16./30.11.2018
Remastered Vinyl I – IV
Vinyl I: The Kick Inside, Lionheart, Never For Ever, The Dreaming
Vinyl II: Hounds of Love, The Sensual World, The Red Shoes
Vinyl III: Aerial, Director’s Cut, 50 Words for Snow
Vinyl IV:
12″ Mixes: Running Up That Hill (A Deal With God), The Big Sky (Meteorological Mix), Cloudbusting (The Orgonon Mix), Hounds Of Love (Alternative Mix), Experiment IV (Extended Mix).
The Other Side I: Walk Straight Down The Middle, You Want Alchemy, Be Kind To My Mistakes, Lyra, Under The Ivy, Experiment IV, Ne T’Enfuis Pas, Un Baiser D’Enfant, Burning Bridge, Running Up That Hill (A Deal With God) 2012 Remix.
The Other Side II: Home For Christmas, One Last Look Around The House Before We Go, I’m Still Waiting, Warm And Soothing, Show A Little Devotion, Passing Through Air, Humming, Ran Tan Waltz, December Will Be Magic Again, Wuthering Heights (Remix / New Vocal from ‘The Whole Story’).
In Others Words: Rocket Man, Sexual Healing, Mná na hÉireann, My Lagan Love, The Man I Love, Brazil (Sam Lowry’s First Dream), The Handsome Cabin Boy, Lord Of The Reedy River, Candle In The Wind.
16./30.11.2018
Remastered Part I + II
CD-Box I: The Kick Inside, Lionheart, Never For Ever, The Dreaming, Hounds of Love, The Sensual World, The Red Shoes.
CD-Box II: Aerial, Director’s Cut, 50 Words for Snow, Before the Dawn (Original Mastering) 12″ Mixes, The Other Side 1, The Other Side 2, In Others‘ Words
25.11.2016
Before The Dawn
CD 1: Lily – Hounds of Love – Joanni – Top of the City – Never Be Mine – Running Up That Hill – King of the Mountain
CD 2: Astronomer’s Call (Spoken monologue) – And Dream of Sheep – Under Ice – Waking the Witch – Watching Them Without Her (dialogue) – Watching You Without Me – Little Light – Jig Of Life – Hello Earth – The Morning Fog
CD 3: Prelude – Prologue – An Architect’s Dream – The Painter’s Link – Sunset – Aerial Tal – Somewhere In Between – Tawny Moon – Nocturn – Aerial – Among Angels – Cloudbusting
18.11.2011
50 Words For Snow
Snowflake – Lake Tahoe – Misty – Wild Man – Snowed In At Wheeler Street – 50 Words For Snow – Among Angels
13.5.2011
Director’s Cut
Flower Of The Mountain – The Song Of Solomon – Lily – Deeper Understanding – The Red Shoes – This Woman’s Work – Moments Of Pleasure – Never Be Mine – Top Of The City – And So Is Love – Rubberband Girl
7.11.2005
Aerial
A Sea Of Honey: King Of The Mountain – Pi – Bertie – Mrs. Bartolozzi – How To Be Invisible – Joanni – A Choral Room
A Sky Of Honey: Prelude – Prologue – An Architect’s Dream – The Painter’s Link – Sunset – Aerial Tal – Somewhere In Between – Nocturn – Aerial
Aerial als Gesamtkonzept
Kate selbst sagt über „Aerial“ (1), dass es aus zwei CDs besteht, damit der Zuhörer nicht überfordert wird. Eine CD sei ein Konzeptalbum, das andere enthalte einfach „ein paar weitere Songs“. Das klingt, als ob beide CDs zwei getrennte Werke wären, die man getrennt betrachten kann. Es gibt meiner Ansicht nach aber Indizien dafür, dass sich beide Cds in ein Gesamtkonzept einfügen. Diese Indizien will ich hier aufzeigen.
Auf dem Frontcover sind ein honigfarbenes Meer und ein honigfarbener Himmel durch eine schattenhafte Schallkurve getrennt, die die Horizontlinie akzentuiert. Die Schallkurve wird dargestellt wie eine ferne Felsformation, die sich im Meer spiegelt. Einige Wolken hängen wie Fahnen an den Felsformationen und spiegeln sich ebenso im gelben Wasser. Der Himmel ist klar und präzise gezeichnet, das gespiegelte Meer dagegen rauer und verwaschener. Hinter einer der Felsspitzen steht die Sonne, es ist eine Dämmerungssituation dargestellt. Überraschenderweise spiegelt sich die Sonne nicht im Meer. Die Sonne ist von einem feinen weißen Kreis umgeben, dieser Kreis schneidet Himmel, Felsformation und Meer. Im Himmel findet sich der Albumtitel als Schriftzug, im Meer versteckt das „KT“-Signum.
Das Rückcover des Digipacs ist ähnlich aufgebaut. Himmel, Meer und Schallkurve sind hier abstrakter dargestellt. Der Reihenfolge der CDs gemäß stehen die Titel der Sea-CD oben, die der Sky-CD unten. In den beiden Hälften ist jeweils eine weitere stilisierte Schallkurve (diesmal in einem blassen gelb) dargestellt. Der Aufbau des Rückcocers ist dadurch streng symmetrisch, beide Playlisten spiegeln sich ineinander.
In der weiteren Gestaltung des Digipacs gibt es weitere Hinweise auf eine Gesamtkonzeption. Klappt man das Digipac auf, so kommt man auf das (ich will es jetzt so nennen) Mittelcover. Ein wie eine Magd gekleidetes Mädchen blickt den Betrachter an. Im Hintergrund schaut man durch ein Sprossenfenster in einen Garten auf einen Baum. Vor dem Mädchen liegt ein Platt Papier mit Zahlen, daneben ein blaues Tintenfass mit der Aufschrift „black … ing ink“ – dies könnte mit der Ergänzung „copying“ für schwarze Kopiertinte stehen (stellt sich hier Kate selbst dar?). Im ganz aufgeklappten Digipac sieht man ein Haus im Hintergrund, ganz aus Backstein, offensichtlich alt, mit vielen Sprossenfenstern. Es könnte das Haus sein, in dem das Mädchen sitzt. Quer über die drei Teile des Innencovers spannen sich Wäscheleinen mit Wäsche. Dieses Motiv spannt sich auch über die beiden CDs, die so äußerlich kaum voneinander zu unterscheiden sind. Die weiße Wäsche verwandelt sich nach rechts kaum bemerkbar in zwei weiße Tauben, die nach rechts wegfliegen.
Hier finden sich viele Bezugnahmen bzw. Verweise auf Einzeltitel. Das Mädchen in der Magdkleidung und die Wäsche verweisen auf „Mrs. Bartolozzi“, die gezeichneten Zahlen auf „Pi“, die Tinte auf die Malereithematik („An Architekts Dream“, „The Painters Link“), das weiße Hemd links auf das Elvis-Hemd aus dem „King of the Mountain“-Video (das findet sich auch im Booklet dargestellt), die Tauben rechts auf die Tauben auf der Sky-CD.
Die Symmetrien im Frontcover und im Rückcover deuten für mich darauf hin, dass beide CDs als Spiegelbilder zueinander verstanden werden können. Die fast gleichartigen Titel „A Sea of Honey“ und „A Sky of Honey“ unterstreichen dies. Sie sind in der Wortwahl gleichartig aufgebaut und bis auf ein Wort gleich. Sie beziehen sich auf die beiden sich ineinander spiegelnden Bestandteile Meer und Himmel. Die gestalterische Ununterscheidbarkeit der CDs und ihre Einbettung in ein Bildmotiv sind für mich weitere Hinweise auf eine Gesamtkonzeption.
Wenn es eine Gesamtkonzeption gibt, dann sollten beide CDs ein inneres Programm besitzen. Bei der Sky-CD ist dies offensichtlich, ein Tagesablauf wird geschildert. Meiner Ansicht nach gibt es aber auch Hinweise auf ein inneres Programm für die Sea-CD. Es sind alles Titel über Personen: Elvis in „King of the Mountain“, Kates Sohn Bertie in „Bertie“, Johanna von Orleans in „Joanni“, Kates verstorbene Mutter in „A Coral Room“, eine Mrs. Bartolozzi in „Mrs. Bartolozzi“, ein von Zahlen faszinierter Mann in „Pi“, Kate selbst (?) in „How to be invisible“. Es sind alles Titel, die ein bißchen in die Vergangenheit verweisen bzw. die Erinnerungen zum Thema haben (Elvis, Johanna, die Mutter, die Instrumentierung bei „Bertie“, die ins Tagträumen verfallende Mrs. Bartolozzi).
Das Schlusslied „A Coral Room“ hat das Meer zum Thema und ist eine Aufforderung zur Erinnerung bzw. zum Fühlen, hier wird das Meer als Symbol für die Erinnerung benutzt. Die letzte Zeile der Sea-CD ist „Put your hand over the side of the boat. What do you feel?“. Im Lied wird das Boot benutzt, um das Meer der Erinnerung zu befahren. Ein Boot mit dem Namen „Aerial“ trennt im Booklet die beiden Hälften. In einem Interview (2) findet sich der Hinweis, dass sich in Kates Wohnung ein Bild des Künstlers James Southall befindet „soon to be familiar as part of the inner artwork of Aerial“. Der Schriftzug „Aerial“ ist der Abbildung des Bootes hinzugefügt, dies verstärkt noch die Bezugnahme auf das Gesamtalbum. Das Boot der Erinnerung ist also mit einem starken persönlichen Bezug zu Kate verbunden. Der Schluss liegt nahe, dass die Sea-CD eine sehr persönliche Erinnerungs-CD ist. Es gibt weitere Hinweise auf persönliche Bezüge. Offenbar hängt in Kates Wohnung eine Replik des Rosebud-Schlittens aus „Citizen Kane“ (2), auf den in „King of the Mountain“ verwiesen wird. Zudem soll Bertie ein begnadeter Elvis-Imitator sein (3), auch dies verweist auf „King of the Mountain“.
Der Maler Southall war ursprünglich Architekt (4). Darauf könnte in „An Architect’s Dream“ angespielt werden als weiterer Hinweis auf eine Gesamtkonzeption.
Bestimmte Details der Sea-CD verweisen auf die Sky-CD. Bertie z.B. leitet offenbar die Sky-CD ein. Mrs. Bartolozzi (die die Wäsche und die Wäscheleine thematisiert) fällt in einen Tagtraum, der in Visionen vom Meer übergeht („Little fish swim between my legs / Oh and the waves are coming in“) und dies findet sich als Inhalt von „Nocturn“ wieder.
Die Sky-CD schildert eine Tagesabfolge vom Nachmittag bis zum Morgen. Vogelstimmen bilden ein durchgängiges Motiv, ebenso wie das Malerthema. Die mehrfache Verwendung der Textzeilen „A Sea of Honey“ und „A Sky of Honey“ (immer im Zusammenhang) koppeln textlich die beiden CDs genauso zusammen wie es das Cover tut. Ein sehr klarer Hinweis auf die Einheit der Sky-CD ist die Auflösung der Schallkurve des Covers im Booklet als die Vogelstimme aus „Aerial Tal“, die sich auf die gesamte CD beziehenden Zeit- und Taktangaben zeigen die Einheit der Sky-CD ganz deutlich. Auch der Schluss von „Nocturn“ mit seinem „climbing up the aerial“ verweist auf den Albumtitel und stellt zudem genau die auf dem Frontcover abgebildete Situation dar. Auch der mit dem Aufwachen der Träumer (als das Ende von „Nocturn“) beginnende Schlusstitel „Aerial“ endet „high on the roof“, genau dies ist eine der Interpretationen, die Kate selbst (1) für das Gesamtalbum gibt („Wenn ich den Begriff „Aerial“ höre, dann denke ich an Höhe. An eine Position, in der du über den Dingen schwebst und hinuntergucken kannst.“).
Bestimmte Details der Sky-CD verweisen auf die Sea-CD. Z.B. gibt es den Bezug auf das Meer in „Nocturn“. Die einleitende Textzeile „Sweet Dreams“ passt zu den Tagträumen von Mrs. Bartolozzi, die mit dem Meer zu tun haben. Ist „Nocturn“ der Tagtraum von Mrs. Bartolozzi?
Für mich ist es damit recht schlüssig, das beide CDs zusammen gehören und dass sie in ein Gesamtkonzept eingebettet sind. Es sind Spiegelbilder: Vergangenheit/Erinnerung und Gegenwart/Zukunft/Traum.
(1) Interview in „Eclipsed“; Nr. 78, Dez/Jan 05/06, S.24 ff.
(2) Interview in „Mojo“; Dez. 2005, S.79
(3) John Mendelssohn: Warten auf Kate; Schlüchtern 2005; S.325
(4) siehe http://www.artnet.de/galleries/Exhibitions.asp?gid=381&cid=72313
Autor: Achim, Hannover (aHAJ)
Das Konzept hinter „A Sky Of Honey“
Die „Sky-Seite“ von „Aerial“ ist ein Konzeptalbum. Dies wird von Kate in (1) selbst so gesagt, wobei „Konzept“ (auch der Begriff „Suite“ wird von ihr verwendet) für Kate mehr ein Arbeitsbegriff zu sein scheint. Über die zugrunde liegende Konzeption selbst macht Kate nur wenige und eher kryptische Aussagen. Wie kann man also „A Sky of Honey“ deuten und interpretieren und das aus der Musik, dem Text und der Gestaltung des Booklets heraus? Diesen Fragen möchte ich in diesem Beitrag etwas nachspüren.
Es gibt eine Aussage von Kate über die Vogelstimmen, die als Ausgangspunkt einer Deutung benutzt werden kann (1):
„It’s almost as if they’re vocalising light,“ she ruminates. „And I love the idea that it’s a language we don’t understand. Obviously a lot of it is, like ‚Fuck off! This is my spot.‘ And obviously, ‚Cor, you’re a bit of all right!‘ But there’s more to it than that. It’s incredibly complex.“
Die Stimmen der Vögel sind also für Kate eine Sprache, die wir nicht verstehen. Eine Sprache, in der sehr komplexe Inhalte ausgedrückt werden. Vogelstimmen sind für Kate aber auch eine Darstellung von Licht in Tönen.
Vogelstimmen (und was sie uns erzählen) spielen die zentrale Rolle des Konzeptalbums (der Sinfonie?) „A Sky of Honey“, ebenso die Thematik der Darstellung von Licht und Farben. Hiervon ausgehend erscheinen die weiteren Bestandteile folgerichtig. Menschen stellen Licht durch Malerei dar. Das Licht verändert sich im Ablauf eines Tages. Die Vögel singen von den Stimmungen dieses unterschiedlichen Lichts. Kate singt von den Stimmungen dieses Lichts aus Menschensicht.
Am Booklet orientiert kann man „A Sky of Honey“ in vier (ineinander übergehende) Sätze einteilen, den Nachmittagssatz, den Sonnenuntergangssatz, den Nachtsatz und den Morgensatz. Jeder dieser Sätze ist durch einen eigenen Stimmungsgehalt gekennzeichnet. Musikalisch wird sich an einem sinfonischen Ordnungsschema (langsam / schnell, Tanzsatz / langsam / schnell, Finale) orientiert. Auch die Titel einiger Stücke beziehen sich auf Vorbilder der Musik der Romantik („Prelude“, „Prologue“, „Nocturn“).
Der einleitende Nachmittagssatz besteht aus „Prelude“, „Prologue“, „An Architect’s Dream“ und „The Painters Link“. Das Booklet hierzu ist in dunstigem Nachmittagslicht gehalten, Wolken im Himmel, Tauben schwingen sich auf. Die alle Bookletseiten der Sky-Seite kennzeichnende Vogelschallkurve ist in einem blassen Grau dargestellt. Dieser erste Satz ist ruhig, Klavier und Streicher spielen eine wichtige Rolle. Das südliche Licht und die verschwimmenden Farben werden in einer äußerst romantischen Musik beschworen, die in der Stimmung an die englischen Spätromantiker gemahnt.
„Prelude“ beginnt leise mit Vogelstimmen im Hintergrund, die einen regelrechten Stimmenteppich bilden. Taubengegurre kommt dazu, ein Klavier nimmt den Rhythmus der Taubenstimmen auf. Bertie spricht „Mummy .. / Daddy.. / The Day is full of birds / Sounds like they’re saying words“. Die Tauben antworten, sie klingen nach Worten. In „Prologue“ nimmt Kate diese scheinbar naive Aussage aus „Kindermund“ auf („We’re gonna laughing about this“) und interpretiert sie auf ihre Weise. Sie singt von den Vögeln, die Abschied nehmen und in den Süden, in das südliche Licht ziehen. Sie singt davon, mit den Vögeln abzuheben. („Joker“ hat nicht nur dies in (2) wunderbar interpretiert!) Die romantische Stimmung wird beschworen („Oh so romantic, swept me off my feet“). Der Chorus leitet über zum Malerthema, der Darstellung von Licht und Farbe aus Sicht des Menschen. „An Architect’s Dream“ beschreibt Licht und Farbe aus Sicht des Menschen, des Malers („Watching the painter painting / And all the time, the light is changing). Dieses Lied ist offenbar das erste Lied der Sky-Seite gewesen (1), die Keimzelle des Konzeptalbums, entstanden 1998. Aber die Bemühungen sind vergeblich, in „The Painter’s Link“ macht die Natur die Bemühungen des Malers zunichte und verwandelt es in etwas Eigenes: Farben werden zum Sonnenuntergang. Damit leitet dieser „Link“ über in den nächsten Satz.
