Das Song-ABC: In Search Of Peter Pan

Ich vermute, selbst wenige Fans von Kate Bush haben diesen Song schon mal aufmerksam angehört. Es ist einer der „Nebensongs“ auf „Lionheart“, ihrem unterschätztestem Album. Ich gebe zu, mir ging es ebenso. Ich habe ihn zuerst für eine Kleinigkeit gehalten, ein Stück, das man so im Vorbeigehen hört und über das man nicht tiefer nachdenkt. Ich bin in guter Gesellschaft, auch den Biographen fällt nichts zu ihm ein. Was kann ich über diesen Song schon schreiben, so mein Gedanke. Was für eine Fehleinschätzung! So wie man die Schönheit eines kleines Veilchens auch erst bemerkt, wenn man näher hinschaut, so ist es auch bei diesem Song.
„Lionheart“ ist voller schöner, melancholischer Lieder, alle etwas zurückgenommen im äußeren Ausdruck, mehr innerlich. Es fehlt das vordergründig Spektakuläre. „In Search of Peter Pan“ ist der zweite Song auf dem Album. Es ist ein älterer Song, keine Neukomposition für das Album. Kate Bush schrieb nur drei neue Songs für „Lionheart“. Sie musste ältere Songs verwenden, da zwischen der Veröffentlichung von „The Kick Inside“ im Februar 1978 und der Veröffentlichung von „Lionheart“ am 13. November nur eine kurze Pause bestand [9]. Viele schließen von „älterer Song“ auf „Resteverwertung, also nicht so gut“, aber das ist ein Fehlschluss. Er passte in seinem sublimen Stil einfach nicht in die exaltierte Welt des ersten Albums.
Wie so oft zeigt sich Kate Bush auch hier von Literatur, Film und Fernsehen beeinflusst. Hier geht es um den Peter Pan, der immer jung bleiben will, wie Kate Bush sagt: „I refer to Peter Pan because he stands for a lot of things. He always has and he always will. People just don’t want to grow up, so I think he’s everyone’s favourite whether they like it or not.“ [1]
Der Titel mit seiner Reminiszenz an Peter Pan suggeriert erst einmal etwas Unschuldiges, aber der Song ist durchzogen von Dunkelheit. Kate nimmt hier die Perspektive eines Jungen ein – „When I am a man“ deutet darauf hin. Der Text zieht einen mit Wucht hinein in eine Situation: „Running into her arms / At the school gates / She whispers that I’m a poor kid / And Granny takes me on her knee / She tells me I’m too sensitive / She makes me sad / She makes me feel like an old man“ [3]. Es geht um das Verlieren der Unschuld beim Erwachsenwerden, um das verlorene Paradies, um das Auswischen der Unbefangenheit und Reinheit durch die Erwartungen der Umgebung, so sagt es Kate Bush selbst: „There’s a song on it called „In Search of Peter Pan“ and it’s sorta about childhood. And the book itself is an absolutely amazing observation on paternal attitudes and the relationships between the parents – how it’s reflected on the children. And I think it’s a really heavy subject, you know, how a young innocence mind can be just controlled, manipulated, and they don’t necessarily want it to happen that way. And it’s really just a song about that.“ [2]
Die Umgebung, in der ein Kind aufwächst, beeinflusst das Kind und zerstört die unschuldige Kind-Welt, das ist das Thema. Gibt es einen Weg hinaus? Kann man beim Erwachsenwerden etwas von dieser Kind-Welt retten? Darüber singt Kate Bush in diesem Song. Dabei nimmt sie Peter Pan und seine Geschichte als Ansatz. Der Schriftsteller James Matthew Barrie ließ sich bei der Namensgebung für Peter Pan von Pan, einem Gott der griechischen Mythologie, inspirieren [8]. Dieser Gott „repräsentiert die Natur oder den natürlichen Zustand des Menschen im Gegensatz zur Zivilisation und den Auswirkungen der Erziehung auf das menschliche Verhalten“ [8]. Peter Pan weigert sich, erwachsen zu werden. Er steht für die Kindheit als endlosen Zustand und das sich aktive Auflehnen gegen das Erwachsenwerden. Kate Bush hat diesen Song in einem Alter geschrieben, in dem sie wohl selbst voll in diesem Prozess stand. Ihr in diesem Song gewählter Weg unterscheidet sich aber von dem Peter Pans: Im Chorus bekräftigt sie ihren Wunsch, erwachsen zu werden. Sie will aber irgendwann Peter Pan finden und auf diese Weise der Falle des Erwachsenenlebens entkommen.

