Diesem Song nähere ich mich mit einer gewissen Scheu. Ich mag ihn sehr, aber er ist für mich ein großes Geheimnis, ein Mysterium. Es fällt mir schwer, in ihn hineinzugehen und ihn zu analysieren. Für mich ist er einer der schönsten und bewegendsten Songs von Kate Bush. Wenn ich ihn höre, dann will ich einfach nur eintauchen und nicht über ihn nachdenken.
„Nocturn“ ist der hypnotische Höhepunkt der Suite „A Sky Of Honey“, die das Doppelalbum „Aerial“ beschließt. Oft wird darauf hingewiesen, dass diese Suite ein Analogon zur „The Ninth Wave“-Suite des Albums „Hounds of Love“ ist. Dort ist das ebenso hypnotische „Hello Earth“ das vorletzte Stück und führt zu einer Art Erlösung, genauso verhält es sich mit „Nocturn“. Der Song ist der große Ruhepol, das Abtauchen in eine mystische Tiefendimension. Wie „Hello Earth“ führt er zum letzten Lied der Suite, zurück in die Realität oder in eine andere Wirklichkeit. Der Name des Songs sagt es schon: „Nocturn“ ist ein großes Nachtlied, ein Mondscheinlied der Sehnsucht. Es ist ein cis-Moll-Nocturne, wie es auch schon Chopin geschaffen hat. In der Schlusssteigerung wandelt es sich in reinen Jubel, in überirdisches Entzücken beim Übergang von Nacht zu Tag. Anders als „Hello Earth“ ist das Lied selbst eine Reise aus der Dunkelheit ins Licht.
Im Booklet hierzu wird die blaue Nacht dargestellt, die nach rechts so heller wird, so als ob dort der Morgen kommt. Wasser ist zu sehen, Sterne und Vögel, ein Mensch als Vogel verkleidet. Nur hier im Booklet der Sky-Seite taucht ein Mensch auf, er erscheint aber wie in einen Vogel verwandelt. Beschreibt dieses Lied eine Metamorphose, eine Verwandlung des Menschen? Text und Musik geben hierzu Antworten.
Zu Beginn von „Nocturn” wird ganz leise ein Text gehaucht: „Sweet Dreams”. Das signalisiert, dass es um so etwas wie eine hypnotische Traumsequenz geht. Der Mensch im Einklang mit der Natur (der Mensch verwandelt in einen Vogel) ist nur im Traum möglich. Das nächtliche Licht wird dann in all seinen Facetten (Mondlicht, Sternenlicht wie Diamantenstaub) beschrieben. Das Lied kulminiert im Sonnenaufgang (“Look at the light , all the time it’s a changing / Look at the light, climbing up the aerial”), im Aufwachen (“and all the dreamers are waking”) und im Ausschwingen in das letzte Lied der Suite, in “Aerial”. Der Text beschreibt die Reise einer Gruppe von Menschen ans nächtliche Meer, weg von der Stadt mit ihrem Trubel, ihrer Hektik. Im Licht der Sterne baden sie im Meer, lassen sich von der Natur gefangen nehmen. Immer tiefer tauchen sie hinab. Den Sonnenaufgang erleben sie wie eine göttliche Erscheinung, es ist wie das Werden einer neuen Welt. Es ist nicht klar, ob das nicht nur ein Traum der Protagonistin ist: Im Booklet findet sich an einer Stelle „Could be in a dream“, in der Partitur [1] dagegen „Could be in my dream“.
Der Song ist musikalisch außerordentlich komplex, obwohl er so einfach erscheint. In meiner Analyse beziehe ich mich auf die Partitur aus dem Aerial-Songbook [1]. Der Takt ist ein 4/4-Takt mit einigen, kleineren Brechungen (2/4, 6/4). Aber diese scheinbare Regelmäßigkeit wird subtil unterlaufen. Rhythmische Aufbrechungen und sich überlagernde rhythmische Muster bringen den Takt immer wieder zum Schweben. Die Tonart ist ein cis-Moll. Cis-Moll ist nach Beckh [2] die Sehnsuchtstonart der klassischen Musik. Es ist eine warme Tonart voller Schwermut. Sie öffnet in unserem Herzen die verborgenen Quellen der Sehnsucht. Etwas von der leuchtenden Schönheit der parallelen Dur-Tonart E-Dur gießt sich auch über cis-Moll aus, anstatt Sonnenlicht ist es das sanftere Licht des Mondscheins. Cis-Moll ist in höchstem Maße eine romantische Tonart. Nocturnes von Chopin stehen in dieser Tonart, ebenso die Mondscheinsonate von Beethoven. Alle Bedeutungsnuancen gemäß Beckh finden sich idealtypisch in „Nocturn“ wieder.
