Das Song-ABC: π

abcUnbefangene Bush-Neulinge bemerken sofort die Ungewöhnlichkeit und Gewagtheit dieses Liedes. Es ist ja schon sehr exzentrisch, ein Lied über eine transzendente Zahl zu schreiben und über Minuten nur die Dezimalziffern von Pi zu singen. Dieses „Außerordentliche“ lockt dazu, sich diesen Titel anzuhören – die Umsetzung dann versetzt in Staunen.
Es gibt das hübsche Bonmot über Kate Bush, dass sie selbst aus dem Telefonbuch von Kent noch ein erstklassiges Lied machen würde. Das war natürlich ein Scherz, aber vielleicht hat sich Kate Bush – die sehr humorvoll ist – da doch gedacht „das wollen wir mal sehen!“.
Ein Telefonbuch ist eine zufällige Auflistung von zusammenhanglosen Daten, das reicht nicht für einen Song. Aber Zahlen – da ist mehr Potenzial. Pi ist eine der berühmtesten Zahlen, unzählige Menschen haben schon in der Vor-Computer-Zeit versucht, weitere Dezimalstellen zu errechnen und sich so zu verewigen. Das ist eine Aufgabe, die nie endet – denn Pi hat als transzendente Zahl unendlich viele Dezimalstellen und keine ist vorhersehbar. Pi ist außerdem – als Verhältnis von Kreisumfang zu Durchmesser – ein Symbol für Unendlichkeit, für Harmonie, für Symmetrie. Schon haben wir typische Zutaten zusammen für einen Bush-Song: Menschen, die von etwas besessen sind; ein Symbol der Harmonie, die man jederzeit vor sich sieht (jeder Kreis ist eine Visualisierung von Pi), die man aber niemals endgültig erreichen kann.
Es begeistert (und irritiert), wie ein so mathematisches und damit vermeintlich trockenes Thema mit so einer sinnlichen Musik umgesetzt wird. Eine die rhythmischen Begrenzungen und Reglementierungen aufhebende und überschreitende Musik ist zu hören, ein mit betörender Sinnlichkeit gesungener Zahlenreigen.
Zärtlich, fast wie eine Liebeserklärung singt sie von dem Mann und seiner Begeisterung für Zahlen. Ein konkretes Bild kommt zustande: Ein Mensch, gefangen in seiner Hingabe. Kate Bush singt hier ganz anders als z.B. in „A Coral Room“ oder „Joanni“. Aber genau das macht die Wirkung aus – hier die Zahlen direkt, klar oder laut herauszusingen würde die Stimmung verderben. Das Zurückhaltende, Flüsternde, Gehauchte ist hier ein perfekt eingesetztes Stilmittel. Ausgedrückt werden soll die Liebe zu diesen Zahlen (auch die Besessenheit von ihnen) und da passt Zärtlichkeit und Traumverlorenheit. Murmelnd, gurrend, zart – jede Zahl sagt „ich liebe Dich“. Text und musikalisches Stilmittel passen zusammen. Dieser zurückhaltende, sanfte, sich in den Grund einbettende Gesangstil ist es, der hier einen fast hypnotischen Effekt auslöst. Es ist kein Gesang – es ist eine Beschwörungsformel, ein Liebeszauber.
Mathematik ist sinnlich und erotisch – das ist das Unerwartete des Textes. Aber auch Melodie und Rhythmus spielen mit den Erwartungen. Das Lied steht im 6/8-Takt, unablässige Ketten von Achtelnoten bilden einen pochend gleichmäßigen (digitalen) Teppich, in unterschiedlich lange Gruppen gleicher Tonhöhe gegliedert, taktüberspannend. Der tänzerische Takt und das gleichmäßige Pochen – das steht gegeneinander. Die Gruppen der gleichen Akkorde in den Achtelketten werden zudem von Durchgang zu Durchgang subtil verändert. Durch diese Stilmittel wird ein fast schwereloser Zustand erreicht, ein unablässiges Kreisen. Dies könnte bis in alle Unendlichkeit so weitergehen – genau wie die Dezimaldarstellung der Zahl Pi. Das alles leuchtet in einer klaren Grundtonart C-Dur, die aber auch unablässig in andere Sphären ausgeweitet wird. Jeder rationale Boden ist transzendiert – wie es für die nicht-rationale transzendente Zahl Pi angemessen ist. Aus einem Song wird ein numerologisches Mantra.
Der im Stil der Supremes (jedesmal beim Hören kommt mir dieser Vergleich in den Sinn) akzentuierende Chor unterstreicht und erdet dies durch seine vorantreibende Art wieder. Wie ein kleiner Dynamo treibt er das Schwungrad des Songs immer wieder an und hält es in Schwung. Diese eigentlich widersprüchlichen Komponenten sind zu einer Einheit zusammengefasst auf eine sinnlich-ironisch-intelligente Art, wie es nur Kate Bush vermag. Das ist wirklich Verlockung, ein Sirenengesang für Mathematiker, ein normaler Mensch kann nur bewundernd zuhören.
Pi ist einer der Songs von Kate Bush, den ich mir mit am häufigsten einzeln anhöre. Ich sehe ihn als eine stimmige Einheit und dies ist für mich ein Grund für die Faszination, die er auf mich ausübt. Selten wurde mathematische Schönheit so ergreifend mit Musik verbunden. Und wahrscheinlich nur Kate Bush kann dies singen, ohne dass es völlig lächerlich wirkt!
Jetzt bleibt noch zu überlegen, warum Kate Bush beim Singen der Zahlen Stellen ausließ. Sie kommt bis zur 137. Nachkommastelle, lässt aber die Stellen 79 bis 100 aus. Es gab den Scherz „das lässt auf eine Maxi-Version hoffen“. Vielleicht kommt das ja noch irgendwann – bei Kate ist man vor keiner Überraschung sicher.
Achim/aHAJ)

2 Kommentare

    • Achim (aHAJ) auf 29. März 2015 bei 09:30
    • Antworten

    Das muss ich jetzt auch gleich einmal nachlesen! 🙂

  1. Ich muß bei dem Song immer an den Mathematiker aus dem kleinen Prinzen denken. Ob Kate das wohl auch mal gelesen hat?

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