Kiss a Crow als Seelenerkundung

Foto: Bettina Stöß

Dieser ungewöhnliche und faszinierende Ballettabend zeigt drei Arbeiten, die kaum unterschiedlicher hätten sein können. Die Uraufführungen „Rise“ des 30 Jahre alten Emrecan Tanis und „Kiss a Crow“ des 47 Jahre alten Marco Goecke wurden dabei ergänzt durch „Concertante“, eine Arbeit des 87 Jahre alten Meisters Hans van Manen aus dem Jahr 1994. Der Abend demonstriert drei ganz unterschiedliche Arten, mit Musik und mit Tanz umzugehen. Musik dient in „Rise“ zur Unterstreichung dessen, was man ausdrücken will. In „Concertante“ ist der Tanz das Spiegelbild der Musik. „Kiss a Crow“ setzt Musik als Mittel ein, um Emotionen aller Art aus den Tänzern herauszubringen. „Rise“ ist ein Tanztheater über die Bildung von Machtstrukturen in Gruppen. Emrecan Tanis wurde – so in der Einführung erläutert – durch eine Gruppe spielender Kinder in einem Einkaufszentrum inspiriert und die Art, wie sie ihre Hierarchien im Spiel klären.

Zu Beginn hebt sich zu einem türkischen Lied der grinsende Anführer aus dem Orchestergraben, von oben senken sich Beine herab. So beginnt das Spiel um die Macht. Tanis setzt das mit Videoprojektionen und Licht wie aus Computerspielen um, er spielt mit dem gleißenden Weiß des Neonlichts. Zu wummernder Musik formt sich die Gruppe zu einem fast militärisch anmutenden Tanz, bis sich der Anführer herausschält. Eine weiße Wand gleitet herein, bildet einen abgegrenzten Raum. Hier tanzt der Anführer mit drei weiteren Personen um die Macht, in komplexen Bewegungsabläufen. Sechs weitere Tänzer sind unter Scheinwerfern links abgestellt, sie geraten immer mehr in fast unkontrolliert wirkende Zuckungen. Aus der Wand fahren Treppenstufen heraus, der Anführer gleitet sie hinauf, verschwindet durch eine Tür. Die wummernden Elektronikklänge werden durch fast religiös anmutende Musik aus „Koyaanisqatsi“ von Philip Glass abgelöst. Der Anführer befreit die zuckenden und wimmernden Gestalten und leitet sie nach vorn, versucht sie zu beruhigen, es gelingt nicht. Machtmissbrauch hat seinen Preis. Rauch quillt aus seinem Mantel hervor, mit den meisten Tänzerinnen und Tänzern versinkt er im Orchestergraben. Nur ein Paar tanzt in sich versunken zu einer Violinmelodie auf der Bühne, bis die Musik und das Licht verdämmert. Mich erinnerte dies manchmal an expressionistischen Tanz der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, voll mit großen Gesten und Theatralik. Die Musik unterstreicht das, was ausgedrückt werden soll. Man muss den gedachten Hintergrund über Machtstrukturen nicht wissen, es wirkt auch so. Der Beifall für diese perfekt getanzte Fallstudie über Macht war groß. 

Hans van Manens „Concertante“ nahm die Mitte des Ballettabends ein, es bildete quasi das Adagio zwischen den zwei schnellen Sätzen. Zur klaren neoklassischen „Petite Symphonie Concertante“ Frank Martins gab es eine ebenso klare, strenge und fast kühle Choreographie zu sehen. Musik und Tanz spiegelten sich ineinander, es waren zwei Seiten einer Einheit. Hans van Manen stellt Paarbeziehungen in den Mittelpunkt. Von links und rechts kommen zwischen Vorhängen die Tänzerinnen in blau gestreiften Trikots und die Tänzer in grün gestreiften Trikots hervor auf die von einem blassblauen Licht erhellte Bühne, formen sich zu Gruppen und Paaren. Immer neue Konstellationen finden sich zu komplexen Bewegungsmustern zusammen. Paare umtanzen einander, die Interaktion ist voll von Anziehung und gleichzeitig auch latenter Aggression. Die typischen Mann-Frau-Muster des Tanzes sind aufgehoben, es sind Beziehungen auf Augenhöhe. Zeit und Raum scheinen aufgehoben durch die kühlen, klaren Bilder. Es ist ein ästhetischer Genuss, den acht Personen auf der Bühne bei ihrem Spiel zuzuschauen. Das war meisterlich, Tanz in Perfektion und in voller Harmonie. Es gab auch für diesen Teil des Abends verdient viel Beifall. 