Das Leben ist für Kate Bush kein ewiges Nimmerland. Es ist naiv zu glauben, dass man für immer an kindischen Dingen festhalten kann. Aber die kindliche Welt ist ein wichtiger Teil ihrer Welt, diese Welt stellt eine Alternative zur Eintönigkeit des Erwachsenseins dar. Deswegen möchte sie den Zugang nicht verlieren. „In Search of Peter Pan“ ist voll von jugendlichem Schmerz. Zu Beginn des Songs hat der Protagonist (dass es ein Junge ist, erweist sich erst im Chorus) aufgegeben und erklärt, keine Zukunft mehr zu sehen – „I no longer see a future“. Jeder muss seinen eigenen Ausweg, Fluchtweg finden. Für Dennis, einen Freund des Protagonisten, besteht es darin, sich schön zu finden – „Dennis loves to look / In the mirror / He tells me that he is beautiful“ und ein Foto seines Helden als Talisman zu haben – „He’s got a photo / Of his hero / He keeps it under his pillow“. Das ist eine Flucht ins Äußerliche, für mich nimmt Kate Bush hier den Instagram/Influencer-Weg visionär vorweg. Der Blick von Kate Bush aber geht ins Innere. Die eigene Phantasie ist eine Zuflucht.  Ganz zum Schluss fügt Kate Bush einige Zeilen aus dem Soundtrack des Disney-Films „Pinocchio“ hinzu: „When you wish upon a star / Makes no difference who you are / When you wish on a star / Your dreams come true“.  Es ist einer der ganz seltenen Fälle, dass Kate Bush in ihrer Musik andere Musik zitiert, auf die besondere Bedeutung dessen werde ich noch zurückkommen. So für sich genommen fügt es es dem Song eine poetische Farbe hinzu. Um die Bedeutung dieses Zitats später in der musikalischen Analyse erfassen zu können, ist seine Herkunft zu beleuchten. „When You Wish upon a Star“ wurde im Jahr 1940 von Leigh Harline und Ned Washington geschrieben. In der Fassung von Cliff Edwards gewann es für den Disney-Film „Pinocchio“ den Oscar in der Kategorie Bester Song [6]. „Im Film singt Jiminy Grille zunächst das Lied, das davon handelt, dass Wünsche wahr werden, um danach die Geschichte von Pinocchio zu erzählen. Das Lied wurde im Laufe der Jahre zu einem Erkennungszeichen von Disney und wurde in den 1950er und 1960er Jahren als Titelmelodie der Disney-Fernsehshows verwendet. Auch heute wird das Lied im Vorspann von Disney-Filmen verwendet als Teil der Logo-Animation“ [6]. Hört man „In Search of Peter Pan“, dann fällt einem die Intimität auf, die zarte Gestaltung, aber auch die feinen Abstufungen im Ton. Es gibt keine große Melodie, es sind nur kleine musikalische Motive, die zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. Der Gesang von Kate Bush ist Ausdruck pur.
In der musikalischen Analyse des Songs beziehe ich mich auf die vorliegende Partitur [3], die Bedeutung der Tonarten orientiert sich an Beckh [4]. Wie so oft bei Kate Bush sind die Tonarten unglaublich sensibel eingesetzt. Der Song ist im reinen, unaufgeregten 4/4-Takt gehalten. Nach einer Klaviereinleitung beginnt das Lied mit der ersten Strophe, träumerisch und melancholisch. Notiert ist das ohne Vorzeichen, nüchtern und erdgebunden. Die Tonart ist ein a-Moll, die Musik beginnt und endet mit diesem Akkord. A-Moll ist eine schwermütige, poetische Tonart. Sie steht für die romantische Zwienatur, die Zwielicht-Natur, es ist die Sehnsuchtstonart. Der Protagonist fühlt sich in seinem Leben nicht richtig zuhause, sehnt sich nach der Freiheit der Jugend, die Tonart passt. Zu „[…] sensitive, she makes me sad“ kommt ein Gis in der Melodie dazu, dazu ertönt der E-Dur-Akkord. Das ist auf einmal für einem Moment ein E-Dur. E-Dur, das ist die wärmste aller Tonarten, sie steht für Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit, Liebeswärme. Dieser Akkord genau zu „sensitive“ sagt aus, was dem Protagonisten im Inneren auszeichnet: Herzensinnerlichkeit. Das ist das, was er beim Erwachsenwerden nicht verlieren will.
Im Chorus klingt die Musik entschiedener, aufgeregter, rhythmischer, die Stimme klingt erwartungsvoller. Unterstrichen wird das musikalisch dadurch, dass die Harmonik allmählich in immer weiter entfernte Tonarten wechselt. Die Chorus-Zeilen haben nichts mit der rauen Realität zu tun. In dieser „Drift“ der Tonarten geht es auf kleinem Raum vom a-Moll der Realität über G-Dur und h-moll zu cis-Moll immer weiter weg von a-Moll und dann über h-Moll wieder zurück. Das muss man sich Stück für Stück anschauen. „They took the game right out of me“ steht in G-Dur, ein Fis kommt als Melodieton dazu. Das ist eine Übergangstonart, noch nah an a-Moll, es ist die Tonart der Dominante der Dur-Parallele. Hier ist der Protagonist noch halb in der Realität, aber fühlt sich schon anders, es ist eine Art Erkenntnis. G-Dur ist die sprießende Blütenfülle der Maienzeit, das Sprießende, Blühende überhaupt, die Liebesoffenbarung im Werden der Natur. Ist es das, was „out of me“ gerissen wird? Ist das die Erkenntnis? Die Interpretation der nächsten Passage ist einfacher.

