„Metaphern für eine erbarmungslose Gesellschaft“

paul-sanker

Foto: Privat

Für die Science Fiction Kurzgeschichten-Sammlung „Die große Streifenlüge“ hat Paul Sanker unter dem Pseudonym Abel Inkun die Geschichte „Geboren am 20. Juli“ beigesteuert. Die spielt in einer Zeit, in der die Menschen ihren Geist digitalisiert haben. Maschinen-Menschen bewachen riesige Anlagen von Computerservern, auf denen die menschlichen Bewusstseinsinhalte gespeichert sind. Hauptprotagonist Benjamin, einer der Maschinen-Menschen, rebelliert. Alle Geschichten in dem Buch wurden durch Lieder von Kate inspiriert. Bei „Geboren am 20. Juli“ war es der Song „Wild Man“. Paul Sanker schreibt dazu: „Inspiriert zu der Story hat mich Kate Bushs Single »Wild man«, eine Art Ode an den Yeti. Der große Alte der schneebedeckten Berge, den die Menschen gleichzeitig fürchten und verehren. Das einsame Ungeheuer, das man jagen und töten will, dem man aber gleichzeitig wie einem Gott huldigt.“ Im Interview spricht Paul Sanker über düstere Zukunftsvisionen, das nötige Besinnen auf neue Ziele – und natürlich die Musik von Kate Bush. Paul Sanker ist Jahrgang 1958, lebt in Köln und arbeitet als Neurochirurg in Aachen.

Du hast in einem Interview mal gesagt, dass Du keine strahlenden Helden magst, die auf einem weißen Pferd dahergeritten kommen, um die Welt zu retten. Dabei liebt doch jeder strahlende Helden. Warum magst Du sie nicht?
Paul Sanker: Weil sie im wahren Leben definitiv nicht existieren! Sicher gibt es Zeitgenossen, die auf einer Werteskala eher zur Kategorie „gut“ und andere in das Töpfchen „böse“ einzuordnen sind. Obwohl sich bereits bei dieser Kategorisierung schwierige Fragen hinsichtlich der Definition von „Gut“ und „Böse“ ergeben. Auf alle Fälle gehören aber zu  jedem Menschen Ecken und Kanten… und auch geheime Abgründe, über die niemand reden möchte – und auch nicht sollte! Ich schätze es sehr, wenn jemand ehrlich und offen im Dialog mit mir ist. Gutmenschen und „political correctness“ sind mir dagegen ein Greuel. Natürlich sehe ich, dass in der heutigen Gesellschaft die Lüge Konjunktur hat, und damit meine ich nicht nur die Politik.

Der Protagonist von  „Geboren am 20. Juli“ strahlt zwar nicht, aber letztlich ist er doch der Held und will mit seinen Mitteln die Welt retten. Ist das kein Widerspruch?
Paul Sanker: Ich sehe Benjamin eher als Revolutionär gegen ein System, das am Ende ist. Die geschilderte Gesellschaft hat keine Chance mehr, sich weiter zu entwickeln. Die Oberschicht besteht aus einer dekadenten Kaste virtueller Bewusstseinsinhalte, die sich vom wahren Leben abgewendet hat. Die Realität, das Körperlich/Kreatürliche, sind ihnen fremd und bedrohlich geworden. Darum muss es vernichtet werden. Benjamin, als Cyborg mit menschlichem Gehirn, ist dagegen ein Mittelding. Er sitzt sozusagen zwischen den Stühlen. Er gehört weder zu den „Essentials“ im virtuellen Netz  noch zu den in den Wäldern lebenden „Pets“. Trotzdem muss er sich entscheiden, zu welcher Fraktion er sich zählt. Mit seiner Entscheidung geht er ein Risiko ein. Wenn am Ende das etablierte System die Oberhand behält, dann ist er kein „Held“ sondern nur ein gefährlicher Terrorist, der die Ordnung gefährdet hat. So ist das nun einmal in unserer Welt: „The winner takes it all…“ Hätte Luzifer mit seiner Revolte gegen Gott Erfolg gehabt, dann würde heute niemand so schlecht über den Teufel reden…

Du hast vor fünf Jahren angefangen vorwiegend Kurzgeschichten zu veröffentlichen. Viele davon im Science Fiction-Genre. Die Zukunft, die Du in dieser Geschichte entwirfst, klingt sehr düster, und ob es ein Happy End gibt, bleibt ebenfalls offen. Wieviel Gegenwart steckt in Deiner Zukunftsvision?
Paul Sanker: Meine Zukunfts-Visionen sind in der Regel düster, also Dystopien. Das mag an meinem Grundcharakter liegen, der eher pessimistisch gefärbt ist. Ich erwarte nicht viel Gutes von der Gesellschaft, freue mich aber umso mehr, wenn sich die Dinge besser entwickeln als befürchtet. Man kann diese Haltung ruhig „zweckpessimistisch“ nennen. Vielleicht trifft das auch für  meine Beurteilung der heutigen Gesellschaft zu. Sie ist in meinen Augen kälter und oberflächlicher geworden als sie es z.B. in den 70er oder 80er Jahren war. Die Menschen hängen zu sehr am Äußeren, anstatt sich mehr auf innere Werte zu konzentrieren. Was zählt ist Jugend und Geld. Immer höher und weiter lautet die Devise, obwohl jeder erkennen kann, dass das Ende der Wachstumsgesellschaft längst gekommen ist. Ein Umdenken und Besinnen auf neue Ziele ist erforderlich. Leider erkennt der Mensch meistens erst, dass sein bisheriger Weg endet, wenn er dicht vor dem Abgrund steht.

