Kommt Kate auf die Bühne zurück?

Die besten Interviews sind die, in denen jemand ohne Not etwas erzählt, womit man nicht unbedingt rechnen kann. Peter Gabriel bietet sich da schon mal an, der vor vielen Jahren die Existenz von Kates Sohn öffentlich gemacht hat und vor der Bekanntgabe der Before the dawn-Konzerte einen entsprechenden Hinweis gegeben hat. Jetzt hat niemand anderes als David Gilmour in einem Gespräch mit der englischen Tageszeitung The Guardian am Donnerstag Fragen von Lesern beantwortet – und mit Blick auf Kate erstaunliches erzählt. Die Frage: Can you get Kate Bush back on stage soon? Seine Antwort: Nur Kate Bush selbst könne Kate Bush zurück auf die Bühne bringen. Dann folgt ein besonderes Lob: 2014 sei er an mehreren Abenden zu den Konzerten gegangenen und es sei eine der besten Live-Shows gewesen, die er je gesehen habe. Und dann schiebt er noch einen Satz hinterher: „I’ve tried persuading her recently, actually. Gently.“ David Gilmour hat also versucht, ganz vorsichtig Kate zu neuen Konzerten zu überreden und redet darüber. Da darf man auch mal kurz durchatmen.

Ich zitiere mal Achim, der das Interview gestern entdeckt hat: „Mir stellt sich da eine Frage. Seit über zehn Jahren hat Kate Bush keine neue Musik herausgebracht. Was hat man da als enger Freund für einen Anlass, sie vorsichtig auf einen neuen Live-Auftritt anzusprechen. Ist etwa etwas Neues in der Pipeline?“ Zumal es ja in der Tat so ist, dass Kate zehn Jahre nach den Before the dawn-Konzerten nicht einfach das gleiche Material erneut spielen könnte. Den Fans wäre das vermutlich zwar vollkommen egal und man würde wieder in Scharen zu den Konzerten pilgern, nur um sie live singen zu hören – aber es dürfte kaum ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden. Bliebe also nur ein vollkommen anderes Konzept – etwa ihre Songs mit großem Orchester oder Kate nur mit Klavier und vielleicht noch, ein, zwei weiteren Musikern – oder aber neues Material plus eine Auswahl von Songs, die bei Before the dawn nicht gespielt wurden. Seit längerer Zeit macht schon ein Gerücht die Runde, dass es ein fertiges Album gibt, zu dem Kate auch Konzerte geben wollte. Das Gerücht bezieht sich allerdings noch auf die Pandemiezeit, die die Pläne angeblich verteilt haben soll. Nach der Pandemie soll es dann keine Konzerte gegeben haben, weil die Hallen nicht buchbar gewesen seien. Eine Bestätigung dafür hat es nie gegeben und es gab nur vereinzelt Hinweise, dass Kate mit Musikern im Studio gestanden haben könnte, um Songs einzuspielen. Interessant ist, dass David Gilmour zwar erzählt, dass er versucht habe, Kate zu Konzerten zu überreden, aber ihre Antwort nicht erwähnt. Warum eigentlich nicht? Wenn sie Ja gesagt hätte, dürfte er es nicht sagen, wenn sie abgelehnt hätte, würde man das aber wiederum nicht verschweigen. Oder?

Leaving My Tracks: Das Tagebuch ihrer Lieder

Vron Ongley mit dem Buchcover der nie erschienenen Biograhpie Leaving My Tracks. Foto: Beate Meiswinkel

