Das Song-ABC: A Coral Room

abcVom ersten Hören an hat mich dieses Lied in seinen leisen Bann gezogen. Es ist ein sehr inniges und zurückhaltendes Stück, intim, voll mit Emotionen der Trauer, bildgewaltig, wunderbar und zerbrechlich. Hier werden Gefühle offengelegt und mit dem Zuhörer geteilt, in jeder Note, in jedem Wort.
„A Coral Room“ ist ein Lied darüber, wie die Zeit alles unter sich begräbt und langsam alles auslöscht. Erinnerungen sind eine versunkene Stadt, sie liegen unter der Oberfläche im Dunkel, sind überwuchert und verborgen, sind immer da. Aber manchmal werden sie sichtbar in diesem Meer des Vergessens und tauchen wieder auf. Wir bewegen uns auf der trügerischen Oberfläche eines Meeres, das alle vergangenen Dinge und Erinnerungen bewahrt und für uns bereithält. Mit diesem Gleichnis und diesen Bildern setzt Kate Bush die Trauer um ihre verstorbene Mutter um.
Das Lied ist durchkomponiert und individell auf die Textzeilen bezogen umgesetzt, das in der Pop-Musik übliche strenge Schema aus Strophe und Refrain gilt hier nicht. Alles ist fein und durchsichtig gearbeitet, innehaltende Pausen, Klavier und Stimme, die sich ergänzen und umschweben.

© Robby Bakker

© Robby Bakker

Zuerst wird die versunkene Stadt geschildert, mit ihren Trümmern und ihren Relikten, in versunkene Netze eingehüllt, wie von Spinnweben überzogen („covered in webs“), mit den vielen Menschen, die hier lebten. Ganz zart, bewegend und zurückhaltend kommt dann der Übergang zur Vergangenheit und zur Erinnerung: „Put your hand over the side of the boat. What do you feel?“. Eine innehaltende Pause, die Hand taucht ein in das Meer des Vergessens und die verstorbene Mutter ist wieder da, die Mutter in der Küche, ihr Krug und ihr kleines Lied über diesen Krug, ihre Stimme. Eine männliche Stimme wiederholt das kleine Lied, wie eine weitere verwehte Stimme aus der Vergangenheit (oder wie ein Echo eines anderen Familienmitglieds?). Mitten in der Erinnerung das wehmütige, verlorene „ho ho ho, hee hee hee“ – hier hört man in jedem Ton die versteckten Tränen. Die Erinnerung („Spider of Time“) kriecht aus einem Krug wie eine kleine Spinne, gut verborgen, immer da, überall kann sie sich verbergen. Sie fängt uns in ihren Netzen. Die zarten Spinnweben über der versunkenen Stadt erklären sich. Aber die Vergangenheit ist vorbei und kann nie mehr wiedererstehen, der Krug fällt und zerbricht. Hier ist der Schmerz in der Stimme und in der Melodie fast körperlich spürbar. Das Unfassbare wird begreiflich.
Im Songtext werden verschiedene Bilder verwendet, um die Erinnerung an die verstorbene Mutter zu visualisieren: die Spinne, die Spinnweben, das Meer, das Boot. Die Symbolik dieser Begriffe ist vielschichtig – siehe dazu (1) und (2) – und erweitert den Inhalt um eine fast schon mythische Dimension. Die Spinne wird oft als Symbol für die große Mutter und als Weberin des Schicksals dargestellt. Inmitten ihres Netzes verkörpert sie das Zentrum der Welt, Alle Menschen sind über ihr Netz als Nabelschnur mit den kosmischen Vorgängen und Gesetzen verknüpft. Das Meer ist in der Psychoanalyse das Symbol des Unbewussten, steht zudem auch für die gütige und strenge Mutter. Das Boot ist u.a. ein Symbol für den schützenden Aspekt der Großen Mutter. Es steht für den Schoß, die Wiege, die schützende Hülle auf dem Meer des Lebens. Bei den alten Norwegern wurden die Toten in einem Boot über das Meer hinaus in den Mutterschoß geschickt, in dem sie dann wiedergeboren werden sollten.
In der Bildsprache von „A Coral Room“ werden all diese Aspekte des Mutter-Seins miteinander verwoben. Die Erinnerung an die Mutter bringt all diese verschiedenen Aspekte zurück. Die gute Mutter, die böse Mutter, die beschützende Mutter, die Göttin – und dazu Bilder der Ewigkeit, des ewigen Lebens.
Das Lied endet mit der Überleitung zur Erinnerung: „Put your hand over the side of the boat. What do you feel?“. Der Akkord verhallt. Die erste CD endet mit dieser Frage an den Zuhörer. Was fühlst Du, wenn du in das Meer der Erinnerung eintauchst? Dazu das Bild im Booklet – Kate und ihr Sohn blicken den Zuhörer (hier den Leser des Textes) direkt an – so als ob man gemeinsam im Meer taucht. Was siehst Du? Musik, Text und Bild sind eine Einheit.
Sehnsucht, Melancholie, Erinnerung – selbst die tonale Gestaltung spiegelt das wieder. Das Lied steht in cis-Moll, der Sehnsuchtstonart der klassischen Musik. Es ist eine warme Tonart voller Schwermut. Sie öffnet in unserem Herzen die verborgenen Quellen der Sehnsucht. Etwas von der leuchtenden Schönheit der parallelen Dur-Tonart E-Dur gießt sich auch über cis-Moll aus, anstatt Sonnenlicht ist es das sanftere Licht des Mondscheins. Cis-Moll ist in höchstem Maße eine romantische Tonart. Nocturnes von Chopin stehen in dieser Tonart, ebenso die Mondscheinsonate von Beethoven (3).
In diesem Lied wird der Zuhörer einbezogen in eine ganz private Welt. So etwas wird sonst nur einem Freund zuteil. Kate legt ihre Seele offen in einer fast erschreckenden Intimität. Sie tut dies für uns, ihre richtigen Zuhörer, ihre Fans. Sie fordert uns auf sich unseren eigenen Erinnerungen zu stellen und diese mit ihr zu teilen. Ich betrachte dies als eine Ehre. „A Coral Room“ ist hohe Kunst.
Eine Frage stellt sich mir und ich habe auf sie keine Antwort. Warum handeln so viele Lieder von Kate Bush vom Tod?
Achim/aHAJ)

