Herr Böttcher und das innere Auge

hb3Ich kenne nix, liebe Leser, was mehr hilft, sich an Vergangenes zu erinnern wie Musik. Ganz bestimmt erzähle ich Ihnen da nichts Neues. Ganz unerwartet passiert es meist, dass man einen Song aus vergangenen Tagen hört und plötzlich ist man – vielleicht nur für Sekunden – wieder dort, wo man ihn zum ersten Mal gehört oder mit ihm etwas Besonderes erlebt hat. Obwohl man Jahre lang nicht daran gedacht hat, erscheint plötzlich alles wieder vor dem inneren Auge: die Stimmung des Lichts, der Geruch in der Luft und sogar das Muster des Hemdes, was man zu jenem Zeitpunkt getragen hat.

Wir schreiben das Jahr 1980.
Schüler Herr Böttcher, anfangs ein Musterschüler, wie er im Buche steht – immerhin sechs Jahre lang – ist zum Leidwesen seiner Eltern, zumindest, was die Einrichtung Schule betraf, zum Lümmel auf der letzen Bank mutiert. Die Eltern konnten ja nicht ahnen, dass Schüler Herr Böttcher beschlossen hatte, sich eine gute Zeit zu machen und erst wieder zum Abitur zu lernen. Auch als Schüler Herr Böttcher die 8. Klasse wiederholen musste, wich er nicht von seinem Vorhaben ab, erst wieder ein paar Jahre später mit dem Lernen anzufangen. Beschämt kam die arme Mutter jedes Mal vom Elternsprechtag nach Hause.
Wichtig waren jetzt erst andere Dinge. Zum Beispiel mit einem durchgezackten Laken um den Hals, sich als Batman durch Heimat-Citys Tiefgaragen zu kämpfen. Oder von der Gemeinschaftsdachterrasse des 60-Mietparteinenkomplexes auf die anderen Dächer zu klettern. Schwimm- und Hallenbad waren wichtiger, Mittagsschlaf nach der Schule am allerwichtigsten, Freunde nach dem Mittagsschlaf treffen, und neue Freunde kennenlernen, Hund einer befreundeten Familie stundenlang spazieren führen, zur Großmutter mit dem Rad fahren, um dort die Comics zu lesen, die einem die Eltern verboten hatten, weil man angeblich nachts davon so schlecht träumte, und die die Großmutter als geheime Verbündete nun für den Enkel Herr Böttcher kaufte, mit  der Freundin M.M. Risiko und Monopoly spielen und Galopper (ein Brettspiel, was die beiden selbst erfunden hatten), „Das Leben des Brain“ im Kino, „Die Blechtrommel“ und „Kramer gegen Kramer“, „Den Herrn der Ringe“ lesen und „Die drei Fragezeichen“ und alles von Herrmann Hesse, das bescheidene und doch so aufregende Nachtleben entdecken, sich hier und da unglücklich verlieben … und trotzdem war das Leben ein einziger, lachender Sommertag und die Schule eine nicht enden wollende, große Pause. Unbestritten hatte auch Schüler Herr Böttcher viele Sorgen und Nöte, wie das eben so ist in der Endphase der Kindheit und der Hochphase der Pubertät, ganz besonders in einer sehr beengenden Kleinstadt wie Heimat-City. Aber es hilft schon, wenn man sich durchs Leben lacht, heute wie damals und besonders in der Pubertät. Und es hilft auch, heute wie damals, immer mal wieder Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren zu lesen:
„Aber nein“, sagte die Lehrerin, „8 und 4 ist 12.“
„Nein, meine kleine Alte, das geht zu weit“, sagte Pippi. „Eben erst hast du gesagt, dass 7 und 5 = 12 ist. Ordnung muss sein, selbst in einer Schule. Übrigens, wenn du so eine kindische Freude an solchen Dummheiten hast, warum setzt du dich nicht allein in eine Ecke und rechnest und lässt uns in Ruhe, dass wir Haschen spielen können?“
Aus irgendeiner Ecke drohte immer eine 5 auf dem Zeugnis zu landen: aus der mathematischen oder der physikalischen und nicht selten aus der englischen… Nichts half, Schüler Herrn Böttcher umzustimmen. Nicht die Aussicht, wenn das nächste Zeugnis stimmen würde, einen Hund zu bekommen und auch nicht die harte Maßnahme das Konfirmationsgeld nun für Nachhilfestunden verwenden zu müssen. Auch die Nachhilfe brachte nicht wirklich das gewünschte Ergebnis, weil Schüler Herr Böttcher seinen zwei Jahre älteren Nachhilfelehrer davon überzeugen konnte, dass andere Dinge viel mehr Vergnügen bereiteten, wie zum Beispiel: Wer kann am schnellsten einen Bleistift runterspitzen bis er vollkommen futsch ist. Und mal ehrlich: Wer lässt sich nicht gern das Anspitzen von Bleistiften oder das Erzählen von Witzen bezahlen?
Und so kam es, wie es kommen musste: Schüler Herr Böttcher wurde im Sommer 1980 für fünf Wochen nach Torquay (eine Stadt an der Südküste von England) zum Englischlernen geschickt. Sicherlich eine verzweifelte Maßnahme der Eltern, denn so eine Reise hatte mit Sicherheit ein größeres Loch in die Haushaltskasse gerissen. Schüler Herr Böttcher würde also bei einer Gastfamilie wohnen, vormittags mit anderen deutschen Pubertierenden (ca. 25 an der Zahl, die ebenfalls zum Englischlernen verschickt worden waren) im Unterricht sitzen und nachmittags unter Aufsicht der beiden deutschsprachigen Englischlehrer in Gruppen die Freizeit gestalten.