Der Sonnenuntergangssatz besteht aus „Sunset“, „Aerial Tal“ und „Somewhere in between“. Das Booklet hierzu ist sonnenuntergangsfarben, eine Amsel erzeugt die pechschwarze Vogelschallkurve, rechts sind Raben vor dem sich verdunkelnden Himmel zu sehen. Dieser zweite Satz ist tänzerischer. Zwei rhythmische Teile werden durch ein andersgestimmtes Mittelstück verbunden. Damit wird die Formgebung aufgenommen und interpretiert, die auch in der klassischen Musik für den schnellen Satz einer Sinfonie gebräuchlich ist.
„Sunset“ ist eine Beschreibung des Sonnenuntergangs in einem Meer und einem Himmel wie aus Honig. Die Musik ist jazzartig und entspannt. Die Aussage „It’s almost as if they’re vocalising light“ über den Vogelgesang (1) wird thematisiert („This is a song of colour / Where sands sing in crimson, red and rust“). Es ist ein Lied des Abschieds. Das Licht muss sterben, wird aber in den Sternen weiterleben („Every sleepy light / Must say goodbye / To day before it dies / In a sea of honey / A sky of honey“). In einem Flamenco-Chorus, einem letzten Tanz vor der Dunkelheit endet das Lied. Eine Amsel beginnt einsam mit „Aerial Tal“, dann kommt das Klavier dazu, dann Kate in einer Imitation des Vogelstimmengesangs. Das Gurren von Tauben leitet abrupt in den nächsten Song über. Dieser kurze und fremdartige Song enthält eine der zentralen Aussagen (Kate singt und interpretiert das Lied der Vögel), vielleicht hat es daher Verwendung als Teaser in der Werbung gefunden. „Somewhere in between“ nimmt dann wieder die Menschenperspektive ein. Es ist ein Lied in einem pulsierenden, ruhigen Rhythmus über das Zwielicht. Ein Ruhepunkt auch in der Stimmung ist gefunden („Oh how we have longed / For something that would / Make us feel so ..“). Der Refrain thematisiert diese Zwielichtsituation mit seinen „somewhere in between“-Aussagen. Hier gibt es eine leise begleitende Männerstimme, an diesem Ruhepunkt ist man nicht mehr allein. Zum Abschluss das gute Nacht von Bertie – damit sind alle vereint.
Der Nachtsatz besteht aus „Nocturn“. Im Booklet hierzu wird die blaue Nacht dargestellt, die nach rechts so heller wird, so als ob dort der Morgen kommt. Wasser ist zu sehen, Sterne und Vögel, ein Mensch als Vogel verkleidet. Nur hier im Booklet der Sky-Seite taucht ein Mensch auf, er erscheint aber wie in einen Vogel verwandelt. Die Vogelschallkurve ist reinweiß und ohne Konturierung. Die Musik dieses dritten Satzes beginnt sehr ruhig, steigert sich aber zu einem jubelnden Höhepunkt.
Der Chorus zu Beginn von „Nocturn“ („Sweet Dreams“) signalisiert, dass es um so etwas wie eine hypnotische Traumsequenz geht. Der Mensch im Einklang mit der Natur (der Mensch verwandelt in einen Vogel) ist nur im Traum möglich. Das nächtliche Licht wird in all seinen Facetten (Mondlicht, Sternenlicht wie Diamantenstaub) beschrieben. Das Lied kulminiert im Sonnenaufgang („Look at the light , all the time it’s a changing / Look at the light, climbing up the aerial“), im Aufwachen („and all the dreamers are waking“) und im Ausschwingen in „Aerial“.
Der abschließende Morgensatz besteht aus „Aerial“ und entsteht bruchlos aus dem dritten Satz. Im Booklet hierzu ist die Vogelschallkurve hell und sonnenfarben. Ein fliegender Vogel ist in der Kurve dargestellt quasi als Verkörperung dieser Kurve. Der Hintergrund besteht aus schattenhaft dargestellten fliegenden Vögeln vor einem roten Himmel. Der Vogel in der Schallkurve ähnelt sehr dem Vogel der Vogelmaske aus „Nocturn“. Dieser vierte Satz ist ein typischer Finalsatz, schnell und laut und ein bisschen jubilierend.
Zu Beginn von „Aerial“ hört man hinter dem aus dem Höhepunkt von „Nocturn“ herausschwingenden Rhythmus Vogelstimmen im Hintergrund. Dann dominiert ein
technoider Rhythmus, die Realität in all ihrer Naturferne hat uns wieder; wir sind aus dem Traum aufgewacht. Und doch klingt der Refrain „I feel I want to be up on the roof“ fast wie ein Vogelruf, die Melodie ist immer noch der Vogelwelt nahe. Dies wird durch „Tell me what are you singing in the sun“ bekräftigt, wieder wird der Dialog aufgenommen mit den Vögeln. Eine Amsel singt, Kate im Gegengesang, eine eigene Stimme, keine Imitation mehr wie in „Aerial Tal“. Dies geht am Schluss über in rhythmisches Lachen, mit „All of the birds are laughing / Come on let’s all join in“ wird eingeladen zum Mitlachen. In einem sich steigernden Tanz aus Stimmen, Instrumenten und Gelächter kulminiert das Lied, den Abschluss bildet wieder der Vogelstimmenteppich und das Gurren der Tauben. Damit schließt sich der Kreis des Konzeptalbums und wir sind wieder am Anfang.
„Joker“ hat dies perfekt auf den Punkt gebracht (2): „Kate lacht mit den Vögeln, ist selber zu einem Vogel geworden, ist ausgeflogen ihr Glück zu finden. Sie weiß nun etwas. Etwas das nur sie weiß. Von hoch oben blickt sie auf die Erde und lacht. Sie hat all den Menschen da unten etwas voraus. Sie hatte ihre „Erleuchtung“.“ „A Sky of Honey“ folgt dabei den Formen einer Sinfonie, um dieses Thema darzustellen. Es ist eine Sinfonie, die Licht und Farbe in der Natur, in der menschlichen Welt und in der Seele darstellt und interpretiert. Es ist eine Sinfonie über den Aufbruch aus der Dunkelheit.
Neben den oben dargelegten Inhalten gibt es noch mehr Dinge, die stützend zur Interpretation hinzugezogen werden können. In nahezu allen Kulturen werden Vögel als Darstellung der menschlichen Seele gesehen (3). In der Mythologie sind Vögel oft Glück bringende Erscheinungen. Bereits im Altertum verkörperten sie die menschliche Seele, die im Augenblick des Todes aus dem Körper tritt und davonfliegt. Auch in der christlichen Kultur gilt der Vogel als Sinnbild der Seele. Er erscheint auf Darstellungen Marias mit dem Kinde, in denen das Christuskind einen Vogel in der Hand oder an der Leine hält. Wenn also Kate über den Gesang der Vögel und deren Sprache singt, dann singt sie auch über die Sprache der menschlichen Seele.
In der englischen Musik der Spätrenaissance (z.B. bei John Dowland) wird die Todessehnsucht durch den „Black bird“ symbolisiert (4). In unzähligen Gedichten im Umfeld von Dowlands Lachrimae-Pavanen wird dieser schwarze Vogel besungen und geradezu herbeigesehnt. Ein typisches Beispiel: „Wo der schwarze Vogel der Nacht sein Leid klagt, lasst mich in Einsamkeit leben.“ Dowland sieht im Schlaf den Verbündeten des Todes, ein Kind der schwarzgesichtigen Nacht, einen schwarzen Vogel der Melancholie. Dies passt zur Thematik des Abschieds und der Einsamkeit im Sonnenuntergangssatz und spiegelt sich auch in der Bookletgestaltung dazu wieder.
Auch die Bezüge zur klassischen Musik der Romantik sind vielfältig, nicht nur in der Formgebung und in der Benennung einzelner Titel. Die Textzeile „Can you hear the lark ascending“ in „Prologue“ könnte auf das Violinkonzert „The lark ascending“ von Vaughan Williams hinweisen (5). Der Beginn von „Nocturn“ erinnert musikalisch und thematisch an den Beginn von „Summer Night on the River“ von Delius, dem Kate ja schon einmal ein Lied gewidmet hat. „A Sky of Honey“ gemahnt in der Stimmung der langsamen Sätze an die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss, insbesondere an das Lied „Im Abendrot“ (im englischen „At Sunset“). In diesem Lied wird auch auf das Symbol der aufsteigenden Lerche Bezug genommen („Rings sich die Täler neigen / Es dunkelt schon die Luft / Zwei Lerchen nur noch steigen / Nachtträumend in den Duft.“) und auf den Tod („O weiter stiller Friede! / So tief im Abendrot / Wie sind wir wandermüde / Ist das etwa der Tod?“).
Kate Bush hat sich mit „A Sky of Honey“ ganz weit wegbewegt von dem, was man unter „Popsongs“ versteht. Ich glaube es ist die Eigenständigkeit dieses Entwurfs, die einige Hörer irritiert, diese Mischung aus Schönheit und Radikalität. Mit jedem Album erfindet Kate eine Welt neu, dieser Satz hat sich für mich nach dieser Analyse mehr denn je bestätigt. Und für die Zuhörer gilt das was uns die Vögel sagen: „Obviously a lot of it is, like ‚Fuck off! This is my spot.‘ And obviously, ‚Cor, you’re a bit of all right!‘ But there’s more to it than that.“
(1) Interview in „Mojo“; Dez. 2005, S.76 ff.
(2) Beitrag von „Joker“ auf http://www.carookee.com/forum/Kate-Bush/22/8136960.0.01105.html?p=2
(3) L. Impelluso „Die Natur und ihre Symbole“; Berlin 2005; S.288
(4) V. Kalisch, M. Feldberg, P. Huth, U. Kirfel: Musica et Memoria; Düsseldorf 2005; Booklet zur gleichnamigen CD-Box; S.17
(5) Plattenkritik zu „Aerial“ in „Uncut“; Dez. 2005; S.98
Autor: Achim, Hannover (aHAJ)
1994
Kate Bush: Live At Hammersmith Odeon
Box: Video (Erstveröffentlichung 1981) plus CD mit Ausschnitten vom Konzert 1979
Moving – Them Heavy People – Violin – Strange Phenomena – Hammer Horror – Don’t Push Your Foot On The Heartbrake – Wow – Feel It – Kite – James And The Cold Gun – Oh England My Lionheart – Wuthering Heights
2.11.1993
The Red Shoes
Rubberband Girl – And So Is Love – Eat The Music – Moments Of Pleasure – The Song Of Solomon – Lily – The Red Shoes – Top Of The City – Constellation Of The Heart – Big Stripey Lie – Why Should I Love You? – You’re The One
The Red Shoes – Eine Analyse
„The Red Shoes“ ist kein Konzeptalbum. Aber auch wenn es das nicht ist, so gibt es meiner Ansicht nach doch einen roten Faden in diesem Album. Ich möchte versuchen, diesem roten Faden nachzuspüren. Die Deutung und Interpretation wird sich dabei an der Musik, dem Text und der Gestaltung des Booklets bzw. des Covers orientieren.
Laut Kate selbst wachsen Titel während der Entstehung und verändern sich, neue Ideen und Eindrücke fließen ein (1). Solche Inspirationen kommen aus dem persönlichen Umfeld. Zur Deutung eines Albums ist also die Betrachtung dieser Einflüsse ein zu beachtender und nicht zu vernachlässigender Aspekt.
In der Zeit der Entstehung des Albums gab es schwerwiegende Ereignisse im persönlichen Umfeld. Die Mutter von Kate starb überraschend, Freunde starben. Die Erschütterung durch den Tod der Mutter war so stark, dass Kate die Arbeit monatelang unterbrechen musste (2). Den Albumhintergrund bilden Verluste, Verluste von Personen und Illusionen. Eine Suche nach Halt ist zu spüren (es gibt religiöse Themen), eine Suche nach Beistand (deswegen die Vielzahl von bekannten Gastmusikern?), eine Suche nach Richtung, nach einem Ausweg. „The Red Shoes“ kommt aus einer Welt, die in Scherben liegt.
Der Titel ihrer Alben ist für Kate nach ihrer eigenen Äußerung (3) eine Art Kurzbeschreibung, so etwas wie ein Buchtitel, in ihm findet sich mottoartig die Essenz des Albums. „Die roten Schuhe“ ist der Titel eines Märchens von Andersen. Ein Mädchen ist besessen davon, ein Paar roter Schuhe zu besitzen. Dafür gibt sie alles auf, vernachlässigt alles, nimmt den Tod von geliebten Personen gleichgültig hin. Sie wird bestraft durch einen Zauber, muss ewig verdammt tanzen, erst das Abhacken der Füße bricht den Zauber. Schließlich stirbt sie nach langer Zeit der Abbitte, endlich erlöst. Dieses Märchen ist von Michael Powell 1948 in einem berühmten Ballettfilm aufgenommen und interpretiert worden. Eine Tänzerin wird zerrissen zwischen ihrer Leidenschaft für ihren Tanz und ihrer Liebe zu einem Mann.
Das Motiv der roten Schuhe dominiert das Cover, das Booklet verweist aber auch auf einen zweiten Track des Albums. Früchte sind das (vordergründige) Thema von „Eat the music“ und das Rückcover wird durch diese Früchte bestimmt, rot und lebendig und ungeöffnet. Das Booklet selbst ist zum Auffalten, so als ob es ein innen liegendes Geheimnis verbirgt. Auf der Außenseite zeigt es eine Tanzdarstellung, Kate und eine zweite Person, edel, schwarzweiß, sinnlich. Dieses Bild ist auf einen Teppich aus ungeöffneten Früchten aufgesetzt. Nach Auffalten des Booklets zeigt sich das wahre Innere: geöffnete, zerschnittene Früchte, nicht mehr rot und lebendig, wie ein verletzter, aufgebrochener, blutiger Körper. Titel und Texte sind wie ein dunkler Schatten darüber gelegt. Für mich ist das eine Offenlegung von Verletzung, aber auch ein vorbehaltloses Öffnen gegenüber dem Hörer. Im Text zu „Eat the music“ heisst es „Split me open / With devotion / You put your hands in / And rip my heart out / Eat the music“. All dies wird in den Bildern des Booklets dargestellt.
Aspekte der Verlorenheit, des Verlusts, der Erschöpfung, der Suche nach Halt finden sich überall in den Liedern wieder. Auch eine Störung in der Beziehung zu ihrem langjährigen Lebenspartner Del Palmer deutet sich in den Liedern schon an, das Motiv der Trennung und der verlorenen Liebe kommt in mehreren Songs vor. Und in der Tat kam es nach dem Album dann zur Trennung (2).
In „Rubberband Girl“ steht das Gummiband als Symbol für die Flexibilität, für das Rettungsseil. Hier ist vordergründig viel Fröhlichkeit in der Musik, ein Tanzlied scheint es zu sein. Es gibt sehr viele Elemente im Hintergrund, Stimmen kommen aus allen Richtungen, das ist Chaos und Desorientierung. „And so ist love“ wird von Traurigkeit und einer Stimmung des Verlusts, des Zweifels, der Verzweiflung beherrscht. „Eat the music“ ist wieder scheinbar fröhliche Musik, aber fast besessen wird das gleiche musikalische Motiv wiederholt. Auch der Text ist alles andere als fröhlich (s.o.). In „Moments of Pleasure“, „The Song of Solomom“ und „Lily“ geht es um Verlust, Einsamkeit, Suche nach Wärme und Nähe, um Suche nach Hilfe, Schutz und Unterstützung. Im besessenen Tanzstück „The red shoes“ findet sich das Motiv der Flucht aus dem bisherigen Leben („Put them on and your dream’ll come true / With no words, with no song / You can dance the dream with your body on“). „Top of the City“ ist eine traurige Ballade über den Verlust der Liebe und über den Selbstmord. Um eine Auseinandersetzung mit der Liebe, dem Herzen, aber auch mit dem Schmerz geht es in „Constellation of the Heart“, ins Komische gezogen, mit einflüsternden Stimmen des Chores, die Kate versuchen zu überzeugen, dass das Leben doch gut/schön/wundervoll sein kann und nicht nur angsterfüllt/schmerzend. „Big stripey lie“ ist total fremdartig, absolut dunkel, fast ohne jede Hoffnung (bis auf eine einsame, wunderbare Violinlinie). Abkehr von der Welt und Zweifel kennzeichnen „Why should i love you“, eine allertraurigste Liebeserklärung „You’re the one“ an den Geliebten nach der Trennung beschliesst das Album. (An der Stelle von Del Palmer wäre ich spätestens hier ins Grübeln gekommen.)
