Von Werner Huemer
Freitag, 29. August 2014, Eventim Apollo, Hammersmith, London. Das „Warten auf Kate“ endet um 19.45 Uhr. Pünktlich und unspektakulär marschieren sieben Musiker auf die Bühne und greifen nach ihren Instrumenten. Applaus tost auf. Dann, barfuß (oder jedenfalls schuhlos), langhaarig, in einem dunklen Mantel, Kate Bush selbst. Der Applaus wächst zum Orkan an. Standing ovations als Willkommensgruß für die 56jährige Ausnahmekünstlerin, die nach 35 Jahren für 22 Shows in Folge erstmals wieder auf der Bühne steht, nach einem halben Menschenleben, in dem sie durch ihre wundervolle Musik immer irgendwie, aber nie wirklich präsent war.
Es gibt sie also tatsächlich. Kate Bush ist doch nicht nur die Märchenfee auf vergilbten Bildern und Postern, alten Videos und Plattenhüllen. Die Realität erscheint surreal, die frenetische akustische Umarmung will nicht enden – bis die Musik die gereifte Künstlerin aus der Umklammerung des Publikums befreit:
„Lily“, „Hounds of Love“, „Joanni“, „Running Up That Hill“, „Top of the City“ … Es hat etwas Magisches, diese Titel erstmals live zu hören – und ausgerechnet hier, in jenem Theater, in dem vor 35 Jahren die einzige Konzert-Tournee Kate Bushs gefilmt wurde: Im Londoner „Hammersmith Apollo“ endete die „Tour of Life“ der damals 20-jährigen.
Das Konzert
Die Songs ziehen unmittelbar in den Bann, und ohne Zweifel agieren hier Weltklassemusiker allererster Sahne, jeder für sich eine Solo-Institution, gemeinsam ein Sound-Maschinerie, die den Bush-typischen Bogen von zarter Melodik zu stampfenden Beats, von Jazz- und Klassik-Anklängen bis zu rockiger Ekstase mühelos schlägt. Als Herz der Band pumpt Drummer Omar Hakim seine Rhythmen in den Raum. Er hat mit Jazz- und Popgrößen von Miles Davis bis Michael Jackson, von den Dire Straits bis Madonna, von Bobby McFerrin bis Bruce Springsteen gearbeitet – und selbst schon ein halbes Dutzend CDs veröffentlicht. Hakim gilt international als einer der wichtigsten Schlagzeuger der letzten Jahrzehnte. Unterstützt wird er von seinem französischen Kollegen Mino Cenelu – Percussionist, Komponist, Musikproduzent. An den Keyboards (sowie am Akkordeon und am Dudelsack) agiert Kevin McAlea, der Kate Bush schon 1979 auf ihrer „Tour of Life“ begleitet hatte, am Bass John Giblin (Simple Minds, Peter Gabriel etc.). Und dann wären da noch zwei Spitzen-Gitarristen: David Rhodes (der über viele Jahre mit Peter Gabriel arbeitete) und der isländische Singer-Songwriter Frissi Karlsson, der von José Carreras über Tom Jones bis hin zu Cliff Richard oder Madonna ebenfalls schon mit zahllosen Größen aus der Musikbranche zusammengearbeitet und auch einige Solo-Alben veröffentlicht hat.
Kate Bushs Stimme ist über die Jahre etwas erdiger geworden, harmonisiert mit ihrer weniger ätherisierten, mehr urmütterlichen Erscheinung. Immer wieder Standing ovations, unglaubliche Begeisterungsstürme. Und doch … nach dem vierten oder fünften Titel wächst die Erwartung, dass da noch etwas kommen sollte. Klasse Sound-Orchester, traumhafte Stimme, perfekte Technik – schön und gut. Aber wir erleben hier nicht nur ein herausragendes Popkonzert. Das ist Kate Bushs Welt. 1979 setzte die 20-Jährige mit ihrer damaligen Bühnenshow für zwei Künstlergenerationen Standards. Jeder einzelne Song eine Inszenierung, eine Mischung aus Musik, Tanz, bunt schrägen oder einfach bezaubernden Requisiten. Sollte es diesmal bei einem simplen Konzert bleiben?
The Ninth Wave
„King of the Mountains“ folgt – Kate Bushs eigenwillige Erinnerung an Elvis Presley. Aber dann, am Ende des Songs – „the wind ist whisteling“ –, wirbeln mächtige Wind- und Nebelmaschinen kleine Zettelchen von der Bühne in den Raum. Ein Gedicht des britischen Poeten Lord Alfred Tennyson (1809–1892) ist darauf zu lesen: die alte Seemannserzählung von der „neunten Welle“. Auf stürmischer See wächst Welle um Welle an, bis die letzte, überwältigend große, die neunte, sich langsam erhebt und brüllend zusammenstürzt – „und die Welle war in Flammen“ … „The Ninth Wave“ – ein Zyklus aus Kate Bushs frühem Meisterwerk „Hounds of Love“.