Am 27. Juni 1980 veröffentlichte Kate Bush die Single „Babooshka“ zirka zwei Wochen später traf Schüler Herr Böttcher in England ein.
An Babooshka ging kein Weg vorbei. Übrigens kannte Schüler Herr Böttcher Musikerin Kate Bush schon. Sein damals bester Freund besaß „The Kick Inside“ und „Lionheart“ und hörte diese rauf und runter. Herr Böttcher konnte nicht sagen, dass ihm die Musik von Kate Bush nicht gefiel, aber gepackt hatte sie ihn zu jenem Zeitpunkt noch nicht. Doch Babooshka kam über Schüler Herrn Böttcher wie Kekse über das Krümelmonster. Er kaufte sich die Single und dann auch die beiden ersten Longplays – „Never for Ever“ kam erst im September heraus – und gelegentlich durfte er sich die Platten auf der Anlage der Gastfamilie anhören.
Freizeitgestaltung der englischlernenden Pubertierenden.
Saturday Night.
Die Jugendlichen wurden mit dem Bus aufs Land oder an den Stadtrand gefahren. In einer Scheune sollten sie bei farbenfrohen Fruchtgetränken und unterhaltsamer Musik auf andere Jugendliche treffen. Mit anderen Worten: Disko in der Scheune. Schummriges, goldbraunes Licht, der Geruch von Heu und Holz und Schüler Herr Böttcher bekleidet mit einer dunkelbraunen Cordhose und einem längsgestreiftem Hemd in Braun- und Grüntönen. Ein Tanzwettbewerb wurde ausgerufen. Die Jugendlichen sollten frei Schnauze oder besser frei Bein nach der Musik tanzen. Es wurden drei Preise versprochen. Und da Schüler Herr Böttcher schon immer gern nach Pop- und Diskomusik tanzte, befand er sich ohnehin auf der Tanzfläche. Ja – und da kamen sie … die ersten Takte von Babooshka …  Bis zu diesem Moment hat Schüler Herr Böttcher selbst gar nicht gewusst, dass es so etwas gibt wie … Ausdruckstanz… Und vermutlich auch nicht, was man alles beim Ausdruckstanzen so anstellen kann mit den Armen und den Beinen und dem Kopf … Und wie ruckartig und auch geschmeidig sich der Körper bewegen konnte. Leider weiß Herr Böttcher nicht mehr, wo der erste Preis – ein Schlüsselanhänger – abgeblieben ist. Damals war er jedenfalls auf der Rückreise von Torquay nach Heimat-City zusammen im Koffer mit den Kate-Bush-Schallplatten. Seitdem ist Herr Böttcher auch niemals wieder in England gewesen, aber gegen den Lockruf von Kate Bush ist selbst der manchmal recht eigenwillige Herr Böttcher machtlos. All we’re ever looking for is another open door. All we ever look for–another womb. All we ever look for–our own tomb. All we ever look for–ooh, la lune. All we ever look for–a little bit of you, too. All we ever look for, but we never do score.

Herr Böttcher fährt nach London. Zu Kate. Und wir begleiten ihn. Oder er uns.
Alle Kolumnen von Herrn Böttcher gibt es hier.

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