Überall in diesem Album ist Schmerz. Überall in diesem Album sind im Hintergrund bedrohliche Stimmen, Geräusche, Chaos. Ein Album der Verlassenheit, Verzweiflung, der vorgetäuschten Fröhlichkeit, ein (Hilfe)Schrei. Ein Album über den Zusammenfall der Welt; eine Momentaufnahme kurz vor dem Crash. Danach war die lange Erschöpfungspause folgerichtig und danach erscheint ein lichtdurchflutetes Album wie „Aerial“ noch mehr wie ein Befreiungsschlag, wie eine Abkehr von der Vergangenheit.
„The red shoes“ ist ein unterschätztes bzw. nicht verstandenes Album. Selbst Jovanovic (2) in seinem ansonsten guten Buch zieht keine Schlüsse und steht ihm zweifelnd gegenüber. Zur Zeit ist es im Aerial-Hype geradezu Mode in der Musikpresse, das Album schlecht zu machen – in (4) wird z.B. von „das war sterbensöder Alte-Menschen-Biedersinn“ gesprochen. Meiner Ansicht ist so etwas ein Indiz für eine sehr oberflächliche, zeitgeistgestörte Betrachtungsweise und ein Eingeständnis des Nichtverstehen(wollen)s. Liegt dieses Zurückschrecken in einer Angst vor so offen in der Musik gezeigten Emotionen begründet? Selbst Kate zieht sich im nachhinein von dieser Direktheit und Offenheit zurück, sie relativiert und verschleiert das Album (5): „It’s mutch too long and it goes on and it gets boring.“
Wahrscheinlich braucht „The red shoes“ noch einige Jahre, um geschätzt zu werden. Einen im der Stimmung und in der Wahl der Mittel sehr ähnlichen Album wie „The Dreaming“ ist es ja nicht anders ergangen. Wenn man sich aber nur ein bißchen genauer mit dem Album beschäftigt, dann geht das Verstehen und Schätzen ganz schnell (Liebe ist eine andere Sache). Fans sollten das hinbekommen .-)
(1) Interview in „Vox“ 11/93 S. 32 ff.
(2) R. Jovanovic: Kate Bush. The Biography; London 2005; S.183 ff.
(3) Interview in „Eclipsed“ 12-01/05-06 S.24 ff.
(4) Falk Schreiber: „Die Wiedergängerin“; in „Kulturnews“ 01/06 S.8
(5) Interview in „Mojo: 12/05 S. 76 ff.
Autor: Achim, Hannover (aHAJ)
22.10.1990
This Woman’s Work
8-CD Box-Set
CD 1: The Kick Inside – CD 2: Lionheart – CD 3: Never For Ever – CD 4: The Dreaming – CD 5: Hounds Of Love – CD 6: The Sensual World.
CD 7: The Empty Bullring – Ran Tan Waltz – Passing Through Air – December Will Be Magic Again – Warm And Soothing – Lord Of The Reedy River – Ne T´En Fuis Pas – Un Baiser D´Enfant – Under The Ivy – Burning Bridge – My Lagan Love – The Handsome Cabin Boy – Not This Time – Walk Straight Down The Middle – Be Kind To My Mistakes
CD 8: I’m Still Waiting – Ken – One Last Look Around The House Before We Go…. – Wuthering Heights (New Vocal) – Experiment IV – Them Heavy People (live) – Don´t Push Your Foot On The Heartbrake (live) – James And The Cold Gun (live) – L´Amour Looks Something Like You (live) – Running Up That Hill (12″) – Cloudbusting (The Organon Mix) – Hounds Of Love (Alternative) – The Big Sky (Meteorological Mix) – Experiment IV (12″)
17.10.1989
The Sensual World
The Sensual World – Love And Anger – The Fog – Reaching Out – Heads We’re Dancing – Deeper Understanding – Between A Man And A Woman – Never Be Mine – Rocket’s Tail – This Woman’s Work – Walk Straight Down The Middle
The Sensual World: Eine Analyse
Einstiegspunkt für meine Analyse ist der Titel des Albums. Mit der Titelgebung wird dem Album gleichsam ein Markenzeichen aufgesetzt. Die Inhalte und die Stimmungen werden in einer einprägsamen Phrase zusammengefasst. Kates Albumtitel sind meist programmatisch, sie dienen als Einführung in die musikalische Welt, bilden das Motto [1]. In meinem Beitrag möchte ich die These belegen, dass „The Sensual World“ ein Album über sinnliche Erfahrung ist, ein Album über unsere emotionale Beziehung zur Welt und zu unseren Mitmenschen in all ihren Facetten.
Kate sagt selbst [2] über den titelgebenden Track: „In dem Song steigt die Hauptfigur aus ihrer schwarzweißen, zweidimensionalen in die richtige Welt um. Der erste Eindruck ist die Sinnlichkeit dieser Welt. Die Tatsache, daß man Dinge anfassen kann, daß man die Farbe der Bäume sehen, das Gras unter den Füßen fühlen kann. Die Tatsache, daß wir von so viel Sinnlichkeit umgeben sind. Wir nehmen sie gar nicht mehr wahr. Aber ich bin mir sicher, daß jemand, der das alles vorher nicht erlebt hat, davon vollkommen überwältigt wäre.“
Das Cover visualisiert im Idealfall den Inhalt des Albums, es gibt dem Titel des Albums ein aussagekräftiges Bild. Bei „The Sensual World“ passt das Covermotiv sehr gut zu diesem „Umsteigen“ in die sinnliche Welt, dieser Menschwerdung. Es enthält aber zudem noch weitere Deutungs-Informationen.
In schlichtem Schwarzweiß, bräunlich angehaucht stellt sich das Cover dar, wie ein altes, etwas vergilbtes Foto. Der Titel ebenfalls schlicht, in goldener Schrift. Kate schaut großäugig direkt den Betrachter an, ihre Haare verschwimmen mit dem samtigen Hintergrund und sind kaum sichtbar. Das Gesicht – etwas unwirklich, spitz, feenhaft – tritt aus einem gestaltlosen Dunkel hervor „into the sensual world“. Kate ist unbekleidet, sie hält eine große, voll erblühte Rose in der Hand, hinter der sie den unteren Teil des Gesichts (den Mund) versteckt. Diese überdimensionale Rose beherrscht zusammen mit Kates großen Augen das Bild. Es ist unklar, ob es sich um eine weiße Rose oder eine rote Rose handelt. Diese Rose symbolisiert offenbar die auf dem Cover dargestellte Hauptperson des Tracks „The Sensual World“, in dem die Ich-Erzählerin von sich als „flower of the mountain“ spricht.
Die Rose ist eine Blume, die äußerst symbolträchtig ist. Die hervorgehobene Position auf dem Cover zwingt fast dazu, sich mit diesen Bedeutungen zu befassen. Die rote Rose bedeutet Liebe und Hochzeit, die weiße Entsagung und Tod (Friedhöfe werden oft als Rosengarten bezeichnet) [3]. Im Altertum hatten Rosen die Bedeutung von Trauer und Tod. In Rom gehörte das Fest, bei dem man die Gräber der Toten mit Rosen schmückte (die „Rosalia“) zu den Todesritualen. Im Verlaufe der Christianisierung wurde die Blume aber dann mit Maria in Verbindung gebracht, die rote Rose ist gleichsam ein Symbol der Mutter Gottes geworden [4]. Für die großen Astrologen wie Agrippa von Nettesheim war die Rose die Blume der großen Göttin Venus, die Blume der Liebe und der Schönheit [5]. Die Anordnung der Kelchblätter führt zudem auf das Pentagramm (Fünfeck), wodurch die Rose auch ein Zeichen des Geheimnisses wurde [3].
Mit „The Sensual World“ und mit der Rose in der Hand zeigt sich uns Kate als eine lichte und eine dunkle Verkünderin der Liebe und der Geheimnisse. Mit dieser voll erblühten Rose zeigt uns Kate, dass es um die Verkörperung und Darstellung der weiblichen Aspekte geht. Offene Aussagen von Kate [2] unterstützen dies:
„Dies ist meine weiblichste Platte. Die Rockmusik wird von Männern beherrscht, von mächtigen Drumsounds und kräftigen Bässen. Das sind die typischen Macho-Sounds. Ich wollte weibliche Stimmen und weibliche Arrangements draufsetzen. Ich wollte die weibliche Stärke herausstellen.“
Finden sich diese Aspekte in der Musik und in den Texten wieder? Meiner Ansicht nach bei den Texten sicherlich. Bei der Musik ist dies schwieriger zu beurteilen.
Die Musik ist – wie von Kate angesprochen – nicht von dahertrommelnden Bässen geprägt. Sie ist komplex, verwoben, weich, durch sich überlagernde Strukturen gekennzeichnet. Es ist ein integrierter Klang, die Stimme ist eine Klangfarbe unter vielen. Die Integration der Stimme geht oft so weit, dass der Text kaum verständlich ist. Die Musik ist von Frauenstimmen (Kate, Trio Bulgarka) geprägt. Klassische Instrumente werden verwendet, es gibt zudem viele irische Anklänge. Die komplexe, sinnliche Welt ist mit der Vergangenheit verwoben. Diese Klänge sind nicht „männlich“ im Sinne der Äußerung von Kate. Offener treten die weiblichen Aspekte allerdings in den Texten zu Tage.
Der Bogen des Albums spannt sich vom titelgebenden Stück „The Sensual World“ bis zum Schlussstück “ This Woman’s work“ (in der CD-Version ist noch “ Walk Straight Down The Middle “ als Bonus-Track angefügt). Die Texte kreisen um Beziehungen und damit zusammenhängende Emotionen, gesehen aus weiblicher Sicht. Der Bogen spannt sich vom Hineintreten in die sinnliche Welt bis zur Geburt eines Kindes, der Weitergabe des Lebens.
Keimzelle ist das Lied „The Sensual World“, der erste Track des Albums, der namensgebende Track. Ursprünglich sollte hier der berühmte, von Sinnlichkeit und Erotik überquellende Schlussmonolog der Molly Bloom aus dem „Ulysses“ von James Joyce als Textgrundlage genommen werden. Da Kate die Rechte nicht bekam, entstand der Text in Anlehnung daran, jetzt zusätzlich angereichert um das Motiv des Hereintretens in die sinnliche, „wahre“ Welt („Stepping out of the page into the sensual world.“). Mit diesem ersten Lied tritt die weibliche Hauptfigur des Albums hinein in die Welt und beginnt ihre Erfahrungen. „Bloom“ bedeutet übersetzt Duft, Blüte, Hauch, Schönheit, rosige Frische. All diese Assoziationen finden sich im Text wieder (z.B. „He said I was a flower of the mountain, yes, / But now I’ve powers o’er a woman’s body, yes.“) und zeigen sich auch in der Covergestaltung (z.B. die Rose).
In den weiteren Titeln spannt sich der Bogen der Erfahrungen von den Gefühlen zwischen zwei Liebenden („Love and Anger“) bis zur orgiastischen Ausgelassenheit („Rocket’s tail „). Dazwischen gibt es Lieder über alle Arten von Zuneigung, Liebe, Beziehungen. Es sind Lieder über die Liebe, die tief ist und unheimlich wie das Wasser („The Fog“), Lieder über das instinktive Verlangen, das Verlangen nach Liebe und Zuneigung, aber auch über die Gefahren dabei („Reaching Out“), Lieder über die Faszination des Bösen im alltäglichen Gewand („Heads we’re dancing „).
So wie das Album mit einer „Geburt“ in „The Sensual World“ beginnt, so endet es mit einer (Wieder)Geburt in „This Womans Work“. Dieser Track ist als Filmmusik zu dem Film „She’s having a baby“ geschrieben worden. Er begleitet dort eine sehr emotionale Szene, in der ein Ehemann um seine Frau bangt, die ein Baby bekommt.
Auch der auf der CD-Version angehängte Bonustrack „Walk Straight Down The Middle“ kreist um das Thema Beziehungen. In den aufgespannten Rahmen zwischen Geburt und Geburt passt er so angehängt allerdings nicht (weswegen ich ihn beim Anhören des Albums meist auslasse und ihn lieber einzeln höre). Das Album ist eine großartige Visualisierung des Schlussmonologs aus „Ulysses“, ein Eindruck dieser „Sensual World“, in die man aus dem Papier heraustritt. Obwohl der Blick auf die Welt mit einem weiblichen Blick geschieht, ist es doch umfassender, allgemeingültiger. Das Album ist eine tiefgründige Erforschung dessen, was die menschlich-sinnliche Welt ausmacht: Beziehungen aller Art. Oder um es in einem kurzen Satz zusammenzufassen: „the purpose of The Sensual World is to examine all sorts of problems in relationships“ [6].
[1] M. Loesl: „Kate Bush spricht!“; „Eclipsed“; Nr. 78, Dez/Jan 05/06, S.24-25
[2] C. Rebmann: „Kate Bush“; Fachblatt Musikmagazin 11(?)/89 (zitiert nach gaffaweb)
[3] Der Große Brockhaus; Leipzig 1933; Band 16, S.98
[4] L. Impelluso: Die Natur und ihre Symbole; Berlin 2005; S.118
[5] W. Bauer, I. Dümotz, S. Golowin, H. Röttgen: Bildlexikon der Symbole; München 1980; S.32
[6] R. Lucius: „The Lily in Her Soul“; HomeGround Nr. 68 S.12-13
Autor: Achim, Hannover (aHAJ)
10.11.1986
The Whole Story
Best of: Wuthering Heights (New Vocal) – Cloudbusting – The Man With The Child In His Eyes – Breathing – Wow – Hounds Of Love – Running Up That Hill – Army Dreamers – Sat In Your Lap – Experiment IV – The Dreaming – Babooshka
16.9.1985
Hounds Of Love
Hounds Of Love: Running Up That Hill (A Deal With God) – Hounds Of Love – The Big Sky – Mother Stands For Comfort – Cloudbusting
The Ninth Wave: And Dream Of Sheep – Under Ice – Waking The Witch – Watching You Without Me – Jig Of Live – Hello Earth – The Morning Fog
Bonus Tracks zum 100. Geburtstag von EMI 1997: The Big Sky (Meteorological Mix) – Running Up That Hill (12″ Mix) – Be Kind To My Mistakes – Under The Ivy – Burning Bridge – My Lagan Love
Hounds of Love: Eine Analyse
Das Album “Hounds of Love” ist ein Höhepunkt in der Karriere von Kate Bush, ein Meilenstein. Es enthält eine Fülle von originellen und schönen Liedern, die vielfältige Interpretationen erlauben. Wie kaum ein Bush-Album vorher ist es ein Blick in eine eigene, faszinierende Welt.
Das Album ist auf den ersten Blick viel sonniger als das vorhergehende „The Dreaming“. Die musikalischen Mittel – auf „The Dreaming“ noch im Rausch des Experiments genutzt – sind jetzt voll beherrscht, von Selbstsicherheit geprägt, meisterlich angewandt.
