In diesen merkwürdigen Zeiten sind Songs genau richtig, die über die Stränge schlagen. „Violin“ ist unter den Songs von Kate Bush vielleicht der, der darin am extremsten ist. Er schafft es, jeden trüben Gedanken aus dem Hirn herauszuprügeln. Kate Bush hatte diesen Eindruck beabsichtigt. Der Song sollte extrem sein und den Eindruck von Wahnsinn erwecken. Ein Spaß, ohne tiefere Bedeutung: „It was meant to be very fun, nothing deep and serious, nothing really meaningful, just a play on the fiddle, the things it represents, its madness.“ [1]
Bei solchen beschwichtigenden Äußerungen traue ich Kate Bush inzwischen aber nicht mehr über den Weg! Der Text setzt diesen „Spaß“ adäquat um, er ist gespickt mit Anspielungen, die in Richtung musikalischen Wahnsinns weisen – wir finden Paganini, den Teufelsgeiger, wir finden Nero, der zu Musik Rom niederbrennt. „[We] wanted to make it very bizarre and very very up and the idea was the mad fiddler, not so much the violinist in the orchestra but the mad fiddler like Paganini or Nero watching the city burn.“ [1]
Die Vermutung liegt nahe, dass Kate Bush genau die Gefahren kennt, die in exzessiver Musikausübung liegen. Die Protagonistin im Song wurde offenbar durch Geigenspiel verrückt gemacht. Die Besessenheit wird durch diffizile Wortspiele visualisiert. Da gibt es die vier Seiten der Violine über dem Steg, die die Protagonistin in die Bar bringen und dann betrunken schwindeln lassen („Four strings across the bridge / Ready to carry me over / Over the quavers, drunk in the bars / Out of the realm of the orchestra“). Dazu erklingt Musik, die heraus aus dem Reich der wohligen, schönen Klänge führt. Wir sind nicht mehr im Orchester-Reich mit seinen harmonisch klingenden Violinen. Es geht hinaus in eine Folk-Punk-Wildnis. Vielleicht ist die Protagonistin nicht nur besessen, vielleicht ist sie eine Hexe. Warum sollte sie sonst die Todesfeen der keltischen Mythologie, die Banshees, anrufen, damit diese die „Backing Vocals“ singen? „Give me the Banshees for B.V.s“.
Möglicherweise gibt es einen biographischen Hintergrund für den Song. Kate Bush hatte sich in der Kindheit an der Violine versucht, aber das dann zugunsten des Klaviers aufgegeben: „Well, I did when I was a child, yes, I learnt it for a few years but while I was learning it I discovered the piano, I couldn’t really relate to it in the same way.“ [1] Das ist wieder sehr zurückhaltend ausgedrückt. Jeder weiß, dass der Klang einer Geige in den Händen eines unerfahrenen Spielers schrecklich ist. Es ist nicht mit dem Klang eines Klaviers oder einer Gitarre zu vergleichen, wenn ein Anfänger damit übt. Es ist nicht schwer, sich zu diesen Klängen die wütende und frustrierte ewige Perfektionistin Kate Bush vorzustellen. Vielleicht ist all diese Wut dann in diesen Song geflossen. Eine erste Demoversion [5] stammt aus der Zeit vor „The Kick inside“, ist also möglicherweise kurz nach Abschluss der Schule entstanden. „What does a punk do at school? Maybe break a few windows and receive detention. […] There’s no stopping a goddamn banshee.“ [6]
Produziert wurde der Song als einer der ersten für das Album „Never for ever“. „The first stage of making Never For Ever happened last summer, when I actually decided to be brave enough to go ahead and „produce“ with Jon Kelly […]. We put down Blow Away, Egypt, Violin and The Wedding List at Air Studios […].“ [4] Die Arbeit ging dabei offenbar schnell voran, vielleicht war in der Demoversion schon alles Wesentliche gesagt. „Having been rehearsed with the band for two days, the tracks went down, and our first ‚productions‘, with the help of ideal musicians, were a success.“ [4]
„Violin“ ist der Song, in dem Kate Bush dem New Wave und dem Punk recht nah kommt und natürlich wurde sie dazu auch in Interviews befragt. Sie wies das zurück, gab aber ihre Bewunderung für die Wildheit und Rauheit dieser Musik zu: „I’m not projecting myself as a new wave person and people wouldn’t accept me as such because my music is generally not in that area. But I love the energy, I love the power and the rawness – I love raw music, it’s very primitive, it’s what so much of our music is about.“ [1] Ich glaube aber doch, dass es einen gewissen Einfluss gab. Vielleicht verweisen die Banshees nämlich auch auf „Siouxsie and the Banshees“, eine 1976 gegründete Band der Post-Punk- und Dark-Wave-Bewegung [7]. Auch die zeitliche Übereinstimmung zum Entstehen der Demoversion könnte passen. Einfluss ja oder nein, Kate Bush lässt auf jeden Fall vokal die Sau raus. Christine Artemisia Kelley drückt das in einer sehr schönen Besprechung des Songs wunderbar aus [6]: „In the chorus Bush completely lets herself go, gutturally howling “get the bow going/let it SCREAM to me” in her most punk moment ever, a massive departure from her previous singing. Is it any wonder John Lydon is a Kate Bush fan when she does songs like “Violin,” with vocals closer to „Never Mind the Bollocks“ than Pink Floyd’s „Animals“?“
Wahnsinn durchdringt jede Sekunde des Songs und nichts verdeutlicht das besser als Kate Bushs Auftritt mit diesem Song in der „Xmas Special“-Show, in der sie mit Fledermausflügeln tanzt und mit riesengroßen Geigen kämpft, um am Schluss erschöpft oder tot niederzusinken [8]. Besessenheit oder Hexerei – ich kann mich nicht entscheiden.
Auch musikalisch ist der Song bemerkenswert. Er kommt wie ein richtiger Rocksong daher, im marschierenden 2/2-Takt [2]. Es erklingen nur Dur-Akkorde, das ist geradeheraus, fast fröhlich, tanzbar. Aber die Tonart ist ein ganz unerwartetes H-Dur [2]. Warum unerwartet? Weiter weg von konventioneller Rockmusik kann eine Tonart kaum sein. H-Dur wird in der Musik selten verwendet und das hat seinen Grund. Es ist die Tonart des Übergangs ins Überirdische [3]. Der Liebestod aus „Tristan und Isolde“ steht in dieser Tonart, ebenso der Karfreitagszauber aus dem „Parsifal“ [3]. Es ist nach Beckh eine Tonart, die nicht mehr ganz im Irdischen verankert ist, es ist „die Vorahnung des Hinübergehens“. Überirdisch-verklärt und „Violin“, „Parsifal“ und Punk – größer könnte ein Kontrast für mich nicht sein. Aber vielleicht ist Musik für Kate Bush sowohl ein überirdisches Reich als auch ein Reich des Wahnsinns. Wie so oft sagt bei Kate Bush die Tonart mehr aus als das, was sie in einem Interview zu einem Song zugibt. © Achim/aHAJ
[1] NfE Interview – EMI (London)
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.162
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.171ff
[4] Kate Bush: „Them Bats and Doves“. Artikel KBC Ausgabe 7. September 1980.
[5] https://www.katebushencyclopedia.com/violin (gelesen 09.12.2020)
[6] https://katebushsongs.wordpress.com/2018/09/26/violin/ (gelesen 14.09.2020)
[7] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Siouxsie_and_the_Banshees (gelesen 26.12.2020)
[8] https://youtu.be/GoQHVEXODgg (gesehen 26.12.2020)
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