Die Hauptakkorde sind cis-Moll, A-Dur und H-Dur, ganz selten kommen einige Farbtöne dazu. Der Eindruck ist schwebend, es klingt nicht wie ein reines Moll. Das liegt daran, dass die Akkorde A-Dur und H-Dur Subdominante und Dominante der Dur-Parallele zu cis-Moll sind. Die Akkordfolge schwingt dadurch zwischen Moll und Dur hin und her. Die Akkordfolge cis-Moll – A-Dur – H-Dur wird bis Takt 52 strikt durchgehalten, der letzte H-Dur-Akkord erscheint auf „Something“ in „Just as something more. Dann gibt es keinen H-Dur-Akkord mehr bis zum Takt 156 „and all the dreamers are waking“. Hier erscheint der H-Dur-Akkord auf dem letzten Viertel des 2/4-Taktes, hier rein instrumental. Dann folgt der Übergang zu cis-Moll und zur Charakteristik von „Aerial“. Über hundert Takte wird diese Erlösung durch den H-Dur-Akkord herausgezögert. Dieses lange Vermeiden des dominantischen Akkords bedarf natürlich einer Erklärung. Dazu ist es nötig, sich die Bedeutungen der Akkorde A-Dur und H-Dur und der durch sie angedeuteten Tonarten anzuschauen.A-Dur, das sind nach Beckh [2] „die lichten Höhen“. Charakteristisch ist der dieser Tonart innewohnende Niederstieg von den Höhen des Überirdischen zu den Tiefen des Irdischen. H-Dur ist nach Beckh [2] die Sonnenuntergangstonart. H-Dur ist nicht mehr ganz im Irdischen, es enthält einen verklärten Nachglanz dieses Irdischen und damit zugleich die Vorahnung des Hinübergehens. H-Dur ist die ätherische, überirdische Tonart der Verklärung. Wagners Liebestoddrama „Tristan und Isolde“ wird z.B. von dieser Tonart bestimmt. Diese hoch über dem Irdischen liegende Tonart wird nur verwendet, wenn man damit etwas ganz Bedeutsames ausdrücken will.
Folgt man diesen Tonartenbedeutungen, dann ist klar zu sehen, was in „Nocturn“ musikalisch geschieht. Die Musik weicht aus dem sehnsuchtsvollen, romantischen cis-Moll des Traums und der Nacht aus, strebt nach Höherem, nach Verklärung, nach Erlösung. Ist der H-Dur-Akkord der Erlösung zu Beginn noch präsent (eine Verheißung?), so fehlt es dann den ganzen Rest des Songs, bis es am Übergang zu „Aerial“ wieder erscheint. Dieses letzte Lied „Aerial“ ist die andere Welt, die verheißene, überirdische Welt und dieser letzte H-Dur-Akkord signalisiert den Übergang. Das Ziel ist erreicht. Auch in der musikalischen Gestaltung der einzelnen Abschnitte des Songs findet sich dieser Gegensatz von realer Welt und der anderen Welt wieder. „Nocturn“ ist musikalisch in sieben Abschnitte gegliedert, die sich klar voneinander abgrenzen lassen. Das klingt beim Hören alles ganz leicht und wie selbstverständlich, ist aber in sich sehr komplex. In der Beschreibung muss ich daher ein bisschen ausholen. Eine meisterliche Komponistin ist am Werk!
„On this Midsummer night / Everyone is sleeping / We go driving / Into the moonlight“: Teil 1 bildet mit diesem Vers 1 eine Art Einleitung zum Song in den Takten 1 bis 16, die Partituranweisung ist ein „Arhythmic and ethereal“. Der Abschnitt beschreibt die Eingangssituation des Songs: die nächtliche Fahrt ans Meer. Die Melodie wird durch ruhige Akkorde in ganzen Noten begleitet, der träumerische, ruhige Eindruck wird dadurch verstärkt. Sehr viel der gesamten Melodik ist vom Sekundschritt abgeleitet. Sehr ungewöhnlich (und damals neu) für Kate Bush ist die melismatische Sekundwechselfolge zum Beispiel zu „on this midsummer night“ mit ihrem charakteristischen Wechsel Cis-H fünffach wiederholt auf „summer night“.
Teil 2 (Chorus 1) erstreckt sich von Takt 17 bis Takt 32, er beginnt mit „Could be in a dream“. Das ist nun eine ganz andere Welt. Die langen Akkorde der Einleitung setzen sich fort, es dominiert jetzt aber ein ganz charakteristischer Rhythmus (ich nenne es „Muster A“) mit einer Schwerpunktverschiebung im dritten Viertel des Takts. Die Musik beginnt gegenüber dem Takt zu schweben. Der Text beschreibt das Hineingehen in das Meer, beschreibt das nächtliche Meer, es klingt entrückt, wie ein Traum. Es gibt keinen H-Dur-Akkord in diesem Abschnitt. Ist das also alles in dieser Welt?
Teil 3 (Vers 2) erstreckt sich von Takt 33 bis 60, es beginnt mit „We tired of the city“ und endet mit „just as something more“. Auf diesem schließenden „more“ singt die Singstimme das H in einem ganz lange ausgehaltenen Ton. H – das ist das „more“ gegenüber der realen Welt. In diesem Abschnitt kommt wieder der H-Dur-Akkord vor, aber nur vor diesem „more“. Die Sekundwechselfolge ist nun mit triolischen Aufbrechungen durchsetzt. Ein bewegter, emotionaler Eindruck entsteht so, die Musik ist eindeutig heraus aus dem normalen Takt. Der neue Rhythmus („Muster B“) ist nun gegen den Takt verschoben. Im Text geht es um die Sehnsucht, die Suche nach Erlösung, die Unzufriedenheit mit der Situation. Alles in der musikalischen Umsetzung spiegelt das wieder.
