Die Rückkehr betörender Stimmen

Foto: themysteryofthebulgarianvoices.com/www/

Von Stefan Franzen

„Legendäre, aber fast vergessene Chorsängerinnen suchen Popstar vom anderen Ende der Welt für zweiten Frühling“. So könnte, ein bisschen überspitzt, die Anzeige gelautet haben, die zu diesem Treffen führte. Hier: der Frauenchor Le Mystère des Voix Bulgares, der weltweit Menschen zu Tränen rührt und dessen Mysterium bis heute unerklärlich scheint. Dort: die australische Wave-Ikone Lisa Gerrard, die seit 30 Jahren mit ihrer betörenden Stimme ein Publikum von Gothic bis Weltmusik fasziniert. Ungleiches Paar oder Traumhochzeit?
Ich glaube, das größte Mysterium liegt darin, nicht zu verstehen, was sie singen und trotzdem so tief berührt zu sein“, sagt Lisa Gerrard. „Es durchdringt dich von den Haarspitzen bis zu den Zehennägeln und hat mich schon in den Bann gezogen, als ich Mitte zwanzig war. Irgendetwas kristallisierte sich in mir heraus, veränderte mich grundlegend.“ Gerrards Geständnis klingt ehrlich. Die mittlerweile 57-Jährige sitzt in einem Kölner Hotelzimmer neben ihren beiden bulgarischen Kolleginnen, und wenn diese sprechen, nimmt sie sich fast ehrfürchtig zurück, lauscht mit großen Augen. Etwa als die Chorleiterin Dora Hristova einen Versuch unternimmt, aus ihrer Sicht das Mysterium zu beschreiben. Für sie ist das eine Frage des Handwerks. „Die wichtigste Gesangstechnik ist die des open throat. Sie kommt aus dem Kehlkopf, das ist die natürlichste Technik überhaupt, die auch zum Einsatz kommt, wenn du ganz normal sprichst. Die jungen Mädchen werden mit dieser Fähigkeit schon geboren. Aber um sie im Gesang anzuwenden, solltest du mit einer besonderen Physiognomie geboren sein: Du solltest sehr starke Kehlkopfmuskeln haben und eine große Luftröhre als Resonanzkörper!““BooCheeMish“ heißt das Album, das die Chorfrauen aus Sofia mit Gerrards Unterstützung eingespielt haben. Der Name geht auf einen Folkloretanz im Fünfzehn-Sechzehntel-Takt zurück. „Der Geist des ganzen Albums ist dynamisch, offen, groovy“, so Produzentin Boyana Bounkova. „Unsere Musik und unsere Kultur kommunizieren darauf mit anderen Kulturen und Musikstilen anderer Kontinente. Ein Ausdruck von Freiheit.“
Denn Freiheit war nicht das, was immer gegeben war in der Historie des Chors: Bereits 1952 veranlasst die kommunistische Führung Bulgariens die Gründung eines Volksliedensembles fürs staatliche Radio. Wie in vielen anderen Bruderstaaten wird Musik in den Dienst der sozialistischen Ideologie gestellt, doch die archaischen Lieder der Dörfer werden zugleich kunstvoll arrangiert. Zum Durchbruch auf dem internationalen Plattenmarkt verhilft den Frauen der Schweizer Weltenbummler Marcel Cellier, der 1975 seine Aufnahmen mit dem Radiochor auf eine Scheibe presst und dem Phänomen den Namen „Le Mystère des Voix Bulgares“ verpasst. Popstars von Zappa bis Kate Bush werden Fan, in den Achtzigern lizensiert das Wave-Label 4AD die Musik, dort ist auch Gerrards Band Dead Can Dance beheimatet. Nach dem Ende des Ostblocks privatisiert sich ein Teil des Chores, wird als Buglarian Voices Angelite weltweit erfolgreich, der andere Teil trägt weiter das „Mystère“-Prädikat im Namen, gerät jedoch in Vergessenheit. Bis sie mit dem jungen Komponisten Petar Dundakov 2015 das Konzept ändern, sich Popeinflüssen öffnen, ohne die Wurzeln zu kappen.
Dundakov hat sowohl Klassik- als auch Rockerfahrung, den clever modernisierten Stücken auf „BooCheeMish“ hört man das an. Und dann ist ja da noch die Stimme von Lisa Gerrard, die im fernen Australien bei rund der Hälfte der Titel ihre Stimmgewalt beisteuerte. Später kam sie dann für gemeinsame Konzerte mit den Bulgarinnen nach Europa. „Die Intervallreibungen sind wirklich erstaunlich“, sagt Gerrard. „Mir ist es ein Rätsel, wie sie die Tonhöhen halten können. Diese Stimmen sind wie Dudelsäcke! Wenn ich meine eigenen fließenden, offenen Singtechniken verwende, dann kann ich mich auf sie einstellen, aber wenn ich anfange, in Synkopen zu ihren Stimmen zu singen, dann ist das richtig tricky. Es gibt ein paar Songs, die mich schier verrückt machen!“ Ob der Mystère-Chor durch den Support des Popstars wieder Aufwind bekommt? Dora Hristova sieht die Zukunft realistisch. „Es braucht junge Leute, die sich für die Folklore interessieren. Selten treffe ich auf ursprüngliche Stimmen, die wie ihre Mütter oder Großmütter singen wollen, vielmehr versuchen sie, die westlichen und zeitgenössischen Stile zu imitieren.“ Lisa Gerrard würde sich eine Fortsetzung des Teamworks wünschen, für sie sind die bulgarischen Stimmen geradezu eine Notwendigkeit: „Als ich beim letzten Konzert in den Saal schaute, haben die Leute geweint. Das passiert, weil wir heute so desensibilisiert sind, alles ist so statisch, so einfach, so bequem. Und dann wirst du konfrontiert mit etwas so Wahrhaftigem, Aufrichtigem, einer Verkörperung von so viel Leidenschaft. Klar, dass du da emotional wirst. Es ist reinigend, all die Abstumpfung fällt von dir ab. Und deshalb denke ich, die Welt braucht diese Musik!“
(aus: Badische Zeitung)

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