Viel zu wenig wird ein Satz beachtet, den Kate Bush in einem Radiointerview (Diliberto 1985, nur im Radiointerview enthalten) gesagt hat: „I think albums are like that, they’re…they are little diaries. You know, you sort of sit there and write — not autobiographical things — but what you feel at the time, things that move you. I think it does say a lot about you at the time.” Kates Alben können (und sollen) verstanden werden als Stimmungstagebücher. Über diese Grundstimmung des Albums gibt Kate Bush selbst freimütig Auskunft: „Ich wollte über die positive Kraft der Liebe schreiben und nicht mehr über Menschen, die sich zerstören. [..] Dabei wollte ich Liebe nicht nur als fröhliche, lichtvolle Angelegenheit beschreiben, sondern sie in allen, auch ihren dunklen Aspekten zeigen. Die LP hat dadurch zwei sehr unterschiedliche Seiten bekommen. Die erste gibt einen Ausblick auf verschiedene Formen von Liebe und handelt durchweg von Beziehungen, und die zweite Seite geht tiefer, darum auch das alle Stücke umfassende Konzept.“ (Hub 1985)
Leitidee sind also die unterschiedlichen Aspekte der Liebe, wobei die zweite Seite die tiefergehenden Aspekte betrachtet. Das Album ist so in zwei deutlich getrennte Seiten geteilt. Kate hat zugestanden, dass sie zuerst unsicher war über die Tragfähigkeit der Konzeptidee und dass sie deshalb sozusagen als „Sicherheitsleine“ eine Seite mit individuellen Songs gestaltet hat: „So it made sense for me to secure myself by writing a couple of other songs for the other side while I was working on that side.“ (Devitt 1985). Die erste Seite ist auch als Gegenpart (Spiegel?) der Konzeptseite gedacht: „It would be interesting to have a side that was conceptual, and then make the other side a kind of counter-balance.“(Devitt 1985)
Die erste Seite ist eine Handvoll von Liebesliedern über problematische Beziehungen. Die Musik ist popsong-artig, zugänglich. Niemals waren Songs von Kate Bush chartstauglicher. Das gilt aber nur für die Musik – die Texte sind von abgründigerer Natur. Komplexe Aspekte der Liebe werden thematisiert. Dass Liebe nicht nur sonnig, sondern gleichzeitig auch beängstigend sein kann, wird schon durch den Titel dieser Seite (und des Albums) verdeutlicht – „Hounds of Love“. Kate erklärt das so: „[..] das sind die Hunde, die den jagen – symbolisch natürlich -, der sich vor der Liebe fürchtet, der Angst hat, ihr in die „Falle“ zu gehen. Aber es sind nicht wirklich böse Hunde, man kann ja auf dem Cover sehen, wie sanft und schön die „Hounds of Love“ sind.“ (Hub 1985)
„Running up that hill“ entstand im Sommer 1983 als erster Song des Albums (Thomson 2012, S.258). Es ist ein hymnisch vorantreibender Titel voller Energie mit einem Grundteppich aus leisen Trommeln und einem orgelpunktartig eingesetzten Synthesizerakkord. Der Song handelt von der Unmöglichkeit, dass sich zwei Liebende wirklich verstehen können und wie verlockend es wäre, für eine kurze Zeit die Körper tauschen zu können und in die Seele des Gegenüber einzutauchen. Er ist energisch und perfekt gesungen – offenbar handelt es sich um eine sehr energiegeladene Beziehung, in der die Funken fliegen.
„Hounds of Love“ basiert lose auf dem Film „The night of the demon“, in dem ein dämonisches Wesen auf die Menschen losgelassen wird. Die Furcht vor der dämonischen, zerstörerischen Kraft der Liebe wird thematisiert. Der Song ist im Rhythmus zerrissener, bedrohlicher. Für mich klingt dieser vorwärtsdrängende Rhythmus wie ein großes verfolgendes Tier, das durch einen dunklen Wald läuft (und das am Schluss ankommt). Groß, gefährlich, kraftvoll. Aber das ist nur die Sicht auf die Liebe aus Sicht der Feiglinge (das Wort „coward“ kommt im Text vor) – die Jagdhunde der Liebe sind sanft und schön. Sie behüten den, der sie in den Arm nimmt und an sich heranlässt – so sagt es das Cover.
„The big sky“ ist eine vorantreibende Welle, die sich immer mehr steigert. Abkehr vor der Realität, vielleicht Angst vor der Realität, ein Blick in den Himmel (wie auch in „Hello Earth“ – hier spiegelt sich das). Es geht um das Nicht-Verstanden-Werden in Beziehungen („you never understood me“). Der Song ist voller Stimmen, ein sich überschlagendes Chaos aus Geschehnissen. Die eigene Fantasie ist voller Geheimnisse und grenzenlos. Aber es finden sich auch Andeutungen von dunklen Dingen, Hinweise auf Wasser, eine große Flut – die Textzeile „build me an ark“ kommt vor. Dies kann als weiterer Verweis auf die zweite Seite „The ninth wave“ des Albums gesehen werden.
„Mother stands for comfort“ im Gegensatz dazu ist kühl, ruhig, zurückgenommen, fast psychopathisch emotionslos in der Instrumentation. Die Stimmung ist abgekühlt, erfroren. Jemand verlässt sich auf die bedingungslose Liebe seiner Mutter, ganz egal was er getan hat. Kate Bush selbst hat es perfekt erläutert: „Well, the personality that sings this track is very unfeeling in a way. And the cold qualities of synths and machines were appropriate here. There are many different kinds of love and the track’s really talking about the love of a mother, and in this case she’s the mother of a murderer, in that she’s basically prepared to protect her son against anything. ‚Cause in a way it’s also suggesting that the son is using the mother, as much as the mother is protecting him.” (Skinner 1992). In seiner erfrorenen Stimmung klingt der Song so, als wenn er auch auf die zweite Seite passen würde.
Pulsierende Streicher und ein staccatoartiger Rhythmus kennzeichnen „Cloudbusting“. Der Song handelt von der Liebe zwischen Sohn und Vater, bedroht durch äußere Kräfte. Es basiert auf dem Buch „Book of Dreams“ von Peter Reich, dem Sohn des berühmten Psychoanalytikers Wilhelm Reich. Eine der Ideen von Wilhelm Reich war eine Regenmaschine, der „Cloudbuster“, zu der sie zusammen gingen, um Regen zu machen. Der Vater wird verhaftet, das Kind bleibt allein zurück (damit haben wir eine gegensätzliche Konstellation zu „Mother stands for comfort“). Kate erläutert das so: „And the song is really about that adult looking back at the magic of their relationship, how much they loved it and how for him now that his father is not there anymore that every time it rains he thinks about how they were together out there on the machine cloudbusting. And it makes him happy he finds a way with coping with it.“ (N.N. 1985). Der Song steigert sich zu einem Marsch, fast einem Trauermarsch. Das gibt die Stimmung wieder, verdeutlicht aber auch die Energie der Regenmaschine. Am Schluss die Töne einer anhaltenden Lokomotive, eine Vollbremsung. (Kate Bush sagte, dass dies eine Notlösung gewesen sei – es fehlte ein passender Schluss für das Lied.)
Wie soll man die zweite Seite „The Ninth Wave“ beschreiben? Für mich ist es eine düstere Suite über den Tod und die Wiedergeburt. Ich stelle mir Fragen wie „Hat die Vollbremsung am Schluss von ‚Cloudbusting‘ zum Tod geführt? Ist dies ein Traum im Delirium?“. Diese Suite von Songs hat eine Oberfläche, sie hängen über eine durchgehende Geschichte zusammen. Lassen wir wieder Kate Bush selbst sprechen: „Wir reden über einen Sturm. Da ist ein Mensch bei Sturm über Bord gegangen und kämpft eine ganze Nacht gegen die Wellen, die Müdigkeit und die Gefahr, aufzugeben. Zu dieser Handlung habe ich alle Stücke der zweiten LP-Seite geschrieben. […] Da geht also jemand über Bord, nachts. Er wird wahnsinnig müde, will resignieren. Dann ziehen seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft an ihm vorbei und versuchen, ihn wachzuhalten und durch diese Nacht zu kriegen.“ (Hub 1985)
Was aber verbirgt sich unter dieser Oberfläche, was uns Kate nicht erzählen will, was sie nur andeutet? Auch dazu gibt es von Kate Bush selbst wenigstens einen Hinweis: „Das sind natürlich auch Metaphern für eine sehr tiefe innere Erfahrung, nach der man am anderen Ende als geläuterter Mensch wieder ans Licht tritt.“ (Hub 1985)
Die dunkle und tödliche Anziehungskraft des Meeres (Thomson 2012, S.261) wird heraufbeschworen. Das Meer, das Symbol des Unterbewussten. Die Schiffbrüchige als Symbol des Verlorenseins in sich selbst. In dieser Suite entfernt sich die Protagonistin von Lied zu Lied weiter von der Realität, taucht tiefer ein in das Unbewusste – bis zum Wiederauftauchen im letzten Song. „Ja, wie eine Wiedergeburt. Da ist einmal das äußerliche, körperliche Moment, und dann ein Prozess, der im Kopf abläuft, Gedanken, Reisen zu inneren Räumen.“ (Hub 1985). Durchgehendes Symbol ist das Licht, das leitet – und dieses Licht ist für mich die Liebe. Nur die Liebe in all ihren Aspekten rettet vor dem Untergehen.
In „And dream of sheep“ wird der Rahmen der Geschichte aufgestellt: Eine Schiffbrüchige treibt im nächtlichen Meer, mit Schwimmweste und Notlicht, kaum noch bei Bewusstsein. Eine Gesangsstimme wie im Traum. Stimmen aus dem Leben versuchen sie noch zu erreichen, aber wie von Narkotika betäubt sinkt sie tiefer und tiefer („like poppies, heavy with seed – They take me deeper and deeper“). Auch die Melodie geht hinunter in diese Tiefe. Geht es nur in die Bewusstlosigkeit oder tiefer ins Meer? Ertrinkt sie?
Ohne Pause beginnt „Under Ice“, abrupt sind wir in einer düsteren Zwischenwelt. Wenige Töne erklingen, ein dumpfer Herzschlagrhythmus, Betäubung. Dies ist ein dunkler Traum, eine Erinnerung: Schlittschuhlaufen auf dünnem Eis. Dünnes Eis – die trügerisch-sichere Schicht über den gefährlichen Abgründen. Einsamkeit herrscht, nur einmal ertönt eine ganz ferne Stimme. Dann zersplittert das Eis, die Realität zerbricht. Unter dem Eis ist etwas – das eigene Ich – verbunden mit dem Lautsymbol des Echolots. Die Protagonistin erschreckt, sie erkennt sich in diesem Körper unter dem Eis, versunken. Realität (der Körper unter dem Eis) und Perspektive der Protagonistin (oberhalb der Wasserfläche) beginnen sich zu trennen. Am Schluss ein weiteres Versinken, der Rhythmus erstirbt (stirbt das Herz?).
Übergangslos geht es mit „Waking the witch“ weiter. Stimmen, die danach rufen aufzuwachen. Stimmen, die von dieser Reise abhalten wollen. Das Licht als Symbol der Rettung wird beschworen („Can you not see that little light up there?“). Dann setzt die Panik des Ertrinkens ein, die Stimme der Protagonistin wird zerrissen und zerhackt (als ob sich der Mund mit Wasser füllt), die Melodie und die Stimmung werden hektisch, wirr, laut. Im Delirium wird diese Situation mit der Hexenprobe verschränkt – der Richter (der Teufel?) an der Pforte des Todes, Glocken, Gebete. Der Blackbird (Amsel) – ein Symbol der Seele. Stirbt die Protagonistin, weil sie sich schuldig fühlt? Sucht sie im Sterben nach einer Erklärung? Oder ist dies ein Grenzübergang? Fühlt sich Kate als Hexe? (Ist dies eine ironische Reaktion auf Kommentare zu ihren Videos?) „Waking The Witch“ heißt die Hexe wecken – für mich geht es darum, den Lebenswillen zu wecken – egal wie die Situation ist. Der Richter stellt fest „Not guilty! Wake of the witch!“ (aber beim Hexentest ist man dann nicht schuldig, wenn man untergeht und stirbt).
Eine Ausblendung, eine Pause – erst dann beginnt „Watching you without me“. Diese Pause bedeutet für mich, dass wir jetzt wirklich in einer anderen Welt sind. Auch die Stimme ist zuerst wie nach dem Aufwachen, bevor dann das eigentliche Lied beginnt. Alles klingt ganz entfernt, die Musik ist fremdartig, ruhig, melodisch. Die Protagonistin besucht als Geist ihre Angehörigen. Mit den Lebenden ist keine Kommunikation mehr möglich. Dann wieder zerrissene Stimmen, wie im vorigen Titel, wie im Ertrinken. Es geht noch eine Schicht tiefer in den Tod.
„Watching you without me“ steht in der Mitte von „The ninth wave“, abgesetzt von den drei Liedern davor und den drei Liedern dahinter (die jeweils übergangslose Einheiten bilden). Er ist für mich der emotionale Kern. Beziehungen werden als selbstverständlich angesehen – und ihre tiefe Bedeutung und Wichtigkeit sieht man erst, wenn es zu spät ist, wenn keine Kommunikation mehr möglich ist. Dies ist ein sehr trauriges Lied.
„Jig of life“ beginnt wieder nach einer Pause. Irische Musik aus einer anderen (der diesseitigen) Welt, Erinnerung an Vergangenheit (Musik) und Zukunft (Text). Der Kreuzweg der Entscheidung zwischen Leben und Tod („Now is the place where the crossroads meets“) ist erreicht, Vergangenheit und Zukunft stehen sich gegenüber. Inhalt des Textes ist die Begegnung mit der möglichen Zukunft, dem älteren Ich, während die Musik mit ihren irischen Klängen vom Paradies der Vergangenheit erzählt. Die Zukunft ruft („let me live girl“), Stimmen versuchen die Protagonistin zu halten, das gipfelt zum Schluss in ein Anflehen („never, never, never, never / Let me go“). Vergebens?
Übergangslos beginnt „Hello Earth“ mit leisen Stimmen wie aus einem Raumschiff. Die Protagonistin hat sich verwandelt, sie ist nicht mehr auf der Erde. Sie ist über allem, weit weg von ihrem Leben. Sie beobachtet nur noch von ganz fern den Sturm, der sie das Leben kostet. Sie betrachtet den Sturm – „murderer of calm“ – der die innere Ruhe zerstört und aufgerührt hat, der sie auf diese Schicksalsreise geschickt hat. Das ist überirdisch schön gesungen. Die Protagonistin sieht sich als Licht im Himmel („And look up at the sky / there’s something bright / travelling fast / Look at it go“). Hier ist eine Parallele zu „The Big Sky“, dort wird auch in den Himmel geschaut. Auch dort ist die Realität nicht auf der Erde zu suchen: „They look down at the ground, missing“.
Das Lied enthält dunkle Passagen, aus dem Soundtrack des Herzog-Films „Nosferatu“ entlehnt. In diesem Film geht es um das ewige Leben, die Nacht, Unsterblichkeit. Diese Stimmen kommen nach dem „Look at it go“. Es ist fremdartig, was da am Himmel ist. „Was ich mir vorstellte, waren nicht so sehr klassische Chorstimmen, sondern welche, die irgendwie unheimlich und auch ein bisschen feierlich klingen mussten.“ (Hub 1985) Zum Schluss nur noch einmal eine Erinnerung, wie von fern: „Why did I go?“, dann der geheimnisvolle Chor aus der Gegenwelt. Die Musik verdämmert. Das Echolot (das Symbol für das eigene Ich) ertönt aus der Tiefe, die Musik versinkt. Das eigene Ich taucht noch tiefer, zum Tod hinab. Und dann kommt das Lichtzeichen: „Tiefer, tiefer. Irgendwo in der Tiefe gibt es ein Licht.“ In Deutsch gesungen, in einer anderen Sprache, also fremdartig. Die Rettung liegt ganz tief ein einem selbst, auch wenn man es nicht versteht und erst eine Übersetzung braucht. „Go to sleep little earth“ – der Abschied ist da.
Kate beschreibt diesen Song so: „Ja, das Stück ist der Höhepunkt der zweiten Seite, die einen durchlaufenden Handlungsfaden hat [..]. Es ist sowas wie ein Fiebertraum, das Delirium, bevor der letzte Song kommt, der ganz anders ist, von Hoffnung, Licht und dem anbrechenden Morgen handelt. „Hello Earth“ ist über den Punkt, an dem du nicht weiterkannst, wo du sehr schwach bist. Und da bist du vielleicht bereit, die Dinge zu akzeptieren, jetzt, wo du am Ende deiner Reise angekommen bist. Du hast die Wahl: Dich zu ändern oder weiterzumachen und zu sterben. Das hat natürlich auch eine religiöse Komponente.“ (Hub 1985)
Unmittelbar beginnt „The Morning fog“, laut, es ist wie ein Schritt durch ein Tor, ein Erwachen. „The light / Begin to bleed / Begin to breathe / Begin to speak“ – das Licht in der Tiefe ist erreicht. Vordergründig ist dies ein fröhlicher Aufwecker, so sagt es Kate Bush selbst und alle Interpreten schließen sich an (u.a. Thomson 2012, S.263). Aber wo geschieht das Aufwachen? Ist es das Aufwachen nach dem Tod im Paradies? Ist es die Fröhlichkeit des ewigen Lebens? Die herkömmliche Interpretation ist die Situation nach der Rettung der Schiffbrüchigen – aber davon kommt weder im Text noch in der Musik etwas vor. Stimmiger ist für mich die konsequente Fortsetzung der Geschichte, die immer tiefer hinein in den Tod und in das Wasser zum Licht führt. Das Erreichen des Lichts ist der Beginn eines neuen Abschnitts, eine Wiedergeburt, vielleicht in einem Paradies. Ganz abrupt endet „The Morning fog“ mit einer Liebeserklärung – nach einer Wiedergeburt gibt es nicht mehr viel zu sagen.
