Von Beate Meiswinkel
Warum hassen wir einander, obwohl wir uns lieben? Es mag nach einem heftigen Streit gewesen sein, als Kate Bush sich diese Frage stellte. Ihre Gedanken und Gefühle ließ sie in ihren Song Running Up That Hill (A Deal With God) einfließen. Dabei verlieh sie dem tief empfundenen Wunsch Ausdruck, sich vollkommen in ihren Partner hineinversetzen zu können, Dem Donner in Kates Herzen, der sich im treibenden Rhythmus des Liedes Bahn bricht, vermag sich kaum jemand zu entziehen. Er trägt die ebenso unwiderstehliche wie trügerisch leichte Melodie, zu der man tanzen möchte – nur um festzustellen, dass die eigenen Schritte nicht so leichtfüßig zu folgen vermögen, wie diese Melodie suggeriert.
Das Lied sowie das Video mit den zeitlos schönen Tanzszenen mit Michael Hervieu brachten Kate bereits im Erscheinungsjahr 1985 großen internationalen Erfolg. Im Laufe der Jahre blieb RUTH uns stets in Erinnerung und im Ohr, unter anderem dank zahlreicher Coverversionen. Besonders eindrucksvoll finde ich Placebos minimalistische Variation sowie die zärtliche live Interpretation von Tori Amos. 2012 wurde der Song in die Abschlusszeremonie der Olympischen Spiele in London einbezogen, und die Glücklicheren unter uns durften ihn live bei den Before The Dawn-Konzerten erleben. Allerdings war wohl niemand darauf vorbereitet, was im Sommer 2022 geschehen würde – wahrscheinlich auch Kate selbst nicht: Ende Mai erschien die vierte Staffel der Netflix-Serie Stranger Things. Zur Premiere in New York zeigte sich Schauspielerin Winona Ryder, die die Rolle der Joyce Byers spielt, in einem eleganten schwarzen Hosenanzug. Am Revers trug sie deutlich sichtbar einen großen Kate Bush Button. Von Presse / Social Media darauf angesprochen, antwortete Ryder: „Sie (Kate Bush) hat einen Song, der in die Handlung dieser Staffel einfließt. Ich bin von ihr besessen, seit ich ein kleines Mädchen war. Sie ist eine Heldin von mir.“ Das geschickt platzierte Statement steigerte die Spannung auf das, was uns in den neuen Folgen der Erfolgsserie erwarten würde.
Es ist das Jahr 1986. Ein Mädchen geht einen Schulflur entlang. Maxine (Sadie Sink), kurz Max genannt, wirkt verstört. Sie ist auf dem Weg zu ihrer Beratungslehrerin. Erst kürzlich hat Max einen schweren persönlichen Verlust erlebt. Sie musste mitansehen, wie ein entsetzliches Geschöpf ihren Halbbruder Billy ermordet. Dieses Erlebnis hat tiefe Spuren hinterlassen. Fest hat Max die Kopfhörer ihres Walkmans auf den Ohren. Sie hat sich tief in den Klängen ihres Lieblingsliedes Running Up That Hill vergraben. Max schottet sich ab mit ihrer Musik, begreift sie als Schirm und Schutz – it doesn’t hurt me!
Wie bereits in den vorherigen Staffeln sucht ein seltsames bösartiges Phänomen das amerikanische Städtchen Hawkins heim. Aktuell manifestiert es sich in dem Monster Vecna, das es auf Jugendliche abgesehen hat. Vecna vermag, in die Gedanken seiner Opfer einzudringen und sie in tiefe Trance zu versetzen. Dabei konfrontiert er die Kinder mit traumatischen Erinnerungen und foltert sie mit Schuldgefühlen. Schließlich bricht er sie körperlich und geistig, um sie zu töten. Nach mehreren makabren Todesfällen, denen Max und ihre Freunde nachgehen, erkennt sie, dass das Monster sie als nächstes Opfer auserkoren hat. Während die Freunde nach Möglichkeiten suchen, um sie zu beschützen und dem Monster Einhalt zu gebieten, ergreift ein eigenartiger Fatalismus von Max Besitz. Sie verfasst Abschiedsbriefe. Während sie das Grab ihres Halbbruders besucht, schlägt Vecna zu.
