The Dreaming: Zehn Blicke auf fremde Welten (3)

Die Analyse des Albums ist natürlich nicht vollständig, wenn nicht auf die Songs eingegangen wird. „The Dreaming“ beginnt mit „Sat in your lap“, das vor der eigentlichen Arbeit am Album entstanden war und als recht erfolgreiche Single die Zeit zwischen den Alben überbrückte. Die Anklänge an Stammesrhythmen sind hier besonders deutlich (hier zeigt sich der erste Einfluss der Zusammenarbeit mit Peter Gabriel und des dort entwickelten Schlagzeugsounds). Die Arbeit an dieser Single und die Integration der neuen Sounds war für Kate Bush wie eine Initialzündung [8]: „I felt as if my writing needed some kind of shock, and I think I’ve found one for myself. The single is the start, and I’m trying to be brave about the rest of it. It’s almost as if I’m going for commercial-type ‚hits‘ for the whole album.“ Der letzte Satz klingt bei Kenntnis des ganzen Albums etwas merkwürdig – aber wer weiß, was Kate Bush in ihrem Herzen für kommerziell hält … In diesem Song geht es [2] um die Erkenntnis, es geht um das Streben nach spirituellem Fortschritt. „Ist Erkenntnis etwas Angeborenes, Instinktives, Sexuelles […], oder kann man sie nur durch lebenslanges Suchen und Streben […] erlangen und selbst dabei möglicherweise versagen?“ [2]. Hier wird das Kernthema des ganzen Albums angesprochen, darum geht es, das hat Kate Bush mit diesem Album versucht zu beantworten. Erzählt wird auch von schöpferischer Frustration, was wohl dazugehört. „Sat in your lap“ ist von einem vorantreibenden Sog erfüllt, wilde Trommeln, hektisches Klavier und später hektische Bläser, so etwas wie Peitschentöne, Töne wie aus einem Stammesritual – Rastlosigkeit. Es ist ein Song ohne Pause. Die Gesangsstimme ist tiefer als früher, zurückgenommen, ebenfalls von Ruhelosigkeit getrieben. Manchmal gibt es fast opernhafte Töne. In einer ganz anderen Tönung Einwürfe, hoch gesungen, wie Kommentare („Some say that knowledge is something that you never have“).
There goes a tenner“ ist nach Meinung von Thomson [2] das leichteste Stück des Albums. Es ist eine tänzelnde Krimiparodie, aber mit einem düsteren Subtext. Offenbar werden Ganoven von Paranoia geplagt und geben auf, als der Tag der Umsetzung des geplanten Einbruchs gekommen ist [2]. Thomson stellt die Frage, ob dies auch ein Kommentar zu den eigenen Ängsten und Unsicherheiten bei der Produktion des Albums sein könnte. Die Ausgestaltung hat einige Besonderheiten. Der Gesang der Protagonistin ist zurückgenommen, sie singt mit einem deutlichen Akzent. Es gibt comicartige Einlagen („all my words fade“) und dunkle, tiefe, düstere Töne im Chorus („We‘re waiting“), die wie eine Ermahnung aus dem Grab klingen. Karikatur und Düsternis treffen in diesem Song zusammen – es ist ein gereiftes Echo auf das ähnliche „Coffee Homeground“ vom Album „Lionheart“.
Pull out the pin“ greift den Vietnamkrieg auf, aus der Sicht eines Vietcong. Diese fast filmische Erzählung mit ihren Urwaldgeräuschen holt den Schrecken des Krieges ganz nah heran, macht ihn mit lyrischen und musikalischen Mitteln fühlbar. Er ist ein ganz typisches Beispiel für die Arbeitsweise von Kate Bush. Eine außermusikalische Inspiration (hier eine Sendung im Fernsehen) löste einen Assoziationssturm aus. Hier geht es um etwas Existenzielles, den Kampf einer gegen einen („Just one thing in it, me or him. And I love life!“). Das „And I love life!“ wird geradezu verzweifelt herausgeschrieen, es ist der pure Überlebenswille. Dies ist eine fremdartige und dunkle Atmosphäre, die sich zum Ende hin hinter den Hubschraubergeräuschen – die an den Vietnam-Film „Apocalypse now“ erinnern – in Agonie und Tod verliert.
