Damals musste man noch Personen fragen, um an Informationen zu kommen. Daran, an damals, liebe Leser, wird sich manch einer von Ihnen noch erinnern, oder? Damals, als es das Internet noch nicht gab. Wenn man was wissen wollte, musste man jemanden fragen oder ein Lexikon zur Hand nehmen… „Was ist denn der Kailash?“ Dafür hätte man im Lexikon nachschlagen können und vermutlich folgende Antwort erhalten: Der Kailash oder Kailas ist ein seine Umgebung deutlich überragender Berg im Gangdisê-Gebirge, dem westlichen Teil der Gebirgszüge des Transhimalaya im Autonomen Gebiet Tibet der Volksrepublik China.
Für „Haben Sie schon das neue Album von Kate Bush?“ hätte es kein Lexikon gegeben. Für diese Art Fragen hätte man damals noch den Herrn im Schallplattenladen zu Rate ziehen müssen.
Spulen wir zurück. Wusch -> Wir schreiben das Jahr 1981.
M.M., eine liebe Freundin, damals wie heute – sie werden im Verlauf diese Kolumne noch ein wenig mehr von ihr erfahren – erzählte dem Herrn Böttcher, sie habe im Radio ein neues Lied von Kate Bush gehört. Neues Lied? Von Kate? Logo! Wieso auch nicht? Zwar bedauerte Herr Böttcher, der damals noch Schüler war, das Lied noch nicht mit eigenen Ohren gehört zu haben, aber die Vorfreude darauf war umso größer. Er musste nur noch in den Plattenladen eilen, um das neueste Kate-Bush-Erzeugnis zu erwerben. Aus heutiger Sicht „Wow! wow! wow! wow! wow! wow! unbelievable!“, aber wir befinden uns in einer Zeit, in der Kate Bush noch regelmäßig und in kurzen Abständen den Musikmarkt bediente. The Kick Inside (1978), Lionheart (1978), Never for Ever (1980). Also, warum nicht im Juni 1981 ein neues Album? Wurde ja auch Zeit. Aus damaliger Sicht hätte man sich im Leben nie vorstellen können, dass man irgendwann als wahrer KB-Fan zum Wartenden mutiert. M.M. hatte die frohe Botschaft beiläufig beim Telefonieren am Samstagabend unterbreitet. Herr Böttcher freute sich also kolossal. Nur noch den ganzen Sonntag warten, dann Schule, dann auf dem Nachhauseweg durch die Innenstadt. Er kam sowieso täglich am Plattenladen – nennen wir ihn „Schallplatten Fies“ – vorbei.
Schulschluss.
Im Stechschritt zu Schallplatten Fies.
Tür auf.
Tür zu.
Schüler Herr Böttcher: „Schönen guten Tag! Haben Sie schon das neue Album von Kate Bush?“
Herr Fies: „Kate Bush? Soll es da was Neues geben? Nein. Haben wir noch nicht.“
Tür auf.
Tür zu.
Enttäuschung pur.
Nun, Schallplatten Fies hatte damals noch im Sortiment den Schwerpunkt auf deutsche Schlager gelegt. Dann eben zurück in die Plattenabteilung des damals größten Kaufhauses vor Ort, zu Schwertie. Aber auch bei Schwertie konnte man dem Schüler Herrn Böttcher nicht weiterhelfen. Die Verkäuferin dort wusste zudem – im Gegensatz zu Herrn Fies – mit dem Namen Kate Bush nichts anzufangen.
Neuer Tag, neues Glück.
Im Stechschritt zu Schallplatten Fies.
Tür auf.
Tür zu.
Schüler Herr Böttcher: „Schönen guten Tag! Haben Sie denn heute das neue Album von Kate Bush?“
Herr Fies: „Guten Tag! Nein. Haben wir noch nicht.“
Tür auf.
Tür zu.
Nächster Tag, wieder neues Glück.
Wieder im Stechschritt zu Schallplatten Fies.
Tür auf.
Tür zu.
Schüler Herr Böttcher: „Schönen guten Tag! Aber heute haben Sie doch das neue Album von Kate Bush?“
Herr Fies: „Nein. Haben wir heute auch noch nicht. Guten Tag!“
Tür auf.
Tür zu.
Abstecher zu Schwertie. Ebenso erfolglos. Wieder zu spät zum Mittagessen. Damals gab es eben noch nicht das Internet.
Was Schüler Herr Böttcher nicht wissen konnte: Kate Bush veröffentlichte zwar am 21. Juni den Song „Sat In Your Lap“, das Album „The Dreaming“, auf dem sich „Sat In Your Lap“ befinden sollte, kam erst ein Jahr später, nämlich am 26. Juli 1982 heraus.