Ist es nicht sehr zynisch, dass in der von Dir skizzierten Gesellschaft alle Probleme, die uns heute belasten, überwunden sind, die Zukunft aber dennoch alles andere als Positiv erscheint?
Paul Sanker: Zynismus ist die Waffe derjenigen die versuchen, der trägen Masse Missstände unter die Nase zu reiben, die zum Himmel stinken aber trotzdem ignoriert werden. In Wahrheit wurden durch die Flucht in die Virtualität keine Probleme gelöst. Die Menschheit hat sich nur in einen ewigen Traum geflüchtet. Heutzutage braucht man dazu noch Alkohol oder Drogen. Der Beantwortung seiner ursprünglichen Grundfragen ist der Mensch dadurch keinen Schritt näher gekommen: Wozu lebe ich? Was ist meine Bestimmung? Welche Aufgaben habe ich zu erfüllen? Zynisch dabei ist vor allem die Wahrheit, dass es der Erde, der Natur (und Gott?) völlig schnurzegal ist, ob sich die Menschheit irgendwo im Abseits verkriecht. Das Leben geht weiter – ob mit oder ohne die „Krone der Schöpfung“.

Inspirationsquelle für Dich war in diesem Fall der Song „Wild man“ von Kate Bush. Wie kommt es, dass ein Neurochirurg, der über Cyborgs schreibt, sich von einem Song eines Albums inspirieren lässt, auf dem die Künstlerin in sehr unterschiedlichen Varianten dem Thema Schnee huldigt?
Paul Sanker: Ehrlich gesagt steckt in der Story auch jede Menge Inspiration aus dem Song „Army dreamers“, wo es um einen Jungen geht, der aus einem sinnlosen Krieg  im Sarg nach Hause kommt, bevor er die Chance bekam, sein Leben zu leben. Benjamins Hirn steckt ja im wahrsten Sinne des Wortes als Cyborg in einem Metall-Sarg. Auch er hatte einmal den Wunsch gehabt, ein normales Leben mit Frau und Kindern zu haben. In „Wild Man“ geht es eher um den einsamen Mann, den Außenseiter, den man fürchtet und meidet. Er lebt im Schnee, im schroffen unwirtlichen Gebirge. Man kann dieses Bild durchaus wieder als Metapher für die kalte, erbarmungslose Gesellschaft nehmen. Mit dem „Neurochirurgen“ hat das eigentlich wenig zu tun. Heute weiß ich, dass ich einst dieses Fach gewählt habe, weil ich glaubte, dass das Gehirn der wichtigste Teil des Menschen sei – als Ursprungsort der Seele gewissermaßen. Heute sehe ich das differenzierter. Wahrscheinlich hätte ich mich jetzt eher für die Kinderheilkunde entschieden. Was gibt es wichtigeres und schöneres, als Leib und Seele unserer Kinder zu schützen?

Was bedeutet die Musik von Kate Bush für Dich? Auf eine ähnliche Art wie Du erzählt sie ja auch Geschichten, die manchmal ebenfalls verstörend sein können.
Paul Sanker: Kate Bush gehört für mich zu den vier Song-Interpreten, die am ehesten mein innerstes Wesen berühren. Neben Kate Bush sind das noch David Bowie, Brian Ferry und Leonard Cohen. Ihre Lieder sind nicht immer eingängig und gefällig. Wie gesagt: ich liebe es „ehrlich“ und „wahrhaftig“. Heile Welt und Verdrängung bringen uns nicht weiter. Schaut der Wahrheit ins Auge! Vor allem ein Arzt muss das tun. Er kann seinem Krebs-Patienten nichts vormachen. Das Leben ist nun einmal so… Yin und Yang. Der Fehler vieler Menschen besteht darin, dass sie immer nach den Extremen gieren: superschön, superreich, ewig jung… Darum können sie mit der anderen Seite der Medaille nicht fertig werden: alt werden, arm sein, krank werden. Das wirft viele völlig aus der Bahn! Mein Anspruch ist dagegen, ein Leben in Zufriedenheit zu führen – egal, was kommt. Kate Bushs Lieder sind nicht „weichgespült“ und gefällig. Genauso wenig sind es die Geschichten, die sie erzählt und die Typen, die sie beschreibt.

Würde ein praktizierender Neurochirurg eigentlich an einer Patientin verzweifeln, die ihrem Arzt beichtet, dass sie ein Lied über Sex mit einem Schneemann geschrieben hat?
Paul Sanker: Ich würde eher an einem Patienten verzweifeln, dessen Fantasie nicht ausreicht, sich den Inhalt eines solchen Liedes bildlich vorzustellen.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Bitte ausfüllen. Danke. * Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.