„The ninth wave“ ist ein Weg durch das Dunkel. „The ninth wave“ ist ein Kreuzweg, eine Heldenreise in das unbekannte und gefährliche Innere. Nur die Liebe rettet.
Literatur:
Nan Devitt: Interview für “Good Rockin Tonight”, 11/1985
John Diliberto: Interview für “Totally Wired/Songwriter/Keyboard, 6/1985
Andreas Hub: „Kate Bush. Aufgetaucht“. Interview mit Kate Bush. Fachblatt Musikmagazin. 11/1985
N.N.: Night Flight interview, 11/1985
Richard Skinner: Classic Albums interview: Hounds Of Love. Radio 5. Gesendet 26.01.1992
Graeme Thomson: Under the ivy. Deutsche Übersetzung von Tobias Rothenbücher. 2012. Omnibus Press
Autor: Achim, Hannover (aHAJ)
13.9.1982
The Dreaming
Sat In Your Lap – There Goes A Tenner – Pull Out The Pin – Suspended In Gaffa – Leave It Open – The Dreaming – Night Of The Swallow – All The Love – Houdini – Get Out Of My House
The Dreaming: Zehn Blicke auf fremde Welten
Eine Analyse zum Album „The Dreaming“ zu schreiben ist eine Herausforderung. Was kann noch geschrieben werden, was über die bereits existierenden Reviews hinausgeht? Beate Meiswinkel zum Beispiel hat in ihrem wunderbaren Rückblick für diese Webseite [1] alle wesentlichen Punkte zusammengefasst. Was also noch? Ich möchte mich darauf beschränken, Informationen zur Entstehung zu geben, gefolgt von einem Versuch der Einschätzung und Einordnung. Nun gut – das wird trotzdem nicht kurz werden.
Zur Entstehungsgeschichte findet sich eine gute Zusammenfassung in der Biographie von Graeme Thomson [2]. Kate Bush fühlte sich offenbar zunehmend eingeengt durch die Art, in der die ersten drei Alben entstanden waren. Unzufriedenheit ist auch zu spüren über die Art, wie sie früher gesungen hat, Selbstzweifel waren da. Es fehlte zudem bisher aus ihrer Sicht die Fähigkeit, durch die Stimme die „Wahrheit“ auszudrücken [3]: „I think my writing and my voice have continually tried to get better, to be able to do something I actually like. And it’s very frustrating when you are writing songs and singing them, and you’re not enjoying what’s coming back. So hopefully, y’know, it will be become more pleasurable for me, the actual process, because it is painful to listen to things that sound awful, when you really wanted them to sound good.“
Ein grundsätzlicher Wechsel musste her, eine Weiterentwicklung, ein Abbiegen vor einer möglichen Sackgasse: „I couldn’t go on forever as the little girl with the ‚hee-hee‘ squeaky voice“ [4]. Eingeengt fühlte sie sich offenbar auch immer mehr dadurch, dass sie nicht die volle Kontrolle über ihre Musik hatte, auch dies änderte sich mit diesem Album [3]: „[…] and I think that perhaps the biggest influence on the last album was the fact that I was producing it so I could actually do what I wanted for the first time.“
Kate Bush befand sich also an einem aus ihrer Sicht kritischen Punkt ihrer Karriere. Alles musste sich ändern.
Einen wichtigen Anstoß gab die Zusammenarbeit mit Peter Gabriel. Kate Bush war während der Aufnahmesessions für Gabriels drittes Soloalbum dabei (sie arbeitete als Backgroundsängerin mit), in denen auch der charakteristische Drum-Sound für „In the air tonight“ von Phil Collins entwickelt wurde. Kate Bush gab selbst dazu ein paar Andeutungen [5]: „It’s great to hear some really good music coming back. Wasn’t Phil Collins’s In the Air a masterpiece? Well, while I’m trying to organise some tracks to record, I hope you will be having a positive March forward.“. Die Teilnahme an diesem Prozess und der Einblick in die neuen technischen Möglichkeiten war für Kate Bush eine erregende Erfahrung [6]: „Seeing Peter working in the Town House Studio, especially with the engineers he had, it was the nearest thing I’d heard to real guts for a long long time. I mean, I’m not into rhythm boxes – they’re very useful to write with but I don’t think they’re good sounds for a finished record – and that was what was so exciting because the drums had so much power.“
Diese elektrisierenden Erfahrungen führten schnell zur Zusammenarbeit mit dem Toningenieur Hugh Padgham, der diesen Sound mit entwickelt hatte. Das erste Ergebnis war die Single „Sat in your lap“, die dann später auch auf dem Album erschien.
Die weitere Entwicklung des Albums scheint ein quälender Prozess gewesen zu sein. Kate Bush selbst gibt in [7] Einblicke, welche die Probleme zart andeuten (die folgenden Zitate sind aus diesem Bericht). Mit Hugh Padgham wurden die Titel „Get Out of My House“ und „Leave It Open“ aufgenommen. Padgham war noch in weitere Produktionen eingebunden („[…] however, Hugh was too busy to continue […]“), weiter ging es im Sommer 1981 mit Nick Launay („Houdini“, „All the Love“, „There Goes a Tenner“, „The Dreaming“ und „Suspended in Gaffa“). Die Aufnahmen fanden im Studio „The Townhouse“ statt und müssen wieder intensiv gewesen sein („We were working through the warm summer last year, and much dedication was required from all to stay in the studio all day without succumbing to the sun.“). Auch hier lief die Zeit davon („[…] we were all sad that Nick was too busy to continue and that the time at The Townhouse had run out.“). Weiter ging es in den Abbey Road Studios mit Haydn Bendall für „Night of the Swallow“ und „Pull Out the Pin“. Wieder reichte die gebuchte Zeit nicht („The two tracks are finished and Haydn’s time runs out too […]“). Nun stieß Paul Hardiman zum Team, bis Weihnachten 1981 wurde in den Odyssey Studios gearbeitet. Auch hier gab es Zeitprobleme, das Studio stand nicht mehr zur Verfügung. Im Advision Studio wurde schließlich in mühevoller Kleinarbeit das Album abgeschlossen („[…] and the three weeks we booked were to turn into more like three months.“). Offenbar gab es in diesen drei Monaten wenig Freizeit: „Dave [Taylor] was […] the maintenance engineer, and on quite a few nights, when we went home to bed, he would be up all night twiddling inside machines or trying to figure out why the digital machines weren’t working. Every night we ate take-away food, watched the evening news and returned to the dingy little treasure trove to dig for jewels.“
Die Suche nach den Juwelen, nach dem perfekten Klang – es muss für alle eine Grenzerfahrung gewesen sein. Kate Bush entschuldigt sich fast etwas dafür bei ihren Mitstreitern: „Del Palmer engineered all the demos and every night he would sit up in the cramped little control room, getting different sounds for each track. He sat through hours of harmonies and takes of lead vocals, replying ‚I’m not bored‘
as many times as there were cups of tea, and nodding ‚Yeah, Kate, I think it sounds great!‘, a phrase to be echoed by Hugh, Haydn, Paul–Bless you all.“
Es ging in diesem langen Prozess nicht um die eigentliche Komposition, diese Phase war längst abgeschlossen. Die Arbeit bereitete die richtige Ausgestaltung [7]: „Now it’s all finished, I think of the beginning. Twenty demos, ten of which became the album. In these demos all the moods and sounds were captured, and all the way through the album these demos were referred to. Often the session would stop, we’d dig out the 1/4 inch tape of the track we were working on, and with the original flavour and sounds strong in our heads, the session would begin again. In many ways it would have been interesting to have used the demos as masters, they were so spontaneous.“
Nervenaufreibend, belastend, im Kampf mit den neuen Techniken, unter Zeitdruck, wechselnde Wegbegleiter, abhängig von äußeren Einflüssen, die Studiozeiten kosteten wahrscheinlich Unsummen – Kate Bush muss es gehasst haben. Sie äußert sich nicht dazu. Aber in logischer Konsequenz baute sie danach ihr eigenes Home-Studio auf, verwirklichte die Freiheit in der Arbeit.
„The Dreaming“ ist ein Album, in dem die Komponistin und Sängerin ALLES will. Es ist voller Experimente, die Beherrschung des Instrumentariums und der Visionen bedeutete eine praktisch ununterbrochene Arbeitszeit, die an die Substanz ging. Die angestrebte Vision beschrieb Kate Bush so [8]: „I want it to be experimental and quite cinematic, if that doesn’t sound too arrogant. Never For Ever was slightly cinematic, so I’ll just have to go all the way.“ Rhythmen treten stärker in den Vordergrund [9]: „Since drum machines entered my life on the third album, it’s never been the same.“ Der Gesang geht weg von der vorher vorhandenen Süße und Leichtigkeit hin zu mehr Ernst, er ist tiefer und kräftiger, erdiger. Es gibt noch mehr Stimmfärbungen als früher, den Inhalten angepasst, die Stimme ist dabei immer unter völliger Kontrolle. „Es ist fast, als würde man Zeuge, wie ein Mädchen zur Frau wird.“ [2]
Themen des Albums sind Konflikte und Klaustrophobie, Flucht und Zerstörung, der Kampf gegen Hemmnisse und Grenzen [2]. Selbstzweifel werden in verschiedenen Songs angesprochen. Kate Bush fasst das so zusammen [3]: „I think the last album is very dark and about pain and negativity, and the way that people treat each other badly. It was a sort of cry really and I think that perhaps the biggest influence on the last album was the fact that I was producing it so I could actually do what I wanted for the first time. And then there are a lot of things we wanted to experiment with and I particulary wanted to play around with my voices, because there are a lot of different backing vocals and things like that. The different textures were important to me. I wanted to try and create pictures with the sounds by using effects.“
Auch das Einhalten einer stilistischen Grundhaltung war Kate Bush wichtig – hin zu mehr archaischen Formen, zurück zu den Wurzeln der Musik [4]: „I wanted it to be a very human, emotional album. I think we’ve come so far in making music sophisticated that we’re almost in danger of losing the roots. That’s why I think there’s been a return to tribal influences. After all, that’s where rock’n’roll came from in the first place. It’s a very ethnic album, as well, in many respects.“
Graeme Thomson fasst das alles kurz und prägnant so zusammen [2]: „Der Eindruck kaum gezügelter Hysterie in dieser Musik ist nicht allein den düsteren Inhalten der Songs zuzuschreiben, er entsteht auch aus der schieren Menge an musikalischer Information, aus einer Art klanglicher Überlastung.“
Ich teile das nur bedingt. Hysterie kommt nur in wenigen Titeln vor, klangliche Überlastung ist die Ausnahme. Die Songs sind zum großen Teil zwar reich an Informationen, an überraschenden Klangfarben, sie überfordern aber nicht (das ist vielleicht aber nur Gewöhnung). Der Kampf mit der Technik ist zu bemerken, es wird experimentiert und ausprobiert. Das klingt manchmal roh und es ist manchmal auch ein bisschen übertrieben. Kate Bush zeigt was sie kann und eine Reduktion auf das Wesentliche (die Essenz) gelingt ihr erst auf dem nächsten Album. „The Dreaming“ ist wild und ungezügelt, das ist das Schöne an ihm. Die Möglichkeiten werden ausgebreitet ohne Beschränkungen.
Die Analyse des Albums ist natürlich nicht vollständig, wenn nicht auf die Songs eingegangen wird. „The Dreaming“ beginnt mit „Sat in your lap“, das vor der eigentlichen Arbeit am Album entstanden war und als recht erfolgreiche Single die Zeit zwischen den Alben überbrückte. Die Anklänge an Stammesrhythmen sind hier besonders deutlich (hier zeigt sich der erste Einfluss der Zusammenarbeit mit Peter Gabriel und des dort entwickelten Schlagzeugsounds). Die Arbeit an dieser Single und die Integration der neuen Sounds war für Kate Bush wie eine Initialzündung [8]: „I felt as if my writing needed some kind of shock, and I think I’ve found one for myself. The single is the start, and I’m trying to be brave about the rest of it. It’s almost as if I’m going for commercial-type ‚hits‘ for the whole album.“ Der letzte Satz klingt bei Kenntnis des ganzen Albums etwas merkwürdig – aber wer weiß, was Kate Bush in ihrem Herzen für kommerziell hält … In diesem Song geht es [2] um die Erkenntnis, es geht um das Streben nach spirituellem Fortschritt. „Ist Erkenntnis etwas Angeborenes, Instinktives, Sexuelles […], oder kann man sie nur durch lebenslanges Suchen und Streben […] erlangen und selbst dabei möglicherweise versagen?“ [2]. Hier wird das Kernthema des ganzen Albums angesprochen, darum geht es, das hat Kate Bush mit diesem Album versucht zu beantworten. Erzählt wird auch von schöpferischer Frustration, was wohl dazugehört. „Sat in your lap“ ist von einem vorantreibenden Sog erfüllt, wilde Trommeln, hektisches Klavier und später hektische Bläser, so etwas wie Peitschentöne, Töne wie aus einem Stammesritual – Rastlosigkeit. Es ist ein Song ohne Pause. Die Gesangsstimme ist tiefer als früher, zurückgenommen, ebenfalls von Ruhelosigkeit getrieben. Manchmal gibt es fast opernhafte Töne. In einer ganz anderen Tönung Einwürfe, hoch gesungen, wie Kommentare („Some say that knowledge is something that you never have“).
„There goes a tenner“ ist nach Meinung von Thomson [2] das leichteste Stück des Albums. Es ist eine tänzelnde Krimiparodie, aber mit einem düsteren Subtext. Offenbar werden Ganoven von Paranoia geplagt und geben auf, als der Tag der Umsetzung des geplanten Einbruchs gekommen ist [2]. Thomson stellt die Frage, ob dies auch ein Kommentar zu den eigenen Ängsten und Unsicherheiten bei der Produktion des Albums sein könnte. Die Ausgestaltung hat einige Besonderheiten. Der Gesang der Protagonistin ist zurückgenommen, sie singt mit einem deutlichen Akzent. Es gibt comicartige Einlagen („all my words fade“) und dunkle, tiefe, düstere Töne im Chorus („We‘re waiting“), die wie eine Ermahnung aus dem Grab klingen. Karikatur und Düsternis treffen in diesem Song zusammen – es ist ein gereiftes Echo auf das ähnliche „Coffee Homeground“ vom Album „Lionheart“.
„Pull out the pin“ greift den Vietnamkrieg auf, aus der Sicht eines Vietcong. Diese fast filmische Erzählung mit ihren Urwaldgeräuschen holt den Schrecken des Krieges ganz nah heran, macht ihn mit lyrischen und musikalischen Mitteln fühlbar. Er ist ein ganz typisches Beispiel für die Arbeitsweise von Kate Bush. Eine außermusikalische Inspiration (hier eine Sendung im Fernsehen) löste einen Assoziationssturm aus. Hier geht es um etwas Existenzielles, den Kampf einer gegen einen („Just one thing in it, me or him. And I love life!“). Das „And I love life!“ wird geradezu verzweifelt herausgeschrieen, es ist der pure Überlebenswille. Dies ist eine fremdartige und dunkle Atmosphäre, die sich zum Ende hin hinter den Hubschraubergeräuschen – die an den Vietnam-Film „Apocalypse now“ erinnern – in Agonie und Tod verliert.
„Suspended in gaffa“ kreist um die Suche nach Erfüllung, ist aber von Selbstzweifeln und Entfremdung durchzogen [2]. Ein schneller Walzerrhythmus (selten in der Popmusik) hetzt die tiefe Gesangsstimme durch den Song, begleitet von hohen chorischen Stimmen als Begleitung.
„Leave it open“ kann wirklich als hochgradig experimenteller Song bezeichnet werden. Thomson hält ihn für einen verstörenden Song [2]. Für ihn fasst er die düstere Botschaft des Albums zusammen: „Harm is in us“. Die Stimmen in diesem Song sind verzerrt, überall umtosen einen merkwürdige Soundexperimente. Zum schon typischen Schema „tiefe Solostimme / hohe Begleitung“ kommen nun auch Männerstimmen als Begleitung hinzu („Harm is in us but power to arm“). Der etwas lang geratene letzte Chorus geht in eine Schlusssteigerung über, hier hebt der Song richtig ab und nimmt Drive auf. Merkwürdige Stimmen ergänzen nun die eigentlich positive Botschaft „leave it open“ mit einem „Say what we‘re gonna let in / We let the weirdness in“. Auch dies kann als Kommentar zum Album verstanden werden, das ja ausdrücklich das Unheimliche und die Verrücktheit hereinlässt.