Von Beate Meiswinkel
Kate Bush hat schon immer sehr sorgfältig darauf geachtet, nur das zu veröffentlichen, hinter dem sie hundertprozentig steht. Auf diese Weise verblieben etliche Dinge im Ideenstadium oder in der Schreibtischschublade. Dieser Tatsache verdanken wir Werke von außergewöhnlicher Tiefe, voller Kreativität und Originalität. Leider blieb uns dadurch auch vieles versagt. Wir haben uns an lange Pausen zwischen Alben ebenso gewöhnt wie an den beinahe völligen Rückzug der Künstlerin aus der Öffentlichkeit. Eher schmerzlich ist dabei das Wissen um Projekte, die es beinahe in die Veröffentlichung geschafft hätten. So hoffen wir nach wie vor auf das immer unwahrscheinlicher werdende Erscheinen einer Before The Dawn-DVD/Blue Ray, mit der viele von uns fest gerechnet hatten. Zum Greifen nahe, doch unerreichbar bleibt auch ein literarisches Frühwerk mit dem Titel Leaving My Tracks (ca. 1981). Die Produktion seitens des Verlags Sidgwick & Jackson Limited war immerhin schon so weit gediehen, dass Entwürfe eines Schutzumschlags einschließlich Preisangaben, ISBN-Nummern und Klappentexten der Autorin gedruckt wurden. Bei meinem Besuch in England traf ich beim 2024er Katemas-Treffen auf Vron, die Besitzerin eines dieser raren Exemplare. Sie hatte dieses sorgfältig gerahmte Schätzchen mitgebracht, so dass ich Gelegenheit hatte, die Zeilen einer jungen Kate Bush zu lesen, die betonte, ihr allererstes Buch sei weniger als Autobiographie gedacht – ihr ginge es vielmehr um den Austausch mit ihren Fans und LeserInnen:
Ich habe nie zuvor ein Buch geschrieben, denn mein Hauptaugenmerk liegt auf Songtexten. Das eröffnet mir einen Bereich, in dem ich Aspekten meines Lebens eine Stimme verleihen kann, die ich normalerweise nicht niederschreiben würde, ohne dass sie fest von einer Melodie umhüllt wären.

Beim Lesen dieser Klappentexte wird einem wehmütig ums Herz. Sie erinnern an die anfängliche Offenheit und Unbefangenheit einer Künstlerin, die Texte für das KBC Fanclub-Magazin schrieb und Cartoons zeichnete, Interviews in ihrem Elternhaus gab und den Fans häufig persönlich begegnete. Sie besaß ein großes Interesse daran, über ihre Arbeit zu sprechen und wollte auch erfahren, was ihre ZuhörerInnen an ihren Texten und ihrer Musik bewegte. Leaving My Tracks wurde zweifellos in diesem Sinne geschrieben. Kate Bush hatte drei Alben veröffentlicht, die Tour of Life absolviert und sich künstlerisch weiterentwickelt: Mit (…) Never For Ever habe ich angefangen, als Produzentin zu arbeiten und beginne nun, Antworten auf die Frage zu finden, wie man Sound-Gemälde malen kann. Ich wollte schon immer malen können! Diese Bestrebungen brachten uns ihr wahrscheinlich kreativstes und mutigstes Album The Dreaming (1982) und anschließend die erste größere Pause zum Folgealbum. Die bislang überwiegend lobenden, positiven Pressestimmen hatten begonnen, fieser und gemeiner zu werden. Am neuen Album schieden sich die Geister. Und Kate selbst zog sich wieder stärker in ihr Privatleben zurück. Vorüber waren die Zeiten herzerfrischender, ehrlich gemeinter Offenheit. Leaving My Tracks wurde ca. 1983 zurückgezogen. Ich frage mich, wie weit das Manuskript wohl bereits gediehen war.
Mit den auf dem Umschlag angekündigten 144 Seiten und einem quadratischen Format von ca. 30 x 30 cm hätte das Buch vielleicht an ein Fotoalbum erinnern sollen. Sicherlich hätte der große Bruder John den Löwenanteil des Bildmaterials beigesteuert. Von ihm stammen die beiden Covermotive, von dem eines die achtjährige Kate zeigt und das zweifellos aus der „Cathy“-Ära stammt. Dank der Klappentexte können wir davon ausgehen, dass Kate in eigenen Worten ihre Geschichte bis 1980/81 erzählt hätte, gespickt mit Kindheitserinnerungen und persönlichen Anekdoten, Gedanken und Einsichten. Sicher hätte sie über die liebevolle Unterstützung zu Hause geschrieben, über ihre Erfahrungen im Studio und auf der Bühne mit der K.T. Bush Band. Der Titel deutet ferner darauf hin, wie dankbar sie für die Möglichkeit war, ein Leben als erfolgreiche Künstlerin zu führen und dafür, ihre Spuren in der kulturellen Landschaft hinterlassen zu dürfen. In dem Bewusstsein, was sie in nur wenigen Jahren erreicht hatte und der Ahnung, welches Potenzial noch erschlossen werden wollte, nahm sie dieses Leben nicht als Selbstverständlichkeit hin.
Für mich war es faszinierend, wie alles gekommen ist, bis zu diesem Punkt, an dem ich nun dieses Buch schreibe. Ich hinterlasse Spuren meiner selbst – hier ein Video, dort einen Schnappschuss, alte Songs, neue Songs, der verlorene Handschuh, die Adresse auf jemandes Hand, Texte, die vielleicht noch in einem Regal in Frankreich liegen, und selbstverständlich dieses Buch – wie ein Tagebuch meiner Lieder.