Das Vorspiel ist zu Ende, die Show beginnt. „And Dream of Sheep“ … „Under Ice“ … „Waking The Witch“ … „Watching You Without Me“ … „Jig of Live“ … „Hello Earth“ … „The Morning Fog“ – die Geschichte einer Frau, die nach einem Schiffsunglück auf offener See ums Überleben kämpft, sich im Ertrinken aus ihrem Körper löst und sich bei ihrem Sohn (gespielt von Bushs Sohn Bertie McIntosh) als „Poltergeist“ meldet – musikalisch in prächtige, erweiterte Arrangements gekleidet. Und optisch: Eine unvergleichliche, schlicht atemberaubende Collage aus Theater-, Film- und Musikelementen. Da schwirrt ein Teil der Beleuchtung als Suchhubschrauber durch den Saal; eine Filmzuspielung (gedreht in der Wasserbühne der durch die James-Bond-Produktionen bekannten „Pinewood“-Studios) zeigt die Protagonistin, wie sie auf offener See treibt (Kate Bush singt im Wasser übrigens „live“, also ohne Playback); ein grandioses Bühnenbild geht ins nächste über, die Leinwand zeigt die Realität, die Bühne den Traum; Lichtbänder und Lichtwolken tragen Rhythmen, Melodien und Chöre und umgekehrt. Eine einstündige kreative Explosion, für die neben dem Regie-Duo Kate Bush und Adrian Noble (ehemaliger Chef des Theaterensembles der „Royal Shakespeare Company“) der Set Designer Dick Bird (der als Ausstatter international schon zahlreiche Opern-, Theater- und Ballettproduktionen kreiert hat), die Kostümbildnerin Brigitte Reiffenstuel (tätig unter anderem für die Metropolitan Opera New York) sowie der renommierte Licht-Designer Mark Henderson (er betreute unter anderem zahlreiche West-End- und Broadway-Produktionen) verantwortlich zeichnen.
Wunderbarerweise lenkt der ungeheure szenische Aufwand nicht im Geringsten von der Musik ab, sondern führt, ganz im Gegenteil, mitten in sie hinein. „Kate sieht ihre Musik ebenso, wie sie sie hört“, sagt Tim Walker, der die Szenen für das Programmheft fotografierte. „,Before the Dawn‘ erlaubt dem Publikum einen Einblick in das, was Kate sah, als sie die Musik komponierte.“
Immer wieder Szenenapplaus und Standing Ovations … bis die „neunte Welle“ schließlich abebbt. Eineinhalb Stunden sind vorüber, eine übliche Konzertlänge. Aber diese Show geht erst in die Pause. Rechts oben ist eine überdimensionale Feder an den Bühnenvorhang projiziert. Wir haben das Element Wasser verlassen, nun steht wohl ein „luftiger“ zweiter Konzertteil bevor – und lässt mich vorsichtig auf das eigentlich Unvorstellbare hoffen, das bisher Erlebte könnte noch einmal überboten werden. Denn Kate Bushs spätes Meisterwerk „Aerial“, das sich damit ankündigt, gehört für mich zum Allerschönsten, was in den letzten Jahrzehnten komponiert wurde.
A Sky of Honey
Aber wie kann man Luft in Szene setzen? In „Sky of Honey“, einem Teil ihres Doppelalbums „Aerial“, erzählt Kate Bush von der Verbindung zwischen dem Licht und dem Gesang der Vögel. Warum, fragt sie sich, löst das Morgenlicht das Singen aus? Und warum endet es, wenn das Licht am Abend stirbt? „Sky of Honey“ erzählt auch von der Faszination der Naturbeobachtung. Von den Empfindungen, die der Zauber des Lebens erweckt. Von einem Maler, der die Farben des Lichts an seine Leinwand heftet, bis der Regen sie zärtlich mit sich spült. Von dem Menschen, der die Natur wie Peter Pan mit kindlichem Gemüt als Märchenwelt erlebt, Moment für Moment.
„Prelude“ … „Prolog“ … „An Architect’s Dream“ … „The Painter’s Link“ … „Sunset“ … „Aerial Tal“… „Somewhere in Between“ … „Nocturn“ … Magische Ruhe im Einklang mit hypnotisierender Intensität … möge diese Musik, mögen diese Lichtfluten nie enden! Etwas wie Ergriffenheit, vielleicht auch Ratlosigkeit lagert über dem Publikum. Applaus, Standing Ovations, Bravo-Pfiffe … nichts würde diesen Augenblicken gerecht. Es gibt keine adäquate Reaktion, nur das Staunen bleibt. Wir alle sind Peter Pan.
