Musik ohne Regeln und ein Hauch von „The Dreaming“

Foto: Orange Ear

Es ist schräg, eigenproduziert, der Titel klingt nach einem Abschied und zu allem Überfluss liegt der Sänger auch noch nackt auf dem Plattencover: „Record full of last Songs“ heißt das Album, das Timo C. Engel unter dem Projektnamen „Bleedingblackwood“ schon 2016 veröffentlicht hat. Zu seligen Forumszeiten noch vor Kates „Aerial“ war Timo als DJ und Sänger unterwegs, arbeitete fürs Radio. „Kate war immer eine riesige Inspiration für mich“, erzählt Timo. „Mit 15 war natürlich in erster Linie die Musik ausschlaggebend und das Coverartwork der Platten. Das sie, ab ‚The Dreaming‘ alles zu Hause im eigenen Studio erarbeitet hat, ist natürlich etwas, was ich erst später zu schätzen wusste. Die Möglichkeit, im eigenen Studio zu arbeiten, herum zu experimentieren, das ist ein Traum, den ja mittlerweile jeder umsetzten kann.“ Genau letzteres hat Timo bei Record full of last Songs“ gemacht und es ist kein Zufall, dass er „The Dreaming“ als Inspirationsquelle nennt. 2006 gab es dann einen Bruch in seinem Leben. „Ich musste raus, brauchte einen Neuanfang. Eigentlich wollte ich auch gar keine Musik mehr machen, aber das ist wie atmen. Man kann mal die Luft anhalten, aber ganz aufhören zu atmen geht ja auch nicht.“ Also hat er wieder angefangen Musik zu machen, als Sänger in Bands, vor allem aber hat er mit Instrumenten herumexperimentiert. 2010 kam dann der endgültige Wechsel: Von Kiel ging‘s nach Berlin. Aber wie macht man Musik und schreibt Songs, wenn „das eigentliche Musikmachen“ gar nicht beherrscht? „Die Songs entstehen unterschiedlich. Ab und zu fange ich einfach an etwas zu summen, nehme das auf, loope das und erarbeite damit einen Song, indem ich da noch mehr Gesangspuren und Variationen darüber singe“, erklärt Timo. Hören kann man das zum Beispiel bei dem Song „Apple Tree Garden“, der noch relativ nah am Demo ist. Wer Timos Stimme hört, wird sich nicht darüber wundern, dass das funktioniert  er setzt sie wie ein Instrument ein und klingt dann bei „Apple Tree Garden“ unerwartet sanft und fast schon nach Bowie. Hinzu kommt aber noch seine ausgesprochene Leidenschaft für Musikinstrumente. Von Freunden hat er sich alte Instrumente schenken lassen und kauft immer wieder neue dazu. Ausgefallen sollten sie sein, also finden sich bei ihm ein altes Spielzeug-Piano, ein Glockenspiel, eine Zither oder ein altes Kuhhorn. Jüngste Neuerwerbung ist eine Ocarina aus Italien. „Das ist eine Tonpfeife, die einen wunderbar warmen, tiefen Klang hat“, erzählt er. Für die Aufnahmen experimentiert er mit den Instrumenten, nimmt Passagen auf, fertigt Loops, überspielt die so lange, bis alles passt. Der Song „I grow a tree“ ist ein schönes Beispiel für diese Vielfalt – da findet sich das Kuhhorn wieder, Glasflaschen, Rasseln mit muschelähnlichen Holzperlen oder aus länglichen, trockenen Bohnen, die Timo aus Afrika mitgebracht hat, ein Bamboophon und vieles mehr. „Ich habe den Großteil des Albums zu Hause in meinem Schlafzimmer unter recht primitiven Bedingungen aufgenommen – oft mit offenem Fenster. Und an manchen Stellen hört man Geräusche von draußen. Ich wohne zwar mitten in Neukölln, aber meine Fenster sind alle zum zweiten Hinterhof raus und wenn man genau hinhört, hört man ab und zu Geräusche vom Hinterhof. Zum Beispiel hat sich ein Krähenschrei in einen Loop bei dem Song ‚You should have known‘ eingeschlichen“, sagt Timo zum Entstehungsprozess seiner Songs. Die sind stellenweise so herrlich schräg, dass die Anklänge an „The Dreaming“ unüberhörbar sind. So kommt beispielsweise beim zweieinhalbminütigen „Last Night Lover“ gefühlt eine Brassband aus New Orleans um die Ecke und spielt den Hochzeitsmarsch für den, von dem nur noch der Geruch in der Bettdecke hängt und längst verschwunden ist. Oder ist es der Trauermarsch des Zurückgebliebenen? Einen Song später ertönt purer Techno-Beat. Bis die Songs soweit waren, war es ein hartes Stück Arbeit. „Irgendwann hatte ich so 25/30 Songideen und ein Freund sagte: Die sind gut. Wie ein vertontes Tagebuch. Mach was damit.