Jahrzehnte später kam sie doch noch darauf zurück: Mit How To Be Invisible – Selected Lyrics griff sie den „Spirit“ von Leaving My Tracks in anderer Form wieder auf. Wer aufmerksam die Einführung der Autorin in die zweite Auflage dieses wunderschönen Bändchens aus dem Jahr 2023 liest, findet vieles wieder: das glänzend braune Klavier des Vaters, die musikalischen Einflüsse und Unterstützung der Familie, und wie dank eines mäusezernagten Harmoniums im elterlichen Schuppen und dem späteren Erwerb des berühmten Fairlight Synthesizers die Soundgemälde unserer Klangmalerin entstehen konnten. Man sagt ja, nichts gehe jemals wirklich verloren. Dennoch wäre es wunderbar, ein Exemplar von Leaving My Tracks in Händen zu halten. Oder einer Before the Dawn-DVD. Oder eines ganz neuen Werks… letzteres ist wohl am wahrscheinlichsten.

Klappentext I

LEAVING MY TRACKS   KATE BUSH
I was born in Kent on a Wednesday in 1958. In a house where my mother would ‘Diddly-di-da’ me to sleep with Irish airs and my brothers’ music swirled through the doors to mix with the birds singing in the garden, it was not unusual for me to join in with the shanties I knew or to explore the keyboard as I had seen my father do on his brown shiny piano. The pattern was set at an early age and I was brought up in a secure and loving family. I went to a local (convent) school where I learnt violin and some music theory which were invaluable, and later changed from violin to singing lessons.
Over the years my music became more important to me, I spent more time on my hobby, and with the encouragement and inspiration of my family I began to realize that this was where my heart lay. My brother Jay felt that my songs were getting good, so he contacted an acquaintance, Mr Ricky Hopper, and asked him to come and listen to my songs.
This was the beginning of where I am now. Ricky was in the record business and asked Dave Gilmour, whom he knew, to listen, too. Due to Dave I recorded my first professional tapes at the age of sixteen and was offered a recording contract with EMI. I wanted to leave school and knew the time had come to throw myself into a land of music and dance. I was very moved by Lindsey Kemp’s production of Flowers and impressed with him as a teacher. This inspired me to go on to take mime and dance lessons for two years on a more serious level.
I then became the singer in the K.T. Bush Band, a three piece, and we toured the local and London pubs. The band consisted of three great friends of mine and after only a few months at my new job it was time for my first album to be recorded. It was hard for me to believe, but in 1977 we made The Kick Inside, and in January 1978, with the release of ‘Wuthering Heights’, I became known by many more than I had been before.
Since then my world has become a wonder – a second album, Lionheart, my first tour, travelling, the honour of being welcomed and beckoned and experiencing so many things. With my last piece of plastic, ‘Never For Ever’, I began to produce and at last am starting to find some answers about how to paint sound pictures. I’ve always wanted to be able to paint.

5.95 £ soft
8.95 £ hard
UK ONLY

Klappentext II

For me, in many ways, my life began just five years ago. I suddenly saw something I wanted badly and felt was real – music, dance and life as an expression of both. It hit me so hard, like a revelation, that I am still reeling and it’s nothing to do with fame, it’s an obsession. It’s been fascinating for me how this has all come about, right up to writing this book. Leaving myself behind in traces – a video here, a snapshot there, old songs, new songs, the lost glove, the address on someone’s hand, lyrics maybe still lying on a shelf in France and, of course, this book like a diary of my tracks. I’ve never written a book before, my endeavours being mainly in lyrics, and this opens an area for me where I can voice sides of my life I would not normally put onto paper without a melody hugging them tight. It is not meant to be an autobiography, although it inevitably will be in so many ways, but more a sharing of my attitudes and emotions loosely based around the theme of writing and recording an album. I’ve written this for both of us to read – you and me – and it will be fascinating to see what we both think about it.
Kate Bush

Klappentext III
PUBLICITY JACKET
144 pages, including 8 pp colour b&w illustrations throughout
5.95 £ (soft) 8.95 £ (hard) 312 x 309mm (board size) 306 x 306mm (trimmed page size)
Jacket design: Bartholomew Wilkins and Partners
Back cover: aged eight
Cover photographs are by John C. Bush and are copyright © by Novercia Ltd.
ISBN: 0-283-98798-7 (hard)
ISBN: 0-283-98799-5 (soft) Sidgwick & Jackson Limited
1 Tavistock Chambers, Bloomsbury Way
London WC1A 2SG                       GO681

Mit herzlichem Dank an Vron Ongley, ohne die dieser Beitrag nicht hätte geschrieben werden können.