Suspended in gaffa“ kreist um die Suche nach Erfüllung, ist aber von Selbstzweifeln und Entfremdung durchzogen [2]. Ein schneller Walzerrhythmus (selten in der Popmusik) hetzt die tiefe Gesangsstimme durch den Song, begleitet von hohen chorischen Stimmen als Begleitung.
Leave it open“ kann wirklich als hochgradig experimenteller Song bezeichnet werden. Thomson hält ihn für einen verstörenden Song [2]. Für ihn fasst er die düstere Botschaft des Albums zusammen: „Harm is in us“. Die Stimmen in diesem Song sind verzerrt, überall umtosen einen merkwürdige Soundexperimente. Zum schon typischen Schema „tiefe Solostimme / hohe Begleitung“ kommen nun auch Männerstimmen als Begleitung hinzu („Harm is in us but power to arm“). Der etwas lang geratene letzte Chorus geht in eine Schlusssteigerung über, hier hebt der Song richtig ab und nimmt Drive auf. Merkwürdige Stimmen ergänzen nun die eigentlich positive Botschaft „leave it open“ mit einem „Say what we‘re gonna let in / We let the weirdness in“. Auch dies kann als Kommentar zum Album verstanden werden, das ja ausdrücklich das Unheimliche und die Verrücktheit hereinlässt.
Der Titelsong „The Dreaming“ wurde als Single ausgekoppelt. Es ist eine eher ungewöhnliche Single, sie hat nun so überhaupt nichts mit dem Mainstream zu tun. Inspiriert wurde Kate Bush zu diesem Song durch eine Australienreise im Jahr 1978 [2]. Der Song hat das Schicksal der Aborigines zum Thema [2], deren Land ausgebeutet wird und die selbst der zerstörerischen Kraft des Alkohols ausgesetzt sind („devils in a bottle“). Ein „knochenharter Rhythmus bildet das Gerüst des Songs“ [2]. Hier gab es eine Zusammenarbeit mit Rolf Harris, für dessen Song „Sun arise“ Kate Bush geschwärmt hatte, für sie immer noch ein Meilenstein der Weltmusik [2]. Diese Zusammenarbeit sollte sich dann über zwanzig Jahre später mit „Aerial“ fortsetzen. Der ganze Sound des Songs ist australisch inspiriert, ein Didgeridoo ertönt, es ertönen Tierlaute (Schafe?), alles ist wie Musik aus einer fremden Welt. Es erinnert mich an archaische Riten. Auch die Gesangsstimme ist merkwürdig akzentuiert, als ob Kate Bush mit einem Akzent (der Aborigines?) singen würde. Fast überirdische Passagen kommen dazu („Coming in with the golden light“), ferne Einwürfe wie Erinnerungen erklingen („See the light ram through the gaps in the land“). Es ist eine zerrissene Welt, die hier gezeigt wird.
Night of the swallow“ ist für Thomson ein wegweisendes Stück [2]: „Barocke Balladenkunst geht mit traditionellen keltischen Instrumenten eine bestechend schöne Verbindung ein.“ Diese neue und überraschende Einbeziehung von traditionellen Instrumenten und Stilformen wurde von Kate Bush auch auf späteren Alben aufgegriffen. Sie war damit eine Wegbereiterin für andere Künstler. Überraschend für mich ist der bruchlose Übergang von „The Dreaming“ zu diesen Song – hier vermischen sich Didgeridooklänge mit irischen Klängen, Australien weicht Irland, beide Songs besinnen sich auf die Tradition. „Night of the swallow“ kann am ehesten als Ballade bezeichnet werden. In der Stimmung erinnert es mich immer an „Oh england my lionheart“ vom Album „Lionheart“. Auch dort schimmert die Tradition durch die Pop-Folie.
In „All the love“ trifft ausgefeilte Technologie auf eine sehr reine, fast klassische Singstimme [2]. Der Song beklagt, wie schwer es ist, der Liebe Ausdruck zu verleihen und auf andere zuzugehen [2]. Er endet in einer Toncollage aus verschiedenen Stimmen, die auf einem Anrufbeantworter ihre Stimmen hinterlassen – aber die Protagonistin antwortet nicht. Der Song ist ruhig, melancholisch, traurig. Die Diskrepanz zwischen eigenem Anspruch und den Erwartungen der Welt ringsum werden thematisiert („They think I‘m up to something weird / And up rears the head of fear in me“).  Eine ganz zarte, hohe Knabenstimme gibt Hoffnung und Aufmunterung, wie eine himmlische Verheißung: „We needed you to love us too, we wait for your move“. Ein himmlischer Appell? Eine Aufforderung? In der Stimmung nimmt dies schon etwas von „Hello Earth“ vorweg und ich höre auch eine Vorausahnung der reinen, kristallinen Schönheit von „Snowflake“. Linien in die Zukunft werden sichtbar.