Der Titelsong „The Dreaming“ wurde als Single ausgekoppelt. Es ist eine eher ungewöhnliche Single, sie hat nun so überhaupt nichts mit dem Mainstream zu tun. Inspiriert wurde Kate Bush zu diesem Song durch eine Australienreise im Jahr 1978 [2]. Der Song hat das Schicksal der Aborigines zum Thema [2], deren Land ausgebeutet wird und die selbst der zerstörerischen Kraft des Alkohols ausgesetzt sind („devils in a bottle“). Ein „knochenharter Rhythmus bildet das Gerüst des Songs“ [2]. Hier gab es eine Zusammenarbeit mit Rolf Harris, für dessen Song „Sun arise“ Kate Bush geschwärmt hatte, für sie immer noch ein Meilenstein der Weltmusik [2]. Diese Zusammenarbeit sollte sich dann über zwanzig Jahre später mit „Aerial“ fortsetzen. Der ganze Sound des Songs ist australisch inspiriert, ein Didgeridoo ertönt, es ertönen Tierlaute (Schafe?), alles ist wie Musik aus einer fremden Welt. Es erinnert mich an archaische Riten. Auch die Gesangsstimme ist merkwürdig akzentuiert, als ob Kate Bush mit einem Akzent (der Aborigines?) singen würde. Fast überirdische Passagen kommen dazu („Coming in with the golden light“), ferne Einwürfe wie Erinnerungen erklingen („See the light ram through the gaps in the land“). Es ist eine zerrissene Welt, die hier gezeigt wird.
„Night of the swallow“ ist für Thomson ein wegweisendes Stück [2]: „Barocke Balladenkunst geht mit traditionellen keltischen Instrumenten eine bestechend schöne Verbindung ein.“ Diese neue und überraschende Einbeziehung von traditionellen Instrumenten und Stilformen wurde von Kate Bush auch auf späteren Alben aufgegriffen. Sie war damit eine Wegbereiterin für andere Künstler. Überraschend für mich ist der bruchlose Übergang von „The Dreaming“ zu diesen Song – hier vermischen sich Didgeridooklänge mit irischen Klängen, Australien weicht Irland, beide Songs besinnen sich auf die Tradition. „Night of the swallow“ kann am ehesten als Ballade bezeichnet werden. In der Stimmung erinnert es mich immer an „Oh england my lionheart“ vom Album „Lionheart“. Auch dort schimmert die Tradition durch die Pop-Folie.
In „All the love“ trifft ausgefeilte Technologie auf eine sehr reine, fast klassische Singstimme [2]. Der Song beklagt, wie schwer es ist, der Liebe Ausdruck zu verleihen und auf andere zuzugehen [2]. Er endet in einer Toncollage aus verschiedenen Stimmen, die auf einem Anrufbeantworter ihre Stimmen hinterlassen – aber die Protagonistin antwortet nicht. Der Song ist ruhig, melancholisch, traurig. Die Diskrepanz zwischen eigenem Anspruch und den Erwartungen der Welt ringsum werden thematisiert („They think I‘m up to something weird / And up rears the head of fear in me“). Eine ganz zarte, hohe Knabenstimme gibt Hoffnung und Aufmunterung, wie eine himmlische Verheißung: „We needed you to love us too, we wait for your move“. Ein himmlischer Appell? Eine Aufforderung? In der Stimmung nimmt dies schon etwas von „Hello Earth“ vorweg und ich höre auch eine Vorausahnung der reinen, kristallinen Schönheit von „Snowflake“. Linien in die Zukunft werden sichtbar.
Eine faszinierende Studie über das Übernatürliche [2] ist „Houdini“. Ist Liebe stärker als der Tod? Dieser Song ist wieder eines dieser geheimnisvollen Lieder von Kate Bush, der eine ganz konkrete Begebenheit der Geschichte in einem musikalischen Moment zusammenzieht. Harry Houdini war ein amerikanischer Entfesselungs- und Zauberkünstler. Seine Ehefrau Wilhelmine Beatrice „Bess“ Rahner fungierte viele Jahre als seine Bühnenassistentin. Geschildert wird die Geschichte dieser Frau, die von der Liebe zu ihrem toten Mann besessen ist. Wieder und wieder versucht sie, ihn auch im Tode zu erreichen. So groß ist ihre Liebe, dass sie nicht aufgibt. Kann die Liebe schließlich doch den Tod besiegen? Hat die Rettung nicht in der Vergangenheit jedesmal geklappt? Liebe über den Tod hinaus – dieses Thema wurde schon in Kate Bushs erstem Hit „Wuthering Heights“ besungen. Dort kehrte Cathy zurück zu Heathcliff, hier Harry zu Bess.
„Get out of my house“ ist schließlich der dämonische Abschluss des Albums. Er ist der einzige Song, der konsequent auf einen Rhythmus setzt [2]. Im Chorus wird wieder eine fast opernhafte Stimme benutzt, das ist ein sehr theatralischer Effekt („No strangers feet will enter me / I wash the panes I clean the stains away“). Der Song ist inspiriert von Stephen Kings Roman „The Shining“ [2] bzw. wahrscheinlicher von der Verfilmung durch Stanley Kubrick. Es handelt sich vordergründig um ein vom Bösen besessenes Haus, tote Materie wird zum Leben erweckt. „Es ist die Stimme einer Frau, die in ihrem privaten Rückzugsort bedrängt wird“ – das ist die Meinung von Thomson [2]. Ist es eine Parabel auf den Starruhm? Gibt Kate Bush hier ihrem Unterbewusstsein eine Stimme? Beängstigend sind für mich die verzweifelten Schreie im Hintergrund, die immer wieder auftauchen („Get out of my house“). Die Bedrängung findet durch einen Mann statt (ein Echo auf Jack Nicholson im Film?), für mich hat das aber auch etwas von sexueller Nötigung. Eine erschreckende Vorstellung und ein verstörendes Ende des Albums.
Wie kann ich das Album zusammenfassen, wie kann ich ein Fazit ziehen? Ich will es auf eine neue Art versuchen. In Twitter ist die Zeichenlänge für einen Tweet begrenzt und das erfordert viel Kreativität in der Beschränkung. Hier kommt nun als Fazit mein Versuch, die Essenz des Albums in einem Tweet zu erfassen:
„Zehn Blicke auf fremde Welten. Gold und Düsternis, Licht und Hysterie, Traurigkeit und Liebe. Zerrissene Seelen, Himmel und Hölle treffen sich. Schönheit in der Dunkelheit, die gefährlich ist. With a kiss you‘d pass the key.“
Autor: Achim, Hannover (aHAJ)
[1] Beate Meiswinkel: „35 Jahre „The Dreaming“: Pressestimmen und Impression 1982-84“. http://morningfog.de/?p=4857. (gelesen 01.01.2018)
[2] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 230ff
[3] N.N.: The New Music. 3./4. August 1985.
[4] Robin Smith: Getting Down Under With Kate Bush. Unbekannte Quelle. 1982.
[5] Kate Bush: Letter from Kate. KBC article Issue 9. Frühling 1981.
[6] Paul Simper: Dreamtime is over. Melody Maker, 16. Oktober 1982.
[7] Kate Bush: About The Dreaming. KBC article Issue 12. Oktober 1982.
[8] John Shearlaw: The Shock of the New. Record Mirror. September 1981.
[9] Kate Bush: About Hounds Of Love & Interview. KBC article Issue 17.
8.9.1980
Never For Ever
Babooshka – Delius – Blow Away – All We Ever Look For – Egypt – The Wedding List – Violin – The Infant Kiss – Night Scented Stock – Army Dreamers – Breathing
Never For Ever – Auf dem Weg zum fernen Klang
Bei mir hat dieses Album die Leidenschaft für Kate Bush geweckt. „The Kick Inside“ und „Lionheart“ waren Zeichen der Entwicklung einer außerordentlich begabten Künstlerin, mit „Never for ever“ wurde eine neue Ebene erreicht. So erschien es mir damals, ich war voller Faszination – bis heute hat sich an diesem Bild für mich nichts geändert. Ein Tor zu einer ganz neuen Ausdruckswelt tat sich auf.
Mit „Never for ever“ beginnt eindeutig eine neue Phase. Die beiden vorherigen Alben waren so aufgenommen wie eine Band im Studio klingt. Jetzt übernahm Kate Bush mehr Kontrolle. Die Zusammenarbeit mit Andrew Powell, dem Produzenten der ersten beiden Alben, wurde in freundschaftlichem Einvernehmen beendet. Ein „experimentelleres Klangspektrum“ entwickelte sich, das Studio wurde nun „wie ein Instrument“ eingesetzt (1). Entstanden ist so ein außergewöhnlich erfolgreiches Werk – es war das erste Album einer britischen Solokünstlerin, das in den dortigen Charts auf Platz 1 eingestiegen ist (2).
Es ist ein Album, in dem alte Stücke – Songs aus einer früheren Phase der Entwicklung – auf „faszinierende, zukunftsweisende neue Kompositionen“ treffen (1). „Violin“ und „Egypt“ waren bereits bei der „Tour of Life“ dabei, auch „Blow away“ und „The wedding list“ waren bereits komponiert (1). Die weiteren Songs wurden dagegen von einer Grundidee ausgehend im Studio komponiert, verfeinert und entwickelt. Nach meinem Empfinden hat auch ein Wechsel stattgefunden zu mehr vom Rhythmus her aufgebauten und weniger melodiegetriebenen Strukturen.
Bei diesen neuen Songs zeigt sich ein zunehmendes Interesse an den Möglichkeiten der modernen Studiotechnik. Der ganz neue Sampling-Synthesizer Fairlight CMI wurde eingesetzt – eine für die damalige Zeit revolutionäre Technologie. Nur drei Fairlights waren in Großbritannien im Einsatz, einer davon (wohl der von Peter Gabriel) wurde viermal für die Studiosessions ausgeliehen (1). Spuren dieses ersten Ausprobierens einer neuen Technik finden sich überall. Geräusche, die beim Spannen von Pistolen und Gewehren erzeugt wurden, wurden zum Beispiel für „Army dreamers“ gesampelt, menschliche Stimmen für „Delius“, Türgeräusche für „All we ever look for“ und zerbrechendes Glas für „Babooshka“.
Eine Vielzahl ungewöhnlicher Instrumente wird genutzt wie Balalaika, Koto, Strumento de Porco, singende Säge, Mandoline, Sitar – meist von Paddy Bush herangetragen und gespielt. Das gibt der Musik eine zusätzliche exotische Dimension. Kate Bush erläuterte das so: „Sie funktionieren wie beim Zeichentrick – sie fügen hier ein bisschen Rot und da ein bisschen Grün hinzu und sorgen dafür, dass das Bild schließlich vollständig wirkt.“(2) Alles dies war ein „unendlicher Schatz klanglicher Möglichkeiten, ein Tor zu einer neuen Welt“ (1) und führte zu einer immensen Ausweitung der musikalischen Möglichkeiten. „Never for ever“ ist ein Werk, das seine Möglichkeiten für Kate Bush allerdings erst im Laufe der Aufnahmesessions offenbart hatte: „Den letzten Schritt konnte ich damals nicht mehr machen, denn mir fehlte noch der Mut und das Spezialwissen.“ (1)
Beim Hören fällt auf, wie licht, transparent und durchsichtig alles komponiert ist. Jede musikalische Linie ist zu hören. Alle Songs sind mit Selbstsicherheit, Emotion und Delikatesse gesungen, für alle Gefühle werden die entsprechenden Stimmen gefunden.
Der Titel des Albums spielt „auf die Tatsache an, dass das Leben ein vorübergehender Zustand ist und der Tod unausweichlich jeden ereilt, dass wir also „niemals für die Ewigkeit“ hier sind.“ (2) Auch das Cover zeigt den Willen, die Absicht (das verborgene Konzept) des Albums auszudrücken. „Ich wollte rüberbringen, dass wir alle schwarze und weiße Seiten, also gewissermaßen Fledermäuse und Schwäne, in uns haben und dass die Mischung bestimmt, was wir für Menschen sind – wir sind nicht ausschließlich gut oder schlecht, sondern beides. In meinem Fall fließen die schwarzen und die weißen Gedanken beide in meine Musik ein, und auf dem Cover strömen beide aus mir heraus und in das Album hinein. Das wollten wir symbolisch darstellen – die Tatsache, dass wir voller sehr verschiedener Dinge sind, die gelegentlich aus uns herausdrängen – entweder in Zorn oder kanalisiert und in etwas Kreatives umgesetzt“ (2). Und so drängen Wesen aller Art auf dem Cover unter dem wolkengeschmückten (himmlischen?) Rock von Kate Bush hervor: Schwäne, Schmetterlinge, Katzen, Tauben, Fledermäuse, Raben, Monster. Ein Pandämonium von Möglichkeiten – sie werden geboren von Kate Bush (sie entströmen aus dem Schoß unter dem Rock) und sie haben ihre Wurzel in Musik (zuerst sind Noten zu sehen).
Hauptthemen des Albums sind Tod und Vergänglichkeit (2). Viele Titel des Albums beschäftigen sich mit dem Tod („Army dreamers“, „Breathing“, „The wedding list“, Blow away“), mit Vergänglichkeit und Blicken in die Vergangenheit („Delius“, „All we ever look for“, „Babooshka“, „The infant kiss“) und mit Besessenheit („The infant kiss“, „Violin“, „The wedding list“). Aber auch filmische Inspirationen sind wieder dabei: „Delius“, „The wedding list“, „The infant kiss“. Die Songs sind dabei so vielfältig wie die Traumgestalten, die auf dem Cover unter dem Rock von Kate Bush hervordrängen. Düsternis und klares Licht, Schwarz und Weiß vermischen sich.
Mit markanten Akkorden beginnt das Album. Die Hitsingle „Babooshka“ schildert die Geschichte einer Frau, die in eine neue jüngere Persönlichkeit (ein jüngeres Ich?) schlüpft um herauszufinden, ob sie ihren Ehemann erneut verführen kann. Wie in einer dieser russischen Puppen versteckt sich in einer Hülle eine weitere Puppe. Verschiedene Identitäten verstecken sich in einer Person und können herausgeholt werden. Es ist eine Geschichte über das Altern und die Abnutzung des Bewährten. Kann man dies durch einen Wechsel der Identität – also durch eine Täuschung – aufhalten? Zum Schluss hört man das Geräusch zersplitternden Glases – etwas zerbricht (das Alte oder das vorgetäuscht Neue?). Mangel an Vertrauen zerstört die Beziehung (1).
Das zerbrechende Glas von „Babooshka“ geht in den tickenden Rhythmus von „Delius“ über. „Delius“ ist ein melancholischer Song über den Komponisten Frederick Delius, der im Alter schwer erkrankt war und kaum noch sprechen konnte. Sein Kopf war aber noch voller wunderbarer Musik, die er mühsam einem jungen Musiker, Eric Fenby, diktierte. Ein „roboterhafter“ Beat (2) bildet den Untergrund (ist dies die lebenserhaltende Maschine?), gesampelte menschliche Stimmen (1) kommen dazu, Darüber leuchtet das Wunder der Imagination: Melodien gelangen in kleinen, wunderschönen Partikeln nach oben. Inspiration war der Film „Song of Summer“ über Delius von Ken Russell, den Kate Bush als junges Mädchen 1968 gesehen hatte (1). Über zehn Jahre schlummerte dieser Keim für ein Lied und wartete auf die passende Gelegenheit zum Wachsen.
„Blow Away (for Bill)“ ist ein Epitaph für Bill Duffield. Der Lichttechniker war während der Tour of Live durch einen Unfall ums Leben gekommen. Tod und Vergänglichkeit – die Hauptthemen des Albums werden direkt angesprochen. Die Anfangsakkorde nehmen die Akkorde von „Delius“ auf und führen sie fort. Es geht offenbar um das gleiche Grundthema. Wohin geht die Musik wenn wir sterben? Der Tod ist nicht das Ende, die Seele wandelt frei, bis sie sich zu einem neuen Leben entschließt. Dabei trifft sie eine Reihe verstorbener Musiker: Minnie Riperton, Keith Moon, Sid Vicious, Buddy Holly, Sandy Denny, Marc Bolan. Auslöser war offenbar (2) ein Artikel, in dem Menschen ihre Nahtoderfahrungen beschrieben. Die Menschen verließen ihren Körper und trafen am Ende eines langen Flures alle ihre toten Freunde. Sie waren glücklich und fröhlich. Dann sagten die Freunde, dass die Person nicht bleiben könne und so fand sie sich schließlich in ihrem Körper wieder. Kate Bush fand diese Vorstellung sehr anrührend, dass nach dem Tod die Seele des Musikers in einen Raum gelangt, in dem alle verstorbenen Musikerkollegen warten, um gemeinsam Musik zu machen.