Das Song-ABC: Watching You Without Me

Mit Watching You Without Me haben wir einen der experimentellsten und interessantesten Songs von Kate Bush vor uns. Der Song ist ein abgrundtief trauriges, eher langsames Stück, das sich mit Einsamkeit, Verzweiflung und dem Versagen der Kommunikation beschäftigt.
Der Song beginnt mit einem fast wortlosen Stöhnen von körperlosen Stimmen, die um Worte ringen. Wie aus geschlossenen Mündern gesungen murmeln sie „You can’t hear me / You can’t hear me / You can’t hear what I am saying / You can’t hear what I am saying to you“ [17]. In der Bridge hören wir dieselbe Stimme, jetzt stakkatoartig, zerrissen und verzerrt, wie durch gebrochenes Glas betrachtet: „Listen to me, listen to me / Talk to me, talk to me, please / Listen to me, listen to me / Help me, help me, baby“ [17]. Diese zerrissene Stimme haben wir auch schon in Waking The Witch, dem Titel davor, gehört. In einem Lied über das Versagen bei Kommunikation kann nicht einmal der Refrain vollständig gehört und verstanden werden. Darüber singt die Protagonistin, leise und traurig, wie verloren, unsichtbar und unerreichbar: „There’s a ghost in our home just watching you without me.“
Dazu hören wir eine ganz reduzierte Musik, ein fast kalt wirkendes Rhythmus-Pattern. Jeder Takt ist so eine skeletthafte Musik, wir sind gefangen in einer fremdartigen musikalischen Welt. Danny Thompson spielt Kontrabass, Stuart Elliott ist am Schlagzeug. Ab und zu hören wir Streicher, Klänge aus einer fernen, sinnlich-romantischen Welt. Der Song driftet immer mehr ins Unwirkliche ab. Hier ist nichts von der Wildheit der beiden Songs vor und nach Watching You Without Me zu spüren. Die Welten von Waking The Witch und Jig Of Live sind weit weg. „It is like this calm refrain between the songs“ [14].
Wir können Watching You Without Me nicht analysieren, ohne das Umfeld des Songs zu betrachten. Der Song ist das mittlere Stück der aus sieben Songs bestehenden Suite The Ninth Wave dieser alptraumhaften, fast filmischen Geschichte einer Frau, die ins Meer gespült worden ist, die durch Angst, Visionen und den Tod geht, um am Schluss gerettet (oder wiedergeboren) zu werden. And Dream Of Sheep ist dabei nach [13] der Beginn der Reise, das Bewusstwerden der Situation. In Under Ice beginnt die Identität zu verschwinden, in Waking The Witch tritt die mentale Krise ein. Dann kommt unser Watching You Without Me, der Verlust der Identität, der mentale Tod. In Jig Of Live kommt dann wieder Hoffnung auf, durch das Fegefeuer von Hello Earth geht es dann hinein in das Leben mit The Morning Fog [13]. Watching You Without Me steht also in der Mitte der Suite und wird jeweils flankiert von drei Songs. Diese anderen Songs gehen ineinander über, Watching You Without Me aber ist abgegrenzt, steht so für sich allein. „Sound Chaser“ stellt im Bush-Forum [15] die spannende Frage: „Warum ist er in der Tracklist flankiert von jeweils 3 anderen Songs, aber als einziger ohne Crossfade?“ „Dreamin‘ Architect“ gibt in [15] hier eine gute Erklärung. Der Song ist eine Unterbrechung des Lebensflusses der Protagonistin, daher steht er für sich allein. Die Protagonistin ist aus dem Leben gerissen, zumindest temporär, steht ausserhalb der verbliebenen Lebenden, kann nicht mehr mit ihnen kommunizieren. Die drei Songs davor und dahinter stellen ein Gleichgewicht her. Jig Of Live holt sie dann genauso nach unten ins Leben zurück wie sie in Waking The Witch nach unten in den Tod/Nahtod abgedriftet/ertrunken ist. Besser als „Dreamin‘ Architect“ kann ich das auch nicht sagen.
Sam Liddicott geht in [14] ebenfalls näher auf diese beiden begleitenden Songs ein und beleuchtet so die Rolle und Funktion von Watching You Without Me genauer. Die beiden Begleiter sind für ihn zwei der energetischsten und intensivsten Lieder auf The Ninth Wave. Davor kommt Waking The Witch: „This is a terrifying song where one can sense the protagonist slipping away or letting her nightmares take over.“ Jig Of Live ist ganz anders: „That song is like an awakening; almost a call from the skies for the heroine – who, in the suite, is stranded at sea and trying to keep afloat/san.“ Und zwischen diesem Hinab in das Grauen und dem Ruf des Lichts haben wir diese ruhige Brücke, die Watching You Without Me bildet, wir sind in einer eigenen Welt, halten inne.