Was der Herr Böttcher aus dem Jahr 2014 nicht genau sagen kann ist: Konnte man 1981 die Singleauskopplung schon vorweg kaufen? Das kann gut sein. Bei Schallplatten Fies jedenfalls nicht. Schüler Herr Böttcher hatte aber auch nicht nach der Single gefragt, sondern nach dem Album. Tut für den weiteren Verlauf der Geschichte auch nichts zur Sache. Schüler Herr Böttcher war jung und in freudiger Erwartung, dass demnächst das neuste Album von Kate Bush erscheinen würde. Schüler Herr Böttcher hatte damals noch keine Stereoanlage, sondern den vermachten Mono-Musikschrank seiner Eltern, auf dem er viele Jahre seine Märchenplatten gehört hatte. Wenn man wollte, konnte man die Platten über dem Plattenteller stapeln und es krachte immer die nächste Scheibe auf die vorherige herunter, nachdem sie abgespielt war. Bei Märchenplatten bot sich das wegen des Verlaufs der Story nicht so richtig an, aber Musiksingles wurden gestapelt und Schüler Herr Böttcher konnte es richtig krachen lassen. Man konnte den Plattenstapelstab auch durch einen kürzeren ersetzen, dann hatte man einen ganz normalen Plattenspieler, nur eben im Schrank, den man zumachen musste, und nur mit einer Lautsprecherbox, mono, unten links im Gehäuse des nussbraunen Konstrukts. Die erste Stereoanlage kam erst nach „The Dreaming“ aber das ist – mit Michael Ende gesprochen – eine andere Geschichte.
Tür auf.
Tür zu.
Schüler Herr Böttcher: „Schönen guten Tag! Haben Sie das neue Album von Kate Bush?“
Herr Fies: „Nein. Haben wir noch nicht.“
Tür auf.
Tür zu.
So ging das nun ein paar Wochen jeden Tag. Und weil Schüler Herr Böttcher gelegentlich auch mal eine Schallplatte kaufte, beispielsweise zu Weihnachten eine von Mireille Matthieu für die Großmutter, gab Herr Fies, wenn Schüler Herr Böttcher nach der neuen Kate Bush fragte, bereitwillig Auskunft, die da lautete: „Nein. Haben wir noch nicht.“ Es war außerdem die Hochkonjunktur der Neuen Deutschen Welle: Rheingold, Fehlfarben, Grauzone und viele andere musikalische Entdeckungen wurden bei Schallplatten Fies von Schüler Herrn Böttcher gekauft.
So ging das Trauerspiel über viele Monate weiter.
Tür auf.
Tür zu.
Enttäuschung pur.
Es mag sein, dass die Besucherfrequenz des Plattenladens im Laufe der Zeit etwas abnahm und Schüler Herr Böttcher nur noch jeden zweiten oder dritten Tag zu Herrn Fiesens Erleichterung fragte: „Haben Sie schon das neue Album von Kate Bush?“ Aber Schüler Herr Böttcher fragte ziemlich oft und möchte sich an dieser Stelle bei Herrn Fies für dessen Geduld bedanken. Vermutlich ist er mittlerweile auch ein Kate-Bush-Fan? Das muss doch was mit einem machen, wenn einem täglich die Frage: „Haben Sie schon das neue Album von Kate Bush?“ gestellt wird.
Finale:
Im Stechschritt zu Schallplatten Fies.
Tür auf.
Tür zu.
Schüler Herr Böttcher: „Schönen guten Tag! Haben Sie schon das neue Album von Kate Bush?“
Angestellte von Herrn Fies: „Ja. Ist heute reingekommen. Habe ich gerade einsortiert. Müssten Sie mal schauen. Bei Rock/Pop unter B wie Bush.“
Erstarrung beim Schüler Herr Böttcher. Hin zum Fach Rock/Pop. Dann hielt im Jahre 1982 Schüler Herr Böttcher das neue Album „The Dreaming“ von Kate Bush in den Händen – nach über einem Jahr Enttäuschung pur. Den Rest kann jeder halbwegs normale Kate-Bush-Fan sich denken. I wait at the table, and hold hands with weeping strangers, wait for you to join the group. The tambourine jingle-jangles. The medium roams and rambles. Not taken in, I break the circle. LG, Herr Böttcher
Herr Böttcher fährt nach London. Zu Kate. Und wir begleiten ihn. Oder er uns.
Alle Kolumnen von Herrn Böttcher gibt es hier.
1 Kommentar
Genau so war das!!