Im Gegensatz zu den ersten beiden Choreographien fällt es mir sehr schwer, das faszinierende „Kiss a Crow“ zu beschreiben. Vielleicht so: Es ist kein Tanztheater mit Handlung, es ist auch kein reiner, klarer Tanz – es ist eine Seelenerkundung, eine Seelenerfahrung. Die Musik von Kate, Tanz und Innenleben lassen sich hier nicht mehr trennen. Die Musik zerrt Chimären, Monster und Gestalten hervor aus dem Inneren. Die Figuren auf der Bühne sind Krähen, die Musik zwingt sie, Mensch zu werden. Marco Goecke wurde inspiriert von seinen Spaziergängen im hannoverschen Stadtwald Eilenriede, von den Krähen in den Bäumen, die ihn und seinen Dackel Gustav beobachteten. Dieses Naturerlebnis zusammen mit dem, was in seiner Seele vorging, was ihn beschäftigte und berührte, all das hat diese Choreographie hervorgebracht.

Die Bewegungssprache in den Choreographien von Marco Goecke hat einen hohen Wiedererkennungswert. Hier aber erscheint sie noch außergewöhnlicher als sonst und der Grund ist die Musik. Marco Goecke ist mit Kate Bush seit seiner Jugend verbunden und vielleicht passt wirklich keine andere Musik besser zu der Art von Tanz, die ihm vorschwebt. Es beginnt mit „Jig of Life“, einem Song über das am Leben bleiben wollen. Die Figuren in schwarzen Anzügen mit weiten Hosen werden durch diesen wilden Tanz gleichsam auf die Bühne gezwungen. Sie zittern und beben in abgehackten Bewegungen, mit ruckartigen Zuckungen, mit Armen, die sich wie zustoßende Schnäbel bewegen oder wie verkrampfte Flügel. Es sind Krähen unter einem Zauber, der sie zwingt, ihre Seele zu offenbaren. Die Körper scheinen unter einer unermesslichen Anspannung zu stehen, die Gesichter sind verzerrt, die Münder stoßen Schreie aus. Der irische Tanz der Musik wird zu einer unheimlichen, beängstigenden Beschwörung. Die Bühne trägt zur unheimlichen Stimmung bei. Rauchtöpfe verbreiten Nebel, ein Lichtkreis erhellt das Geschehen, wird mal größer und mal kleiner, so als ob eine unirdische Wesenheit (die Ursache der Beschwörung?) ihren Fokus ändert. Die Bühne kann eine Lichtung im Wald sein, voll Nebel, aber auch im Glanz von Schnee.

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Foto: Bettina Stöß

Im Verlauf des Stückes verlieren die Figuren langsam immer mehr das Tierhafte, die Bewegungen werden menschlicher, bleiben aber genauso unheimlich, rätselhaft und intensiv. Die verwendeten Stücke von Kate Bush („Sat in your Lap“, „And dream of Sheep“, „Snowflake“, „Among Angels“ und „Get out of my House“) bringen immer neue Emotionen hervor. Die Bilder machen Gänsehaut, ich habe selten eine so emotionale Ausdeutung von Musik (und Wechselwirkung mit der Musik) gesehen. Das Außergewöhnliche und Extravagante von Kate Bushs Musik gewinnt Gestalt in der Tanzsprache von Marco Goecke, Textzeilen spiegeln sich in Bewegungen und Konstellationen wieder, Tanz und Musik kommentieren einander. Es geht ans Herz, wenn zur Textzeile „The world is so loud. Keep falling. I’ll find you“ aus „Snowflake“ sich Paare begegnen und sich fast steif und unbeholfen umarmen. Sie versuchen sich zu finden, aber es gelingt nicht. Sehnsucht und Härte der Musik, Romantik und Aggressivität – alles findet auch Ausdruck im Tanz. „And dream of Sheep“ zum Beispiel ist der Gesang einer Frau, die nach einem Schiffsunglück im Meer treibt und darum kämpft, nicht einzuschlafen. Die Eiseskälte und Verlorenheit hinter dem Lied fand sich in jeder Bewegung auf der Bühne wieder. Marco Goecke kennt Kate Bushs Songs ganz genau, es ist in jeder Minute spürbar. Diese Choreographie ist eine Herzensangelegenheit. Sie lässt einen nicht los, wenn man sie anschaut. Sie ist unheimlich, sie ist bewegend, sie schmerzt. Nicht jeder wird das aushalten können.

Der Beifall des überraschend jungen Publikums fiel enthusiastisch aus. Die Tänzer wurden bejubelt und das Klatschen wollte fast nicht enden. Die Oper Hannover hat eine Compagnie, die die verschiedenen Herausforderungen dieses Abends mit Perfektion, Eleganz und ungeheurer Ausstrahlung fast mühelos meistert. Ein bewegender Abend! © Achim/aHAJ

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