Nach der alptraumhaften Intensität von Waking the Witch scheint auch eine gewisse Schockstarre zu herrschen. Die Protagonistin hat wohl aufgegeben und bleibt verloren in einer Art geisterhafter Traumwelt zurück. Ihre Gedanken wenden sich den Menschen zu, die sie liebt. Sie denkt daran, wie sie sich um sie sorgen müssen. „„You can‘t hear me“ flüstern die Hintergrundstimmen im vielleicht traurigsten Moment des Albums“, so sagt es Graeme Thomson [1]. Die Protagonistin sieht sich als Geist im eigenen Haus stehen. Das ist eine Nahtoderfahrung, mit der die Protagonistin hier konfrontiert wird. „Im Rahmen von Nahtoderfahrungen haben die Betroffenen oft das Gefühl, über ihrem Körper zu schweben und zu beobachten, was geschieht“ [18]. Der Tod und das Mädchen, so könnte dieser Song auch heißen. Durchnässt von Wasser kann sie nur zusehen. Sie sieht zum ersten Mal, wie ein Leben für die Menschen um sie herum ohne sie aussieht. Das ist ein Tiefpunkt, aber „ultimately it leads into the strong, life-giving connection with life and time and ancestry that is Jig of Life“ [13].
Kate Bush hat sich recht ausführlich über den Song geäußert. „The most upsetting one to do on this album was Watching You Without Me. That’s such a sad thought…“ [7]. Was wollte sie mit dem Lied ausdrücken? In einem Beitrag für den Kate Bush Club hat sie das klar formuliert ([4] – meine Übersetzung): „Das Lied handelt davon, wie sehr sie nach Hause möchte. Das ist wirklich das, was sie am meisten will, einfach nur in der gemütlichen Atmosphäre ihres Zuhauses zu sein, in der Sicherheit dieser vier Wände und des festen Bodens, und mit dem Menschen zusammen zu sein, den sie liebt. Sie merkt, dass sie im Geiste dort ist, und ihr Liebster sitzt in einem Stuhl am Feuer, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie in Wirklichkeit nicht dort sein würde. Sie ist nicht real. Und obwohl sie ihren Mann sehen kann, kann er sie nicht sehen – sie kann in keiner Weise mit ihm kommunizieren. Es ist mehr ein Albtraum als alles andere bisher, denn so nahe kam sie noch nie einer Art von Trost, und doch ist es am weitesten davon entfernt.“ Im Hintergrund geht es Kate Bush auch um das Thema Entfremdung ([6] – meine Übersetzung): „Das Lied sagt viel darüber aus. Eine ähnliche Situation könnte existieren, wenn es um Scheidung ginge. Sie wissen schon, der Ehemann kommt zurück, um seine Kinder zu sehen, aber er ist nicht länger Teil des Hauses. Stattdessen ist er nur ein Beobachter, der von den Leuten dort nicht mehr gesehen wird, weil seine Rolle so anders geworden ist. Ich schätze, es muss ein Gefühl der Unsicherheit in mir geben, das mich in diese Richtung denken lässt.“
Kate Bush hat immer wenig Informationen über ihr Privatleben oder das ihrer Familie gegeben. Es bleibt also offen, ob es einen familiären Auslöser dafür gab, so etwas in einen Song einzubauen. Mit ein paar Jahren Abstand fasste sie das alles 1992 so zusammen: „And I find this really horrific, [laughs] these are all like my own personal worst nightmares, I guess, put into song“ [5]. Es geht Kate Bush hier um ganz persönliche Dinge, es geht um die Familie. Das wird auch durch die Bühnenshow „Before The Dawn“ 2014 bestätigt. Für die Inszenierung des Teils von „The Ninth Wave“ verwendet Kate ihre echte Familie. Ihr Sohn Bertie liegt zu Watching You Without Me auf der Couch im heimeligen Zimmer. Die zweite Person scheint ein Schauspieler zu sein, obwohl auch vermutet wurde, es könnte sich um ihren Ehemann (oder ihren Vater) handeln [12]. Eine Ähnlichkeit mit diesen realen Personen war sicherlich beabsichtigt.

