Das Song-ABC: Prelude

Es ist selten, dass ein anderthalb Minuten langes Musikstück, minimalistisch in seiner Gestaltung, die Stimmung eines ganzen darauffolgenden Albums in sich enthält, sie vorwegnimmt. Prelude schafft das für den zweiten Teil von Aerial aus dem Jahr 2005, die Suite A Sky of Honey
Ein durchgehender, schimmernder Akkordteppich bestimmt das Stück, schwebend, mit ganz leichten Veränderungen. Es ist, als ob zartes, flimmerndes Licht über einer ganz ruhigen, intimen Szenerie liegt. Dazu erklingt eine Amsel im Hintergrund. Eine fast geheimnisvolle Stimmung wird aufgebaut, es ist die Stimmung eines lichtdurchfluteten Sommermorgens. Ringeltauben rufen, das Klavier nimmt den Rhythmus des Taubengesangs auf. Man könnte dazu A Sky of Honey singen, das hat den gleichen Rhythmus. Dann setzt die Kinderstimme von Kate Bushs Sohn Bertie ein, er spricht leise einige Worte: „Mummy… Daddy… The day is full of birds. Sounds like they’re saying words“. Der Taubenruf wandelt sich dabei ganz allmählich, es ist so als ob dahinter Worte, Bedeutungen aufscheinen. Aber dieser Text ist nur zu ahnen, er ist nicht richtig zu verstehen. Für mich klingt es nach vielfachem Hören wie „You could talk to me“, aber ich würde mich darauf nicht festlegen lassen. Die Klaviermelodie wird immer bewegter, beschwingter und Prelude geht in das nächste Stück über, in Prologue. Hier nimmt Kate die scheinbar naive Aussage aus „Kindermund“ mit einem „We’re gonna laughing about this“ auf und interpretiert sie auf ihre Weise. Was sagen uns die Vögel mit ihrem Gesang? Das ist die zentrale Frage dieser Suite. 
„Hammer Horror“ sagt es zu Prelude auf [1] kurz und zutreffend: „It is amazing how she manages with just a simple tune to give you such a deep feeling of beauty“. Der Titel Prelude enthüllt schon die Bestimmung des Stückes. Ein Präludium in der klassischen Musik ist ein Einleitungsstück, das in „Verbindung mit einer Fuge, Suite, aber auch einer Oper, Motette oder einem Choral auf die Hauptkomposition hinführen soll“ [2]. „Die Kombination ‚Präludium und Fuge‘ hat als erster konsequent Bach in seinen Orgelwerken eingeführt. Im 19. Jahrhundert bildet es als ‚Prélude‘ ein selbstständiges Instrumentalstück vor allem für Klavier (Chopin, Debussy)“ [2]. Schon der Name sagt es: Das was folgt gehört nicht mehr nur zur Popmusik, es gehört auch zur klassischen Musik. Der Titel dieses Einleitungsstücks ist ein klares Statement. 
Musikalisch bereitet Prelude auf die folgende Suite vor. Es steht in cis-Moll. Dies ist nach Beckh [3] die Sehnsuchtstonart der klassischen Musik. Bei Beckh finden sich viele Hinweise, wie diese Tonart interpretiert werden kann. Diese Beschreibung gibt genau die Stimmung von Prelude wieder. Cis-Moll ist eine warme Tonart voller Schwermut, die in unserem Herzen die verborgenen Quellen der Sehnsucht öffnet. Etwas von der leuchtenden Schönheit der parallelen Dur-Tonart E-Dur gießt sich auch über cis-Moll aus, anstatt Sonnenlicht ist es das sanftere Licht des Mondscheins. Cis-Moll ist in höchstem Maße eine romantische Tonart. Nocturnes von Chopin stehen in dieser Tonart, ebenso die Mondscheinsonate von Beethoven. 

Prelude steht in cis-Moll, diese Tonart mit ihren vier Kreuzen und stimmungsähnliche Kreuztonarten finden sich dann in der ganzen Suite A Sky of Honey wieder. Auffällig ist die alleinige Verwendung dieser Tonarten dort. Nie bisher hat es bei Kate Bush eine solche Konzentration in der Verwendung stimmungsverwandter Tonarten gegeben. Alle Tonarten der Sky-Seite mit ihren mindestens vier Kreuzen gehören zu den warmen, hochromantischen und mystischen Tonarten, die nach Beckh den Nachmittag, die Sonne, die Wärme und die Dämmerung symbolisieren. Allein schon die Tonarten bilden ein Band, das alle Teile der Suite miteinander verbindet, beginnend mit Prelude. Auch inhaltlich ist Prelude mit den Stücken der Suite eng verwoben, denn A Sky of Honey „wandert mit seinen neun aufeinander abgestimmten Musikstücken einmal durch Tag und Nacht, wobei uns immer wieder das wechselnde Licht und Vogelstimmen begegnen“ [4]. Alles beginnt mit dem lichtdurchfluteten Morgen, mit Vogelstimmen und der Frage, was diese Vogelstimmen uns sagen wollen. Antworten darauf gibt Kate Bush in den weiteren Stücken. Der auslösende Vogelruf ist dabei der der Ringeltaube. Die Taube hat vielfältige symbolische Bedeutung, ist in der christlich geprägten Welt aber immer mit Reinheit und mit Gott verbunden. „Die Tauben sind rein und ohne Nebenabsichten. So eignen sie sich als bildhafter Ausdruck für den reinen Geist Gottes, der uns mit Gottes Liebe erfüllt und uns innerlich reinigt von allem, was unser wahres Bild beschmutzen möchte“ [5]. Folgerichtig sprechen in Prelude die Tauben mit einem Kind, Unschuld spricht mit Unschuld, daraus entspringt alles Leben. 
Prelude ist einfach, schön, bezaubernd. Kate Bush bringt uns zur Ruhe und stimmt uns ein auf die darauffolgenden Songs. Unser Empfinden schwingt sich so ein auf die Stimmung von A Sky of Honey, wir sind bereit zum Fühlen. Der mit Prelude gepflanzte Samen kann sich entfalten. © Achim/aHAJ
[1] https://www.tapatalk.com/groups/thehomegroundandkatebushnewsandinfoforum/prelude-t501.html (gelesen 30.07.2025)
[2] http://www.klassik-heute.de/4daction/www_infothek_lexikon_einzeln/253 (gelesen 30.07.2025)
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner; Stuttgart 1999. S.268
[4] https://prlbr.de/2017/kate/prelude/ (30.07.2025)
[5] https://www.herder.de/el/hefte/archiv/2015/6-2015/die-taube-symbol-fuer-heiliges/ (gelesen 30.07.2025)

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