäusern. Schreckenslaute von Trauma-Patienten… all dies nahmen wir auf und mischten es in unseren Tonstudios zusammen. Die Produkte testeten wir an Probanden… mit schrecklichen Wirkungen, Professor …! Fürchterlichen, entsetzlichen Wirkungen!

Unsere Auftraggeber nahmen unsere Forschungsergebnisse zur Kenntnis, hörten sich unsere Befürchtungen und Warnungen an und enthüllten uns schließlich den eigentlichen Sinn und Zweck unseres Tuns. Ich versichere Ihnen, Professor …, dass jedes einzelne Mit­glied meines Teams zu diesem Zeitpunkt erklärte, die Arbeiten am Vierten Experiment um­gehend niederzulegen. Doch man hatte uns in der Hand, jeden einzelnen von uns. Man machte uns unmissverständlich klar, dass nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch das unserer Angehörigen in unmittelbarer Gefahr sei, wenn wir die weitere Zusammenarbeit verweigerten. Es blieb uns keine Wahl, Professor …! Wir bedauern es, aber es blieb uns ein­fach keine Wahl. Und so forschten wir weiter, fanden jedoch einen Weg, die Forschungsergebnisse so zu manipulieren, dass die Wirkung der entwickelten Waffe – denn das war es, was man uns schließlich zu bauen zwang – in ihrer Schadenswirkung zumindest eingeschränkt wurde. Bis die Dinge schließlich außer Kontrolle gerieten. Niemand weiß ge­nau, wie es dazu kommen konnte… der Geist brach aus. Der Geist aus der Maschine… und er legte seine tödliche Hand auf alle an unserem Institut, die nicht rechtzeitig fliehen konnten. So viele Tote, Professor …! Nur wenige von uns konnten sich retten, und wir brachten jene Unterlagen in Sicherheit, die wir nun in Ihre Hände übergeben. Wir tun dies unter größter Gefahr für unser eigenes Leben, aber manchmal gibt es Dinge, die von größerer Bedeutung sind als die persönliche Sicherheit. Ich wünschte nur, wir hätten dies bereits zu einem frühe­ren Zeitpunkt erkannt. Bevor so viele sterben mussten.

Berichten Sie der Welt von uns und dem Vierten Experiment, Professor. Berichten Sie von dem Wunsch der Regierung und des Militärs nach Klängen, die töten. Nach einer Massen­vernichtungswaffe, basierend auf Musik. Erzählen Sie der Welt von dieser unaussprechlichen und perfiden, unmenschlichen Idee, Menschenmassen mithilfe von Musik auszulöschen, ohne eine einzige Bombe, ohne eine einzige Kugel. Der Beitrag, den mein Team und ich in dieser Sache geleistet haben, ist unverzeihlich. Möge unser Mut, nun mit der Wahrheit an die Öffentlichkeit zu treten und somit die tatsächliche Umsetzung dieser Ungeheuerlich­keit zu verhindern, wenigstens etwas Wiedergutmachung leisten. Dazu bauen wir auf Ihren Mut, auf Ihre Unterstützung.

Hochachtungsvoll,
Ihre
Dr. …, Ph D

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Bitte ausfüllen. Danke. * Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.