Wie hat Kate Bush nun diese ganzen Dinge musikalisch umgesetzt? In den Hintergrundstimmen gibt es Texte, die für sie aber versteckt sein sollten. Die Protagonistin ist in einer Zwischenwelt, sie versucht zu kommunizieren, aber ihre Botschaften kommen bei den sich um sie sorgenden Familienmitgliedern nicht an. „And when we started putting the track together, I had the idea for these backing vocals, you know, [sings] „you can’t hear me“. And I thought that maybe to disguise them so that, you know, you couldn’t actually hear what the backing vocals were saying“ [5]. Offenbar hat sie dabei an verschiedenen Stellen einen Trick eingesetzt. Sie hat den Text rückwärts eingesungen und dann wieder rückwärts abgespielt. So klingt es wie ein normaler Text, aber verzerrt und verfremdet. Kate Bush hat zuvor denselben Trick für das Outro von Leave It Open verwendet [9]. Welche Textteile das sind, darüber gehen die Meinungen auseinander. In [17] zum Beispiel werden die Zeilen „You don’t hear me” und „We see you here” genannt. In [9] findet sich auch ein Teil der Bridge: „Don’t ignore, don’t ignore me / Let me in and don’t be long“. Aber über den genauen Text sind sich alle Transkriptionen nicht einig, Kate Bushs Verschleierung hat also funktioniert. Kate Bush bestätigt aber, dass sie dieses Verfahren benutzt hat. „Well, that’s something I’ve been experimenting with for a while […]. It’s just a way of using backwards ideas, but actually saying something cohesively“ [8]. „Sound Chaser“ sagt es im Kate Bush Forum [15] sehr treffend: „Grandioses Beispiel, wie jedes von Kate genutzte Produktionsmittel einzig und allein die Message des Songs unterstreicht.“
Schaut man sich die musikalische Ausgestaltung mittels der Partitur [2] genauer an, so wird dieses Urteil bestätigt. Auffällig ist schon das Taktmaß. Der ganze Song steht im 4/4-Takt, es gibt keine Abweichung. Dies ist ungewöhnlich für Kate Bush, die sonst sehr häufig Taktwechsel und kleinere Taktschwankungen liebt. Hier geht alles starr voran, die Musik erinnert so an ein tickendes, unabwendbar ablaufendes Uhrwerk. Die Protagonistin ist gefangen in etwas, aus dem es kein Entkommen gibt. Auch die Tonart ist für die Suite The Ninth Wave ungewöhnlich. Zwischen Liedern in cis-Moll und a-Moll findet sich hier etwas, was schwer zu identifizieren ist. Der Song ist mit 1b notiert, das könnte also ein F-Dur sein. Aber der F-Dur-Akkord kommt überhaupt nicht vor. Wenn es F-Dur ist, dann fehlt der musikalische Boden unter den Füßen. Könnte es d-Moll sein, die Paralleltonart, auch sie mit 1b notiert? Aber auch der d-Moll-Akkord kommt nicht vor. Der Song lässt eine klare tonale Zuordnung auf den ersten Blick aus.
Viele Textzeilen beginnen allerdings auf einem F, dieser Ton ist der Startpunkt der Melodik, das bekräftigt dann doch F-Dur. Es gibt nur Dur-Akkorde in diesem Song, C-Dur-Akkord und B-Dur-Akkord wechseln sich die ganze Zeit über ab. Das ist ein tonales Pendel, von Takt zu Takt wechselt der Grundakkord. Wieder werde ich an das tickende Uhrwerk erinnert, wir sind gefangen in einem ewigen Kreislauf. Diese beiden Akkorde bestätigen aber ein bisschen das F-Dur, denn der C-Dur-Akkord ist die Dominante von F-Dur, der B-Dur-Akkord die Subdominante. Allerdings fehlt die „Erlösung“ durch die Tonika, den F-Dur-Akkord – Watching You Without Me beginnt mit C-Dur-Akkord und endet auch mit diesem. Durch ihre Dominanz lassen die beiden verwendeten Akkorde auch die Tonarten anklingen, für die sie selbst stehen. Es gibt nur positive, helle Dur-Akkorde im Song, sie bilden einen Gegensatz zum traurigen Text. Symbolisiert das die Hoffnung, das Klammern an die Hoffnung auf Rettung? Steht das für das Zuhause, die positive, helle, unberührte Gegenwelt? Ich glaube, das genau das damit ausgedrückt werden soll.
Die Deutung der Tonarten gemäß Beckh [3] gibt uns noch weitere Einblicke und bestätigt meine erste Analyse. F-Dur ist nach Beckh die „Naturtonart“, sie ist „der intime Grundton aller Naturgeräusche“. F-Dur ist „über das Irdische sich erhebend, zu höheren Regionen empordrängend“. Ich interpretiere dies als das Meer, als die Natur, die die Protagonistin umfangen hält. C-Dur ist das „Sichtbarwerden der Sonne, die sich schon in F-Dur, als der „Stunde vor Sonnenaufgang“ ankündigt“, B-Dur ist noch „nicht das Licht selbst, aber die Ahnung des Lichts, die Hoffnung des Lichtes, der Glaube an das Licht […]“. Es ist also viel Hoffnung in den Tonarten, im Gegensatz zum Text. Die Musik sagt „Du bist nicht verloren“, sie sagt „Es gibt ein Licht“. Weist das tonartlich schon voraus auf das „Tiefer, tiefer, irgendwo in der Tiefe gibt es ein Licht“ aus Hello Earth? Aber die Tonarten sind nicht klar, im Hintergrund lauert das d-Moll. Beckh sagt dazu: „Etwas mit Grab und Tod, mit dem Starren, Steinernen der Gruft […] hat die d-Moll-Tonart […] zu tun.“ Ja, die Protagonistin hat noch Hoffnung (die Dur-Akkorde), aber es gibt die todestarre Gegenwelt, mit der sie konfrontiert ist (d-Moll, der Text).