Ein prachtvoller, fast majestätischer Marsch: „All we ever look for“. Es geht um die Wünsche und Bedürfnisse, die sich von einer Generation zur nächsten wandeln und verändern. Es geht um die Erwartungen, die Eltern an ihre Kinder haben: „All they ever want for you / Are the things they didn’t do“. Es geht um die Sicht der Kinder, die es auf jeden Fall anders machen möchten: „All we ever look for – our own tomb“. Alle sind stets auf der Suche nach etwas und meist finden sie es nicht. Ein ewiger Kreislauf der Suche. Man weiß nicht, wo man suchen muss und welche Türen die richtigen sind. Im Song öffnen sich diese Türen, man horcht in die neuen Räume hinein, wägt ab, geht weiter. Hinter der letzten Tür erklingt der Applaus des Publikums – und diese Tür schließt sich nicht. Die Größe und Ungewöhnlichkeit dieses Songs begeistert mich immer wieder aufs Neue.
Eine von Synthesizern geprägte Traumfantasie, schwül und fast erotisch – „Egypt“. Ägypten, das von Tod und Auferstehung und von Ewigkeitsgedanken geprägte Land. Diese Mysterien überwältigen gleichsam die Sängerin. Die Katze – in Ägypten als heiliges Tier hoch verehrt – dient dabei als spiritueller Führer.
Vom Film „Die Braut trug schwarz“ von Francois Truffaut inspiriert ist „The wedding list“. Dort wird ein Mann während seiner Hochzeit ermordet und die Braut nimmt blutige Rache an den Todesschützen. Diese Grundidee des Films ist übernommen und auf eine für Kate Bush typische Art und Weise gefiltert und mit persönlichen Erfahrungen und Assoziationen angereichert. Wieder ist so eine Art Kommentar zur ursprünglichen Kernidee entstanden. Es ist ein perfektes „Psychodrama in vier Minuten“ (1). Traumhaft ist der Chorus mit seinen Kirchenglocken im zweiten Durchgang: die Erinnerung an diese blutige Hochzeit. Das sind nur kurze Ruhepunkte, schnell kommt die Protagonistin wieder hinein in ihren Racherausch. Aber kann es nach dem Ende dieses Feldzugs Ruhe und Frieden geben? Die Protagonistin versinkt im Wahnsinn – so höre ich das Ende mit den sich immer mehr steigernden Rufen und Schreien nach dem toten „Rudi“.
Mit dem nächsten Song geht der Wahnsinn weiter. „Violin“ ist eine musikalische Orgie, die in ihrer Wildheit versucht die Grenzen zu sprengen. Die Violine ist die manische Hexenmeisterin, die die Menschen in den Irrsinn treibt. Ist dies vielleicht ein Totentanz? Oder eine Hymne auf die Kraft der Musik?
Gäbe es einen Wettbewerb nach dem doppelbödigsten Song von Kate Bush – meine Wahl würde auf „The infant kiss“ fallen. Kein anderer Song spielt so stark mit den Erwartungen des Hörers und zieht einem so subtil den Boden unter den Füßen weg. Vorlage für den Song ist Henry James Erzählung „The Turn of the Screw“ (dtsch. „Die Drehung der Schraube“) bzw. die darauf aufbauende Verfilmung „The Innocents“ (1). Auf kongeniale Art und Weise werden die verschiedenen Ebenen der Vorlage musikalisch umgesetzt. „The infant kiss“ ist komplex, ist kühn, erkundet unerforschtes, verbotenes Terrain. Er schildert die Überwältigung durch vollkommen unerwartete Gefühle. Er lässt offen, was real ist und was nicht, was sich außen wirklich abspielt und was nur im Inneren. Der Song endet nicht, es gibt einen direkten Übergang nach dem letzten „let go“ in „Night scented stock“. Eine schwüle Gegenwelt tut sich dort auf, erotisierend, ohne Text, nur noch Vocalisen. Ist dies die sexualisierte Gegenwelt, die die prüde viktorianische Protagonistin von „The infant kiss“ verdrängt und der sie sich nun wortlos öffnet?
Den Schluss des Albums bilden zwei weitere Höhepunkte. „Night scented stock“ geht direkt in einen traurigen Walzer über. „Army dreamers“ ist einer der großen englischen Antikriegssongs, getarnt als Top20-Hit (3). „Ich schreibe nur dann über so etwas, wenn mich politisch motivierte Handlungen emotional berühren“, sagte sie in einem Interview zu „Never for ever“ (2). Das Lied handelt von einem toten Soldaten, der von seiner Mutter betrauert wird. Eine Trauerfeier auf dem Flugfeld, sein Sarg wird hereingetragen von vier Soldaten. Sie denkt mit Wehmut an die Vergangenheit und an das, was aus ihrem Sohn hätte werden können. Geschickt werden so Muttergefühle – also eine sehr emotionale und persönliche Empfindung – mit einem politischen Statement verbunden. „It’s just putting the case of a mother in these circumstances, how incredibly sad it is for her. How she feels she should have been able to prevent it. If she’d bought him a guitar when he asked for it.“, erläuterte Kate Bush dies in einem Interview (4). Die Melodie ist eingängig, glänzend, meisterlich melodisch – ein Glücksfall. Kate Bush hat hier neue Mittel probiert – „It’s the first song I’ve ever written in the studio“ (4) – und gewonnen.
„Breathing“ setzt mit „seinen schicksalsschweren, kraftvollen Akkorden einen dramatischen Schlusspunkt“ (2). Der Text beschreibt die Sicht eines ungeborenen Kindes im Mutterleib während eines Atomkriegs. Das Ungeborene kann dem Schrecken nicht entkommen, obwohl der Leib der Mutter es umhüllt und schützt. Es bekommt alles mit und muss alles mit ertragen. Kate Bush erklärt das so: „It’s almost like the mother’s stomach is a big window that’s like a cinema screen, and they’re seeing all this terrible chaos.“ (5) In der Überleitung nach dem zweiten Chorus zur Coda erklärt eine männliche Stimme die Auswirkungen der Bombe – diese sachlichen Informationen wie aus einem Radio verstärken das Grauen. In der Coda wird ständig „we are all going to die without“ wiederholt – dann endet der Song mit einem tiefen Ton, der wie eine erneute Explosion aus der Ferne hineinhallt. Das Ende bleibt offen. Der Song ist „eine wirkliche Verbindung aus Experiment und Emotion. Es ist eine überwältigende Kombination.“ (1) Thomson fasst es so zusammen: „Es ist ein komplexes und intensives Stück voller Liebe, Schrecken und böser Vorahnung.“ (1)
Es spricht für den Eigensinn von Kate Bush, dass neben dem eingängigen „Babooshka“ diese zwei Antikriegssongs als Singles ausgekoppelt wurden. Es spricht für ihr sicheres Gespür, dass sie zudem noch erfolgreich waren.
„Never for ever“ entstand in kräftezehrenden Sessions, in Wiederholung um Wiederholung. „Hinter ihrer unnachgiebigen Arbeitsweise und ihrem hartnäckigen Festhalten an einer Idealvorstellung steckt die Suche nach dem Moment der Transzendenz, das Bestreben, den Klang, den sie in ihrem Kopf hört, so nahe wie möglich zu kommen, sodass ein geheimnisvoller, magischer Augenblick voll emotionaler Wahrheit entsteht“ (1). Eine Künstlerin ist hier auf der Suche nach der Vision, dem idealen Klang. Dieser ferne Klang kann nur in besonderen Glücksmomenten erreicht werden, wenn alle Beteiligten eins sind. Auf diesem Album ist dies an vielen Stellen gelungen. Das esoterische Terrain der ersten beiden Alben ist in fremde, „exoterische“ Gefilde ausgeweitet worden. „Never for ever“ klingt so auch heute noch frisch, gewagt, eigensinnig, neugierig und eigenständig. Ich kann nur empfehlen, es öfter zu hören.
(1) Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 199-222
(2) Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.109-125
(3) Pat Gilbert: Army Dreamers, Mojo 10/2014. S.74
(4) Colin Irwin: „I find myself inspired by unusual, distinct, weird subjects“. Interview im Melody Maker 4.10.1980.
(5) Jim Wirth: Never for ever. Kate Bush – The ultimate music guide. uncut. S.44-47
Autor: Achim, Hannover (aHAJ)
12.11.1978
Lionheart
Symphony In Blue – In Search Of Peter Pan – Wow – Don’t Push Your Foot On The Heartbrake – Oh England My Lionheart – Fullhouse – In The Warm Room – Kashka From Baghdad – Coffee Homeground – Hammer Horror
Lionheart – Rollenspiele und Theater
Der Sensationserfolg von „Wuthering Heigths“, das erfolgreiche Erstlingsalbum „The Kick Inside“ – was kann nun folgen? Die Situation war für Kate Bush paradox. Auf der einen Seite der Glanz des Ruhms, auf der anderen Seite der Druck, sich jetzt beweisen zu müssen. Am zweiten Album entscheidet sich, ob es weitergeht oder ob man wieder in der Versenkung verschwindet. EMI hatte vor dem ersten Album Jahre Zeit gegeben (eine Investition in eine möglicherweise prospektive Zukunft), jetzt galt es, diesen „Lauf“ fortzusetzen. Ein neues Album musste her, so schnell wie möglich, eine Tour hatte zu folgen. Es ist bekannt, wie sehr Kate Bush es hasst, unter Druck zu arbeiten. Jetzt war dieser Druck da (und wahrscheinlich reifte hier der Entschluss, nie wieder in eine solche Situation zu kommen). Auch das Umfeld war schwierig. Kate fühlte sich nicht frei in Ihren musikalischen Entscheidungen, der Produzent störte bzw. hatte andere Visionen als sie selbst, es gab Zerwürfnisse unter den Studiomusikern. Zudem waren nur wenige Wochen Zeit für neue Kompositionen, viele Songs entstanden vor oder zeitgleich zum ersten Album, gerade einmal vier Titel sind nach Kate Bushs eigenen Angaben neu (Jovanovic 2006, S.92). Das Ergebnis ist überraschenderweise ein Album, dem man diese Schwierigkeiten nicht anmerkt.
Mit einer ruhigen Ballade beginnt das Album. In „Symphony In Blue“ wandert die Stimme frei und ohne Beschränkung durch den Tonraum. Unterschiedliche Stimmfärbungen, und Eintönungen, Hintergrundstimmen wie schattenhafte Echos – all dies gibt dem Song eine fast schon unheimliche Tiefe. Der Text spiegelt die innere Situation in Analogien, in verschiedensten Facetten und Farben wieder. Blau ist die private, in sich versunkene Innenwahrnehmung. Rot ist die Liebe, der Sex, die Eifersucht – der Text ist hier wieder einmal sehr eindeutig. Im Chorus vergleicht sich Kate mit einer Melodie auf dem Klavier, die für die Sinfonie (= das Leben, die Gemeinschaft) gebraucht wird – und dieses Gefühl vertreibt die Angst vor der Welt, vor dem Tod. Das ist eine Reise, die sie ganz tief in ihre eigene Seele hineinführt (Thomson 2013, S.153). Dieser Auftakt des Albums spricht in Bildern über die eigene Situation: Die Musik rettet.
„In Search Of Peter Pan“ ist ein weiterer ruhiger Titel. Von Melodie kann man hier nicht sprechen, es sind eher Ausrufe, mit offenen Enden. Der Chorus ist deutlich abgesetzt in einem anderen Rhythmus und viel melodiebetonter. Im Text geht es um das Herauswachsen aus der Kindheit, geschildert aus der Sicht eines Kindes. Laut Kate (Jovanovic 2006, S.92) geht es darum, wie leicht ein junger, unschuldiger Geist kontrolliert und manipuliert werden kann, ohne dass man das wirklich möchte. Den Song prägt ein sehr theatralisches Flair, das durch das Musikzitat aus Walt Disneys Pinocchio noch verstärkt wird (Jovanovic 2006, S.92). „When you wish upon a star Your dreams come true“ – dieses Schlusszitat zeigt an, dass es möglich ist, sich von seinen Zwängen und von einengenden Personen zu emanzipieren. Das lässt sich natürlich als verdeckter Kommentar zu Kates damals aktueller Situation deuten.
Mit einem bruchlosen Übergang geht es weiter mit „Wow“ und seinem ersten Satz „We’re all alone on the stage tonight“ – Träume werden wahr, die Kindheit ist vorbei und plötzlich steht man allein und zitternd auf der Bühne. Ruhig, fast hereinschleichend beginnt es, zum Chorus hin wird er schneller und treibender – das ist eine Steigerung mit „Wow“-Effekt. Der Song ist voller dramatischer Wucht (Jovanovic 2006, S.92) und ein Kaleidoskop aus Verweisen auf die Bühne und auf das Showbusiness. Ausgiebig und ironisch werden im Text Lieblingsworte von Kate wie „amazing“, „ooh yeah“, „incredible“, „fantastic“, „wow“, „unbelievable“ benutzt, dafür ist sie nach Interviews immer belächelt worden. Das Lied ist ein sehr ausgereifter Titel, der schon für „The Kick Inside“ auf der Liste stand (Jovanovic 2006, S.92) und zu Recht ist er als Single ausgewählt worden.
„Don’t Push Your Foot On The Heartbrake” ist von zielloser Melodik geprägt, fast paranoid springend, verschiedene Stimmen wetteifern um die Vorherrschaft. Der Chorus ist hart, treibend, als ob die handelnde Person angetrieben oder angefeuert wird. Im Text geht es um eine Frau in innerer Disharmonie, schwankend zwischen Depression und Manie, die Zerrissenheit der Melodie spiegelt das wieder. Der Song erinnert an Patti Smith und zeigt rockige Härte (Jovanovic 2006, S.93). Hier finden sich schon Vorboten der teilweise hemmungslosen Wildheit, die viele Songs der nächsten beiden Alben prägen wird.
Mit „Oh England My Lionheart“ folgt ein drastischer Tempowechsel. Ein zurückhaltendes Arrangement, Klavier, Flöten, Cembalo, berührender Gesang – das Lied verströmt ein beinahe mittelalterliches Flair (Jovanovic 2006, S.93f). Überall im Text finden sich England-Verweise (London Bridge, Shakespeare, die Themse, der Tower und seine Raben), alles ist von Sehnsucht geprägt. Kates Gesang aber lässt alles Zuckersüße an dem Titel verfliegen. (Jovanovic 2006, S.93f). Diese melancholische, ganz ruhige und romantische Ballade ist ein perfektes, trauriges Schmuckstück und hat damals sofort mein Herz für das Album gewonnen.
Das Lied ist eine ganz persönliche Herzensangelegenheit. Für das Persönliche spricht, dass der Text im Booklet handschriftlich abgedruckt ist. Kate mag den Titel nicht mehr, möglicherweise deckt er doch zu viel aus dem Inneren auf. Er ist aber eindeutig das Zentrum des Albums, nicht ohne Grund spiegelt sich dies im Namen des Albums wieder. Die perfekte Kombination aus Musik und Text ist tief bewegend, sie bedient sich unvergesslicher Bilder, verortet Erinnerungen in Zeit und Raum (Thomson 2013, S.153).
Ein Krieg ist beendet („The soldiers soften, the war is over.“), ein abgeschossener Militärpilot kommt in seinem Sarg zurück in sein geliebtes England („Dropped from my black Spitfire to my funeral barge.“). Das Lied ist ein Strom von Erinnerungen, Bildern, Emotionen. Jemand kommt nach Hause, aber es ist nur noch eine Zwischenstation auf einem Weg ohne Rückkehr, es ist die Wehmut des endgültigen Abschieds.
Sind die ersten fünf Titel Kommentare zur eigenen Situation? Sie haben auf jeden Fall eine verwandte Thematik – es sind Titel, die nach innen schauen, die persönliche Sichten wiedergeben.
Die zweite Albumhälfte beginnt mit „Fullhouse“, fast atonal in der Melodieführung, wild, „neben der Spur“. Thomson spricht von „verworrener Melodie“ (Thomson 2013, S.153), das lässt sich nachvollziehen. Im Text geht es um das alte Selbst, das zurückkommen will. Das Lied ist voll von gegenläufigen Stimmen: Ein Mensch mit gespaltener Persönlichkeit, der mit seinen inneren Dämonen kämpft (Jovanovic 2006, S.94). Diese „ausbrechenden“ Titel („Don’t Push Your Foot On The Heartbrake”, „Fullhouse“) sind noch eher grob und noch nicht so ausgefeilt wie auf den nächsten beiden Alben.