Auf der Bühne tappt, lugt, tanzt Peter als kindgroße Holzpuppe vor der Leinwand des Malers und zwischen den Musikern umher. Alles ist eins. Hochzeit von Künstlern und Publikum. Den Maler Ivan Aivazovsky spielt und singt Bertie McIntosh. Kate Bush hat ihrem Sohn mit „Tawny Moon“ ein eigenes Stück geschrieben.
Vielleicht tatsächlich noch grandioser als im ersten Teil des Abends wirkt im Songzyklus „Sky of Honey“ das Sounddesign von Greg Walsh. Der renommierte Toningenieur und Musikproduzent hat mit Luciano Pavarotti ebenso gearbeitet wie mit Tina Turner oder Pink Floyd. Sein Name ist auf mehr als 50 Millionen Tonträgern zu finden. Nicht allein Kate Bush liebt die Perfektion. Und wenn sie hier, „ehe der Morgen dämmert“, gemeinsam mit den Vögeln lacht und „Aerial“ schließlich in einem finalen musikalischen Showdown endet (wobei Kate Bush selbst vom Bühnenboden abhebt; aber über solche Momente wird sich zu diesem Zeitpunkt wohl niemand mehr gewundert haben), dann braucht dieses Live-High-Tech-Surround-Erlebnis klanglich in keinem Moment den Vergleich mit Bushs Studioalben zu scheuen.
Dann, nach fast drei Stunden Show, schließt sich der Himmel aus Honig. Noch einmal entladen sich die Emotionen. Rufe, Pfiffe, Getrampel in fast unerträglicher Lautstärke. Es gibt jetzt keine 40-, 50- oder 60-Jährigen mehr im Saal, es gibt nur noch diesen alle Alter vereinenden Moment.
Und dann noch einen.
In Search of Peter Pan
Kate Bush setzt sich für eine Zugabe allein an den Flügel – oder ist es gar keiner? Irgendwann während der Stürme der letzten Stunde muss sich irgendwie ein Baum durch das Instrument gebohrt haben. Mir wird dieses Detail der Show erst jetzt bewusst … viele andere sind mir wahrscheinlich ganz entgangen. Also ein Klavier mit Zubau? Egal. Völlig gleichgültig, denn die Show ist zu Ende. Nur noch eine feine Stimme durchdringt den Raum. Überirdisch. Kate Bush singt „Among Angels“ ganz im Stil der Klavier-Solostücke ihrer ersten beiden Alben – ausdrucksstark, nuancenreich, weich und höhensicher. Und das nach dieser Tour de force. Unglaublich.
„Cloudbusting“, noch einmal gemeinsam mit Band und Chor (hatte ich den erwähnt?), schließt den Abend ab. Chor sind nun Tausende. Jeder kennt den Song. „I just know that something good is gonna happen“. Ja, ohne Zweifel.
Was bleibt? Gefilmt und fotografiert habe ich, dem Wunsch der Künstlerin entsprechend, nicht. Kate Bush bat schon im Vorfeld ihrer Shows, wie es eine Journalistin sinngemäß formulierte, „in der nettesten Art“, darum, iPhones und iPads, Foto- und Filmkameras ausgeschaltet zu lassen, um ganz den Moment erleben zu können. Auch in den internationalen Fernsehberichten zur Premiere waren keine Live-Bilder zu sehen, und die wenigen YouTube-Schnipsel waren bald wieder aus dem Netz verschwunden.Jedenfalls bleibt die Erinnerung an ein in seiner Schönheit nachhaltig berührendes Gesamtkunstwerk. „Ich habe nur zweimal geweint“, behauptete ein Musikjournalist nach der Show. Das war wohl feiner britischer Humor. Oder können Männer wirklich so hart sein?
Und es bleibt das Programmheft. Ein kleiner 15-Pfund-Luxus, den ich mir als Erinnerungshilfe geleistet habe. Erst jetzt, nach Tagen, entdecke ich, dass die „Background“-Berichte in dem Heft tatsächlich – auch drucktechnisch – einen „Hintergrund“ haben. Die Blätter dieses Heftteils sind gefaltet gebunden, die Rückseiten erscheinen auf den ersten Blick nur ganzflächig schwarz. Wer genauer hinschaut, kann in diesem versteckten Druck allerdings ein paar Grafiken und Textzitate erspähen. Doch müsste man die Seitenkanten mit dem Messer aufschneiden, um die „inneren Geheimnisse“ des Progammheftes genau sehen zu können. Damit würde man es zerstören.
Ein schönes Gleichnis. Der wahre Peter Pan muss nicht alles beleuchten und analysieren. Er lässt das Geheimnis einfach Geheimnis sein, unzerstört. Und bewahrt es damit für immer.
„Before the Dawn“ wird ein großes Geheimnis bleiben.
(Mit freundlicher Genehmigung von Werner Huemer.)
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