‘ Eine andere Freundin sagte mir, du brauchst eine Deadline, sonst werkelst du in zehn Jahren noch daran herum“, erinnert sich Timo. Kurzentschlossen hat er sich die Deadline selbst gesetzt: er tat so, als ob die Songs fertig seien und vereinbarte einen Performance-Abend – einen Monat später. Timo: „Ich wollte alles live machen, also habe ich Freunde gefragt, ob sie das, was ich da eingesungen hatte, nachsingen würden und Lust hätten, in einem Monat aufzutreten.“ Das ist so gut angekommen, dass die gemischte Truppe drei Jahre lang gemeinsam aufgetreten ist. Erst danach ist dann die CD entstanden. Timo: „Der eigentliche Plan war, dass ich alles alleine einspiele und singe. Bei Kate liebe ich, wie sie oft ihre eigenen Backings und Chöre einsingt. Gerade bei solchen Songs wie ‚Mother stands for Comfort‘. Dadurch werden ihre Songs noch mehr ihre eigenen Songs. Aber es war dann einfach zu verlockend Leute zu fragen, die vielleicht noch ein paar Highlights beisteuern.“ Das reicht vom Chor bis zum Theremin, der „singenden Säge“ oder dem besagtem Bambus-Xylophon. „Ich mag es, Dinge zusammen zu bringen, die eigentlich nicht zusammengehören. Da ist dann halt mal ein gesummtes Lied, welches dann plötzlich in einen Trauermarsch, mit Trompeten und Posaunen umschlägt. Ich möchte mich selbst überraschen. Das ist das Schöne am Musikmachen: Es gibt keine Regeln. Du kannst machen, was du willst.“ Und genau das macht er, lässt sich musikalisch auch kaum verorten. Pop? Vielleicht. Experimentell? Bestimmt. „Ich sage ja immer, ich mache Pop. Langsamen, melancholischen Pop. Ich saß letztens mit ein paar Freunden zusammen und irgendwann haben wir unsere Musikrichtung ‚Spooky-Cosy‘ genannt. The Godfathers of Spooky-Cosy.“ Weder gespenstisch noch gemütlich sondern eher energiegeladen und intensiv wird es, wenn Timo in neuer Kombination mit der Cellistin Martina Bertoni auftritt. „Die hatte vorher mit so illustren Leuten wie Blixa Bargeld, Teho Teardo und Alexander Balanescu gearbeitet und war gerade frisch nach Berlin gezogen und hatte praktisch nur ihr Cello dabei. Ich gab ihr meine CD, wir probten einmal und eine Woche später hatten wir unseren ersten Gig. Und seit dem spielen wir zu zweit.“ Auftritte und neue Produktionen füllen ihn im Moment komplett aus. Ein Remix-Album von „Record full of last Songs“ ist in Planung, er schreibt Songs für ein neues Album, plant Videos. Bleiben noch zwei Fragen. Für jemanden, der einen Neuanfang wagt, klingt „Record full of last Songs“ doch eher nach einem Abschied. „Der Name der Platte kam daher, dass ich bei jedem neuen Demo  immer dachte: Das wird der letzte Song, auf der Platte. Das kann nur der letzte Song, auf dem Album werden!“, erzählt Timo.  Und sich nackt auf dem Cover räkeln? Auch das hat eine eigene Geschichte. Ein Freund in Oslo wollte ihn unbedingt malen. Nach mehreren Anläufen war Timo schließlich einverstanden. Als es später dann um die Frage ging, wie denn das Cover aussehen könnte, sagte der Freund nur: Du hast doch schon eins. Timo: „Und natürlich passt gerade die Nacktheit. Für mich ist es das persönlichste, was ich bis dahin musikalisch gemacht hatte. Ich hatte mich praktisch auch da ‚nackt gemacht‘.

Wer mehr über Timo und sein Projekt Bleedingblackwood erfahren möchte, wird hier fündig. Die CD kann man bei bandcamp hören (und bestellen).

1 Kommentar

    • Martina auf 22. Oktober 2017 bei 19:18
    • Antworten

    Wunderbare Songs – so kraftvoll, fast mystisch entrückt. Soul touching!

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