Eine faszinierende Studie über das Übernatürliche [2] ist „Houdini“. Ist Liebe stärker als der Tod? Dieser Song ist wieder eines dieser geheimnisvollen Lieder von Kate Bush, der eine ganz konkrete Begebenheit der Geschichte in einem musikalischen Moment zusammenzieht. Harry Houdini war ein amerikanischer Entfesselungs- und Zauberkünstler. Seine Ehefrau Wilhelmine Beatrice „Bess“ Rahner fungierte viele Jahre als seine Bühnenassistentin. Geschildert wird die Geschichte dieser Frau, die von der Liebe zu ihrem toten Mann besessen ist. Wieder und wieder versucht sie, ihn auch im Tode zu erreichen. So groß ist ihre Liebe, dass sie nicht aufgibt. Kann die Liebe schließlich doch den Tod besiegen? Hat die Rettung nicht in der Vergangenheit jedesmal geklappt? Liebe über den Tod hinaus – dieses Thema wurde schon in Kate Bushs erstem Hit „Wuthering Heights“ besungen. Dort kehrte Cathy zurück zu Heathcliff, hier Harry zu Bess.
Get out of my house“ ist schließlich der dämonische Abschluss des Albums. Er ist der einzige Song, der konsequent auf einen Rhythmus setzt [2]. Im Chorus wird wieder eine fast opernhafte Stimme benutzt, das ist ein sehr theatralischer Effekt („No strangers feet will enter me / I wash the panes I clean the stains away“).  Der Song ist inspiriert von Stephen Kings Roman „The Shining“ [2] bzw. wahrscheinlicher von der Verfilmung durch Stanley Kubrick. Es handelt sich vordergründig um ein vom Bösen besessenes Haus, tote Materie wird zum Leben erweckt. „Es ist die Stimme einer Frau, die in ihrem privaten Rückzugsort bedrängt wird“ – das ist die Meinung von Thomson [2]. Ist es eine Parabel auf den Starruhm? Gibt Kate Bush hier ihrem Unterbewusstsein eine Stimme? Beängstigend sind für mich die verzweifelten Schreie im Hintergrund, die immer wieder auftauchen („Get out of my house“). Die Bedrängung findet durch einen Mann statt (ein Echo auf Jack Nicholson im Film?), für mich hat das aber auch etwas von sexueller Nötigung. Eine erschreckende Vorstellung und ein verstörendes Ende des Albums.
Wie kann ich das Album zusammenfassen, wie kann ich ein Fazit ziehen? Ich will es auf eine neue Art versuchen. In Twitter ist die Zeichenlänge für einen Tweet begrenzt und das erfordert viel Kreativität in der Beschränkung. Hier kommt nun als Fazit mein Versuch, die Essenz des Albums in einem Tweet zu erfassen:

„Zehn Blicke auf fremde Welten. Gold und Düsternis, Licht und Hysterie, Traurigkeit und Liebe. Zerrissene Seelen, Himmel und Hölle treffen sich. Schönheit in der Dunkelheit, die gefährlich ist. With a kiss you‘d pass the key.“ © Achim/aHAJ

[1] Beate Meiswinkel: „35 Jahre „The Dreaming“: Pressestimmen und Impression 1982-84“.  http://morningfog.de/?p=4857. (gelesen 01.01.2018)
[2] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 230ff
[3] N.N.: The New Music. 3./4. August 1985.
[4] Robin Smith: Getting Down Under With ‪Kate Bush. Unbekannte Quelle. 1982.
[5] Kate Bush: Letter from Kate. KBC article Issue 9. Frühling 1981.
[6] Paul Simper: Dreamtime is over. Melody Maker, 16. Oktober 1982.
[7] Kate Bush: About The Dreaming. KBC article Issue 12. Oktober 1982.
[8] John Shearlaw: The Shock of the New. Record Mirror. September 1981.
[9] Kate Bush: About Hounds Of Love & Interview. KBC article Issue 17.

https://twitter.com/achimriehn/status/982841570138324992?s=21

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