(1) Clemens Zerling, Wolfgang Bauer: Lexikon der Tiersymbolik; München 2003; S.291
(2) Ulrike Müller-Kaspar (Hrsg.): Die Welt der Symbole; Wien 2005
(3) Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner; Stuttgart 1999

1 Kommentar

    • Ralph Eisermann auf 21. November 2016 bei 16:35
    • Antworten

    Kate Bush und der Tod – das ist ein interessantes Thema.
    Meines Erachtens gibt es hierauf zwei Antworten:
    1.) Bush ist eine Schwarzromantikerin. Das fing wohl im Teenage durch die Beschäftigung mit Literatur und Film an, und führt die Düsternis bleibt immer fühlbar, etwa wenn da auf Aerial der Chor singt „soon the summer will be gone“ im Sommer des Lebens ist der Herbst und der Winter doch schon fühlbar. Die junge Kate Bush hat ja auch einen Song über Carmilla geschrieben, eine Figur der gleichnamigen Novelle von Le Fanu. Bush ist heute eine der großen alten Damen der Gothic Szene und hat viele Künstler beeinflusst – man schaue sich alleine aber nicht nur die Covers von Wuthering Heights
    2.) Bush ist eine melancholische Persönlichkeit. Sie hat schon früh betont dass sie psychische Krisen habe aus denen sie mitunter nicht ohne professionelle Hilfe herauskomme. Das führt sicherlich dazu dass Todesgedanken für sie nichts ungewöhnliches sind. Dabei muss man allerdings auch sagen dass eben die großen Themen Liebe, Tod und Politik sind – und die finden wir alle bei Kate Bush. So findet man auch Themen wie den Kalten Krieg oder den WKII in ihrem Werk – etwa auch in Coral Room, wenn Kindheitserinnerungen hochkommen, die von abstürzenden Flugzeugen und Schnellbooten hochkommen.

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