Teil 4 (Chorus1 + Chorus2) geht von Takt 61 bis 76, er wird einmal wiederholt. Er beginnt mit „Could be in a dream“ und endet mit „we swim further and further“. Wieder gibt es keinen H-Dur-Akkord. Der Rhythmus ist das Muster A, die Gesangsmelodie nimmt manchmal kleine Teile des Musters A auf. Die langen Akkorde der Einleitung sind auch wieder da. Ab dem letzten Takt dieses Abschnitts beginnen sie sich aufzulösen. Es entsteht ein rhythmisches Muster C im Wechsel mit den ganzen Noten des Beginns. Die Realität beginnt sich zu verwandeln, je länger die Protagonisten im Sternenlicht schwimmen. Auch die Singstimme von Kate Bush wird durch Kate Bush im Chor gedoppelt, mehrere Welten scheinen sich aufzutun, die klare Sicht scheint zu verschwimmen.
Im Teil 5 von Takt 77 bis 108 wandelt sich die Welt endgültig, während die Protagonisten in die Tiefe des Meeres hineintauchen. Teil 5 beginnt mit dem Ende des Chorus („we dive down“), umfasst zwei Brückenpassagen im Text und endet mit „Could be in my dream“. Der Rhythmus ist das Muster A, das sich ab „a diamond night“ leicht zu verändern beginnt, aber im Taktschema bleibt. Auch das Muster C im Wechsel mit den ganzen Noten beginnt sich subtil zu verändern, es beginnt zu „schimmern“. Es gibt immer noch keinen H-Dur-Akkord, aber musikalisch wird ganz vorsichtig an H-Dur „angeklopft“. Im instrumentalen Teil vor „a diamond night“ kommt nämlich der Ton ais in den Akkorden hinzu, der Leitton zu H-Dur. Im Text tauchen die Schwimmer im Meer immer tiefer hinab in die Tiefe. Aber im Gegensatz zum passiven Versinken in „Hello Earth“ zur geheimnisvollen Textzeile „Tiefer, tiefer, irgendwo in der Tiefe gibt es ein Licht“ ist das hier ein aktives Herabtauchen, ein aktives Streben nach dem überirdischen Licht. Es folgt ein instrumentaler Break bis Takt 110, ein „Interlude“, das fünffach wiederholt wird. Das Geschehen klingt aus, etwas Neues passiert ab jetzt in den Teilen 6 und 7. Das ais in den Akkorden ruft nach H-Dur, nach Erlösung.
Teil 6 geht von Takt 111 bis 138, er beginnt mit „And it come up the horizon“. Das Muster A bildet die durchgehende Begleitung. Im ersten instrumentalen Break hinter „horizon“ (4 Takte) kommt parallel zum Muster A ein vom Muster B abgeleitetes, verschobenes Muster B* dazu. Endlich treffen die beiden Welten aufeinander. Das ist ein Moment großer Emotionalität, eine Art Herzstocken. Im zweiten Abschnitt (ab „a sea of honey“) in den Takten 130 – 138 wechselt das Muster B* in ein Muster D aus vier Viertelnoten, pulsierend, auftrumpfend – das nimmt die rhythmische Welt des folgenden Songs „Aerial“ vorweg.
Teil 7 (Takt 139 bis 158) ist dann der Kulminationspunkt. Der Chor kommt hinzu, „Look at the light“. Ab „a changing“ findet sich immer der Ton ais in der Begleitung, der Leitton zu H-Dur. Der Ton ais kündigt den Wandel an. Das Muster A wird zuerst durchgehalten, wechselt ab „bright white coming alive“ in ein ganz neues Muster E. Das geht dann mit dem endlich hereinbrechenden, erlösenden H-Dur-Akkord in Takt 156 in den Aerial-Rhythmus aus reinen Vierteln und reinen Achteln über. In „Aerial“ werden wir dann nur noch den cis-Moll-Akkord finden – wir sind in einer anderen Welt angekommen.
Alles an diesem Song ist Geheimnis, Erwartung, sich aufbauende Spannung und Erlösung. Es ist eine Reise aus der Dunkelheit des Traums in das grelle Licht eines Tages. Mit subtilen Mitteln gelingt es Kate Bush, dies umzusetzen. Das ist so gut gemacht, wie es nur einer meisterlichen Komponistin gelingen kann. „Nocturn“ ist ein großes Geheimnis, perfekt und genial in Musik gesetzt. Es ist und bleibt ein Wunder auch ohne Analyse. Aber ein tieferer Blick auf die Details bringt alles noch mehr zum Funkeln. © Achim/aHAJ
[1] Kate Bush: Aerial (Songbook), London 2006. Faber Music Ltd. S.108ff [2] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.268 (cis-Moll) und S.171ff (H-Dur) und S.139f (A-Dur)
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