Zum Glück sind die Freunde nicht weit. Nachdem es ihnen nicht gelingt, Max aus der Trance aufzuwecken und sie bereits hoffnungslos in ihrem tödlichen Alptraum gefangen scheint, kommt Dustin (Gaten Matarazzo) auf die rettende Idee: Musik soll dabei helfen, den verirrten Geist zurück in die Wirklichkeit zu locken. Den Walkman und einen Stapel Musikkassetten hat er aus dem Auto herbeiholt. Schließlich finden fliegende Finger die Hounds Of Love-Kassette, stülpen Max die Kopfhörer über: Running Up That Hill erklingt. Kate Bush verfehlt ihre Wirkung nicht: während glückliche Erinnerungen zurück in ihren Geist fluten, erkennt Max ihren Ausweg. Sie kämpft sich frei und zurück in die Wirklichkeit – fürs erste ist sie in Sicherheit. Doch die Gefahr ist nicht gebannt! Im weiteren Verlauf der Geschichte suchen die Freunde einen Weg, Vecna zu besiegen. Für Max bleiben Walkman und Kate Bush weiterhin ihr wirksamster Schutz. RUTH läuft in Endlosschleife, bis Max sich fragt, was wohl geschehen würde, wenn sie ihrer Lieblingsmelodie auf einmal überdrüssig würde.
„Wird es weiter funktionieren?“, fragt sie ihren Freund Lucas (Caleb McLaughlin), „Oder wird Kate Bush ihre magischen Kräfte (…) verlieren?“ – „Kate Bush?“, entgegnet Lucas, „Nie im Leben!“ Er soll Recht behalten, und das über die Handlung der Serie hinaus: dank des Siegeszuges von Stranger Things kehrte Running Up That Hill 37 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung zurück in die internationalen Charts, wo es wochenlang Spitzenplatzierungen erzielte. Der Streamingdienst Spotify verzeichnete Ende September 700 Millionen Streams!
Dass sie etwas vom gekonnten Einsatz von Musik verstehen, haben die Regisseure Matt und Ross Duffer in zahlreichen Szenen von Stranger Things bewiesen. Mit der Wahl von RUTH haben die Zwillingsbrüder sich allerdings selbst übertroffen, wobei sie sich überrascht und erstaunt vom Ausmaß dieses Erfolgs zeigen. Für die kommende Staffel ist allerdings kein weiterer Kate Bush Song eingeplant.
Wir Fans durften uns in diesem Jahr jedenfalls nicht nur über reich illustrierte Beiträge in verschiedenen Musikzeitschriften und über die Veröffentlichung der Single im CD-Format (via Rhino.com) freuen. Kate Bush brach darüber hinaus mit gleich mehreren Meldungen auf ihrer offiziellen Webpräsenz ihr traditionelles Schweigen, um ihrer Freude Ausdruck zu verleihen, sich als Stranger Things Fan zu outen und den Duffer Brothers zu danken. Im Juni gab sie sogar eines ihrer seltenen Interviews in der BBC Radio 4 Sendung Woman’s Hour.
Wer sich an dieser Stelle fragt, ob es sich lohnt, Stranger Things anzuschauen, dem möchte ich unbedingt dazu raten. Die Mystery-Serie besticht nicht nur durch eine vielschichtige Erzählweise, charismatische Charaktere und äußerst effektive Spannungsbögen, sie bietet auch eine nahezu magische Zeitreise zurück in die 1980er Jahre. Kate Bush-Fans können, wenn sie möchten, außerdem immer wieder Reminiszenzen an Kates Film- und Bühnenarbeit entdecken. Zumindest Experiment IV ist offensichtlich.
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