„In The Warm Room“ ist eine ruhige Ballade, klavierbetont, sinnlich gesungen, schwül. Das Lied befasst sich sehr offen mit Sex, aber aus männlicher Sicht (Jovanovic 2006, S.94). Im Text geht es um die Begegnung zwischen einer Frau (einer Prostituierten?) und einem männlichen Protagonisten. Alles hier ist sexuell aufgeladen, die Erotik findet sich selbst in den Stimmfärbungen wieder (z.B. auf „marshmallows“). Das Lied macht den Zuhörer zum Voyeur (Thomson 2013, S.153). Wir schauen bei geheimen, verbotenen, ganz intimen Dingen zu.
„Kashka From Bagdad“ erzählt die rätselhafte Geschichte eines schwulen Paares, das sich in einem Haus verbirgt. Inspiriert wurde der Song von einer Krimiserie, in der es auch um ein düsteres altes Haus ging (Jovanovic 2006, S.94). So ein visueller Anstoß bildet wie so oft bei Kate Bush den Kern für dann etwas ganz anderes: Ein altes Haus mit zwei Menschen, von denen niemand wirklich viel weiß, ein schwules Paar, Exotik (Bagdad), Geheimnisse, Liebe. Eine Nachtmusik, exotische Klaviertöne, wie von der anderen Straßenseite herüberklingend, Melodiefetzen, Stimmen von Gegenüber. Die Coda nimmt die Stimmung dieser warmen Nacht auf. Der Gesang ist besonders abgerundet und weich (Jovanovic 2006, S.94).
Coffee Homeground“ setzt den Theaterfaden fort. Bei mir treten sofort Assoziationen an das Musical „Cabaret“ auf. Kate singt teilweise mit deutschem Akzent und tiefer Stimme. Im Chorus ist die Stimme sehr hoch, abwechselnd mit der tiefen Stimme wird hier praktisch ein Duett/Dialog gesungen. Das ist originell und exaltiert.
Der Text ist düster, dreht sich um Mord, Gift, Intrige. Angeblich wurde er durch eine Fahrt mit einem Taxifahrer inspiriert, der glaubte, von einem anderen vergiftet zu werden (Jovanovic 2006, S.95). Im Song ist die handelnde Person zu Besuch, wähnt sich immer in der Gefahr (Befürchtung?) vergiftet zu werden. Thomson mag den Song nicht, hält ihn für eine müde Mischung aus Krimi und Brecht-Parodie (Thomson 2013, S.153) – aber da fehlt vielleicht der Sinn für schwarzen Humor, Groteske und Unsinn.
Ein dramatischer Beginn, Filmmusik setzt ein, wie aus einem Horrorfilm: „Hammer Horror“ beginnt. Dann kommt die Stimme dazu, die geheimnisvoll über der dunklen Grundierung schwebt und dann höher und schneller wird. Faszinierend und sehr theatralisch!
Die Hammer Studios sind ein englisches Filmunternehmen, das in den 60’ern und 70’ern zahlreiche cineastische Schauermärchen produzierte (Jovanovic 2006, S.95). Das Lied ist inspiriert vom Film „Der Mann mit den tausend Gesichtern“, in dem James Cagney den Stummfilmdarsteller Lon Cheney bei seiner Interpretation des Glöckners von Notre Dame spielte (Jovanovic 2006, S.95). Im Text werden alle diese Elemente zu einer neuen Einheit zusammengefügt. Der Glöckner von Notre Dame als Symbol der Dunkelheit („You stood in the belltower, But now you’re gone. So who knows all the sights Of Notre Dame?“) wird mit dem Thema der Zweitbesetzung (“I’m the replacement for your part”) verknüpft. Schuldgefühle und die Schatten der Vergangenheit kommen dazu (“Rehearsing in your things, I feel guilty. And retracing all the scenes, Of your big hit, Oh, God, you needed the leading role. It wasn’t me who made you go, though.”) Alles wird verwoben zu einer düsteren Szene. Der Chorus ist schnell und treibend mit verschiedenen Stimmfärbungen, am Ende des 2. Chorusabschnitts gibt es Töne, die schon „Never For Ever“ anklingen lassen. Am Schluss des Liedes verklingt die Musik fast atonal, tiefer Trommelwirbel, ein Gong ertönt: Vorhang auf – jetzt beginnt die Vorstellung!
Das Album ist von der Stimmung her ganz anders als „The Kick Inside“ (Jovanovic 2006, S.92). Es enthält gewagtere Stücke, ungewöhnlichere, sie sind experimenteller in der Musik und im Ausdruck. Ein erstes Album soll ja auch nicht überfordern, vielleicht wurden sie deshalb nicht verwendet und waren „übriggeblieben“.
Wahrscheinlich auch durch die bevorstehende Tournee bedingt sind viele Songs recht theatralisch angelegt. Der Sound liegt auf halbem Weg zwischen einem Soundtrack und einer Musikrevue (Jovanovic 2006, S.92). Das Album ist voll von Theaterszenen, Bühnenauftritten, Stimmen, Masken und Rollenspielen – und dahinter verstecken sich Blicke nach innen, intime und emotionale Elemente. Auch das Cover zeigt, dass es um Maskierung geht: Kate in einem Löwenkostüm.
Dieses Album schlägt eine andere Seite auf als „The Kick Inside“. Der Aufbruch ist einem Hinaustreten in das grelle Licht der Bühne gewichen. Alle Augen sind auf dich gerichtet, du musst dich verstellen, maskieren, dein Inneres schützen. Dieses Verbergen von Momenten großer Intimität macht für mich den Reiz dieses weithin unterschätzten Albums aus. Mir war es wegen dieser Doppelbödigkeit immer näher als „The Kick Inside“.
Literatur
• Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen
• Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH.
Autor: Achim, Hannover (aHAJ)
17.2.1978
The Kick Inside
Moving – The Saxophone Song – Strange Phenomena – Kite – The Man With The Child In His Eyes – Wuthering Heights – James And The Cold Gun – Feel It – Oh To Be In Love – L’Amour Looks Something Like You – Them Heavy People – Room For The Life – The Kick Inside
The Kick Inside: Eine Analyse
Mit „The Kick Inside“ legte Kate Bush 1978 ein Erstlingswerk vor, das bis heute erstaunt. Eine unbekannte Sängerin und Komponistin von gerade achtzehn Jahren tritt nach vorn und präsentiert einen Korb voller Juwelen.
Im Gegensatz zu späteren Alben hatte Kate Bush hier noch nicht die Freiheiten, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Sie musste sich als Neuling mit einem Produzenten (Andrew Powell) und einer handvoll von Studiomusikern arrangieren. Sie kam mit der Musik, spielte sie am Klavier vor (jeder Song war vollständig ausgearbeitet), die Band erarbeitete recht frei dazu die Begleitung. Alle arbeiteten als Team (Jovanovic 2006, S.66). Die Produktion stellt Kates Stimme dabei in den Mittelpunkt und deckt sie nicht mit vielen Schichten zu. Das Ergebnis ist ein abgerundetes Gemeinschaftswerk und präsentiert Kate Bush und ihre Musik als das was sie ist – etwas Außerordentliches.
Mit unheimlichen Tönen – als ob sich etwas aus dem Dunkel des Unterbewussten ins Licht erhebt – beginnt das Album mit „Moving“. Die Töne verwandeln sich in Walgesänge, seltsam und faszinierend. Das Meer klingt an, ein Thema ganz vieler Bush-Songs. Der Song mit seiner hin und her schwingenden Melodie präsentiert die ganze Bandbreite der gesanglichen Möglichkeiten von Kate. Das Thema des Songs: Sex mit einem Fremden, das Brechen der Unschuld („You crush the lilly in my soul“ – die Lilie als Symbol der Reinheit). Besser als mit diesen Bildern kann man es kaum aufzeigen, dass dieses Album ein Aufbruch ist. Ein neues Leben beginnt.
Mit weiteren Walgesängen (jetzt deutlicher konturiert, ohne das Unheimliche) wird zu „The Saxophone Song“ übergeleitet. Die Stimme „schleicht“ durch die Harmonien, es gibt viele kleine Umspielungen der Melodietöne. Die Gesangsdarstellung ist dabei eine „kraftvolle, eher schnörkellose“ (Jovanovic 2006, S.67). Der Schluss entwickelt sich zu einem hypnotischen Irrgarten aus Melodiepartikeln. Auch in diesem Lied geht es um Sexuelles. Die Anziehungskraft wird beschrieben, die ein unbekannter Saxophonspieler in einer Bar auf die Protagonistin ausübt.
„Strange Phenomena“ wird nach einem ruhigen Beginn mit unklarer verschleierter Harmonik beschwingter. Zufälle und Koinzidenzen spielen im Text die Hauptrolle, aber auch der „punctual blues“ – die Menstruation.
„Kite“ ist schnell, fast rockig, „Reggae-Feeling“ (Jovanovic 2006, S.68) stellt sich ein. Die Stimme springt extravagant durch das Lied, im Chorus gibt es viele Taktwechsel (4/4, 3/4). Der Song macht einen sehr exaltierten Eindruck und erinnert in der Stimmung schon an das dritte Album „Never For Ever“. Ein Lied über das Abheben, über das sich befreien, über das sich in einen Drachen über allem verwandeln.
Eine ruhige, stimmungsvolle Ballade setzt ein: „The Man With The Child In His Eyes“. Kates Stimme ist hier tiefer, ruhiger, fast fraulich – und das, obwohl dieses Lied von einer 16-Jährigen gesungen ist (der Song stammt aus ersten Sessions im Jahre 1975). Ein Lied über einen unsichtbaren Begleiter, wie ihn Kinder oft haben? Oder vielleicht doch über einen sehr viel älteren Freund? Passiert da etwas Anstößiges? Wie so oft bei Kate ist es doppelbödig. Es wird dem Hörer überlassen, wie tief und abseitig er den Text auslegen will. Kate selbst gibt in Interviews höchstens harmlose Andeutungen von sich – und die Abgründe lässt sie aus.
„Wuthering Heights“ – bei jedem Wiederhören überrascht mich die wilde Originalität. Selbst nach 35 Jahren klingt dieses Lied „neu“. Es würde heute noch genauso viel Aufsehen erregen wie damals. Es ist ein Titel, der sich ganz vehement allem entgegenstellte, was zu dieser Zeit angesagt war (Jovanovic 2006, S.68).
Der Song schildert eine Episode aus dem Roman „Wuthering Heights“. Er ist inspiriert vom Ende einer Verfilmung dazu: eine Hand, die durch ein Fenster kommt, Geflüster. Kate macht sich die Leidenschaft, die Gewalttätigkeit, die Abgründe der Romanheldin zu Eigen (Thomson 2013, S.118). Der Song fasst die Essenz des Romans in vier Minuten zusammen, besser als es jede Verfilmung bisher geschafft hat. Die Emotionen brennen sich beim Zuhörer ein. Die Stimme ist ganz hoch, schrill, geisterhaft – die Protagonistin des Romans sucht ihren Liebhaber als Geist heim. Es gibt viele Taktwechsel, besonders im Chorus (2/4, 3/4, sonst 4/4, 2/4). Dadurch entsteht ein Rhythmus, zu dem man nicht richtig tanzen kann, es ist unwirklich, neben der Welt. Die Melodie springt über zwei Oktaven hin und her, ohne Fixpunkt, ohne richtigen tonalen Schwerpunkt. Wie kann so ein Lied ein Hit werden? Es lässt noch heute das Herz erschauern. Es ist noch heute ein Schlag in das Gesicht jeder Mainstream-Popmusik und zeigt zugleich, was sich Popmusik trauen kann.
Ein krasser Gegensatz dazu „James And The Cold Gun“, ein tanzbarer Rock/Pop-Titel, der rockigste Titel des Albums. Es gibt nur kleinere stimmliche Besonderheiten, insbesondere in den Gegenstimmen, von Kate im „Comic-Stil“ gesungen.
„Feel It“ beginnt einen kleinen Zyklus von drei Liedern über das, was bei einem „One night stand“ passieren kann. Das Lied ist ruhig, balladesk, intim, klavierbetont, die Stimme ist erwartungsvoll. Sex, spontan, nach einer Party, unerwartet. „Oh To Be In Love“ ist eine melodiebetonte Ballade. Die Stimme ist an den Enden der Strophen sehr hoch, alles ist emotional. Es ist der merkwürdige Morgen nach einem Abenteuer, alles in diesem Lied drückt die Sehsucht nach Liebe und einer Beziehung aus. Das Gefühl danach – könnte es bei einem selbst mehr sein als nur eine flüchtige Begegnung? „L’Amour looks something like you” – die Protagonistin kann „ihn“ nicht vergessen. Immer wieder taucht er in ihrer Vorstellung auf, sie kann sich nicht von Fantasien über ihn lösen. Die Musik ist ruhig, die Stimme umspielt die Melodietöne. Das ganze Lied ist eine sexuelle Erinnerung.
„Them Heavy People“ ist ein Schritt in ein anderes Gebiet. Ein vorwärtstreibender Titel mit einem merkwürdigen Rhythmus, eine Art stolpernder Tanz (jemand ist noch nicht im Gleichgewicht). Im Chorus dann ein geradliniger Rhythmus, die Richtung ist gefunden – vorwärts. Der Song erzählt von den Inspirationen, Anstößen, Schubsern, die andere Menschen der Sängerin gegeben haben. Er erzählt von den Menschen, die sie in die richtige Richtung gestoßen haben.
Mit „Room For The Life“ haben wir wieder eine Ballade vor uns. Taktwechsel (4/4, 2/4) akzentuieren den Rhythmus wie kleine Wellenbrecher. Der Schluss ist fast afrikanisch inspiriert. Das Lied handelt von der Kraft der Frauen, es beschwört die weibliche Kraft, es ist eine Hymne an die Schwangerschaft (Jovanovic 2006, S.70).
Der Schluss des Albums ist einer der Höhepunkte: „The Kick Inside“. Ein ganz ruhiger Titel, melancholisch, in sich selbst versunken. Der Text ist „äußerst kraftvoll“ (Jovanovic 2006, S.71), eine Inzestbeziehung wird thematisiert. Die Schwester wird schwanger von ihrem Bruder und begeht Selbstmord. Das Lied enthält den Abschiedsbrief. (Jovanovic 2006, S.71). Ganz unerwartet endet die Melodie, sie bricht auf einer Note mittendrin einfach ab. Ein offenes Ende, eine Wendung in Moll (ins Dunkel) auf dem letzten Ton, ein Hinaustreten. Als Hörer steht man da und ist plötzlich und unerwartet allein, der Schmerz dieses Abschieds dringt nach einer Schrecksekunde ein. Ich möchte hineingreifen und der Protagonistin meine Hand reichen – aber es ist zu spät. Das ist grandios.
Das Album zeigt „das erste Erwachen einer sehr starken Songwriterin“ (Jovanovic 2006, S.71). Die Texte sind „für eine Popkünstlerin sprachliches Neuland“ (Thomson 2013, S.117). Die Themen sind auch heute noch tabuisiert. Wer singt heute von Inzest, One-Night-Stands, Menstruation, Sex aus weiblicher Sicht? Das ist immer noch kein Mainstream – und vor diesem Album tat das niemand. Vor kurzem habe ich die Musik zusammen mit einem Freund gehört, für den das Album bis auf „Wuthering Heights“ neu war. Beim Mitlesen der Texte kam ein bewunderndes „Wow! – Ganz schön starker Tobak – achtzehn Jahre? – Und das haben sie veröffentlicht?“. Die Bilder sind originell, manchmal beängstigend, ursprünglich („Beelzebub is aching in my belly-o“). „Selbst die Liebesgeschichten sind von Sinnlichkeit geprägt, schauen ganz genau auf die Spitzen und Strümpfe, Feuer und Kerzenschein, Fakt und Fantasie.“ (Thomson 2013, S.117)
Das Album ist voller Stimmen und voller schöner Geschichten. Der Gesang (auch der Begleitgesang) ist „manchmal wirklich überwältigend“ (Jovanovic 2006, S.71), die Stimme geht über ein ganz weites Spektrum. Die schlichtesten Momente des Albums sind dabei oft die schönsten, das ist reine, unverfälschte Emotion. Die Frische der Stimme, die Unbefangenheit, der jugendliche Überschwang sind herzerfrischend (z.B. „Kite“).
Alles an diesem Album ist Aufbruch und Abschied zugleich. Veränderung, Entdecken, der Aufbruch in eine neue Welt, dies sind die großen Themen. Es erzählt von den Veränderungen, die mit der erwachenden Sexualität einhergehen, von den Ängsten und Zweifeln der Selbstfindung in der Phase des Erwachsenwerdens.
Graeme Thomson fasst den Eindruck so zusammen: „Es gab nichts, was vergleichbar klang.“ (Thomson 2013, S.144). Besser läst es sich nicht sagen. Hier verstellt sich niemand, hier zeigt jemand seine Seele. Ganz großes Kino – immer noch neu – immer wieder gut.
Literatur
1) Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen
2) Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH.
Autor: Achim, Hannover (aHAJ)
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