„When I am a man“ steht in h-Moll – der h-moll-Akkord ist da, Cis und Fis kommen als Melodietöne dazu. H-Moll – Empordringen, Emporstürmen mit Abgrundgefahr, das sich erheben wollen aus den Abgründen. Man merkt an dieser Tonart die Entschiedenheit, aus dem „Abgrund“ des Erwachsenseins auszubrechen, zu kämpfen. Danach folgt ein Takt ohne Gesang nur mit dem A-Dur-Akkord. Der Akkord ist ein Übergangsakkord, gehört sowohl zu h-Moll als auch zu cis-Moll. Das wirkt wie ein Nachsinnen, ein Innehalten. A-Dur ist die Tonart der Lichteshöhen, sie symbolisiert das Lichte, Überirdische. „When I am a man“ war der Aufbruch, nun ist die Höhe der Erkenntnis erreicht. Weiter geht es: „I will be an […]“ steht in cis-Moll. Der cis-Moll-Akkord ist da, in der Melodie kommen die Töne Cis, Dis und Fis dazu. Cis-Moll, leuchtende Schönheit und Wärme, in ein Element von Schwermut und Sehnsucht getaucht. Diese Tonart eröffnet alle in unseren Herzen verborgenen Quellen der Sehnsucht. „I will be an“: das ist der Wunsch, der Traum, der Wille, die Erfüllung der Sehnsucht. Jetzt hat sich die Musik dem Traum voll geöffnet, harmonisch geht es jetzt wieder zurück. „ […] astronaut and find peter pan / Second star on the right / Straight until morning“ steht wieder in h-Moll, Fis und Cis sind Melodietöne. „Second star …“ ist ein Chor, von Kate gesungen, wie aus der Ferne. Es klingt wie eine Wegweisung. Wir sind wieder in h-Moll, beim Empordringen, Emporstürmen mit Abgrundgefahr, beim sich erheben wollen aus den Abgründen. Auch nach dem Erreichen der Erkenntnis geht die Suche weiter. Das Schluss-Zitat aus „When you wish upon a star“ steht wieder in a-Moll. Wir sind wieder in der Realität. Dieses Pinocchio-Zitat wird von Kate Bush gesungen, wie aus der Ferne. Zum Schluss verlässt die Melodie das Zitat und geht hinab in die Tiefe, sie verschwindet förmlich. Was hier in diesem Schluss passiert, das ist schon ganz besonders. Im Original steht das zitierte Lied in E-Dur und nicht in Moll [5]. E-Dur hatten wir schon einmal kurz bei „sensitive“, das ist die wärmste aller Tonarten, sie steht für Herzenswärme, Herzensinnerlichkeit, Liebeswärme. Dieser Optimismus ist nun ins Melancholische gekehrt. Was bedeutet das für das „When you wish upon a star / Your dreams come true“? Um einen Stern zu erreichen, muss ein realistischer Mensch Astronaut werden, das wünscht sich der Protagonist auch. Sie nimmt das zuckersüße Disney-Markenzeichen und taucht es in Realismus.
Christine Kelley hat das sehr treffend beschrieben: „This is the Disney theme song, the saccharine aphorism on which their brand is constructed. Bush is quoting the most fantastical idea of childhood possible. Yet she takes this overused quote and turns it into the song’s most interesting musical moment. She sings the quote in a minor key, slowly descending as she does it. It’s not a straight quote; Bush outright warps the song. As Bush won’t pretend childhood is without pain, depictions of it must reflect some kind of wrongness and pain.“ [7] Das „Your dreams come true“ wird durch diese Wendung nach Moll und dieses Herabsinken der Melodie ins Ungewisse gezogen. Ist das nun eine gute oder eine schlechte Botschaft, die Kate Bush uns da mitgibt? Es ist auf jeden Fall so, dass man für seine Wünsche arbeiten muss. Zumindest muss man wohl eine Art Seelen-Astronaut werden! Ich finde es ganz wunderbar: In diesem zurückhaltenden Lied steckt Magie, kindliches Staunen und Schönheit. Nuancen verstecken sich auf kleinstem Raum. In diesem Lied verbirgt sich eine Botschaft an uns: ja, Träume können wahr werden, aber nicht einfach so. Tu etwas dafür! Glaube nicht an die zuckersüßen Versprechen der Disney-Welt! © Achim/aHAJ

[1] „With Love from Kate“ & Interview, Kate Bush Club Ausgabe 5, 4/1980.
[2] Lionheart Promo Cassette. EMI Canada
[3] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.103f
[4] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.78f (a-Moll), S.136f (A-Dur), S.182 (h-Moll), S.216 (G-Dur), S.263 (E-Dur)
[5] https://www.fingerstyle-guitar-today.com/when-you-wish-upon-a-star-fingerstyle-guitar-ta.html (gelesen 11.03.2023)
[6] https://de.m.wikipedia.org/wiki/When_You_Wish_upon_a_Star (gelesen 11.03.2023)
[7] https://katebushsongs.wordpress.com/2019/04/12/in-search-of-peter-pan/ (gelesen 03.02.2023)
[8] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Peter_Pan (gelesen 01.04.2023)
[9] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.142

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