Watching You Without Me ist ein permanent durch d-Moll bedrohtes F-Dur, dazu gibt es in der klassischen Musik eine interessante Parallele. Schuberts Lied „Der Tod und das Mädchen“ ist nach Beckh „[…] eins jener Musikstücke, die in Wirklichkeit nicht auf eine, sondern auf zwei alternierende Tonarten abgestimmt sind: d-Moll, der starre, steinerne Tod, F-Dur, dessen mädchenhafte Anmut hier bei Schubert besonders lieblich zur Geltung kommt, das Mädchen, das zuletzt dem Tod in die Arme sinkt.“ Das dem Lied zugrundeliegende Gedicht ist von Matthias Claudius. „Das als Dialog gestaltete Gedicht stellt das Mädchen antithetisch dem Tod gegenüber, also die junge Frau dem alten (Knochen-)Mann. Ihrer Angst und Abwehr begegnet der Tod mit Beschwichtigung, Ruhe und Sanftheit. Er erfährt damit eine (Um-)Wertung ins Positive, wohingegen das Mädchen die allgemein verbreitete Angst vor dem Tod formuliert“ [16]. Das könnte für mich auch fast eine Beschreibung des Songs von Kate Bush sein. Die Protagonistin ist mit dem Tod konfrontiert. Ihrer Angst und Abwehr (Text, d-Moll) begegnet der Tod mit Beschwichtigung, Ruhe und Sanftheit (Dur-Akkorde). Für Kate Bush hat das Lied auch mit Entfremdung zu tun [6], auch das passt. Der Text lässt sich so interpretieren, das verschlingende Meer wäre ein Symbol für den Schock einer Trennung. Aber selbst in so einer Situation gäbe es Hoffnung, das sagt die Musik. Alles an diesem Song ist ein Schweben zwischen mehreren (hypothetischen) Realitäten/Geschichten/„Welten“, wie Theresa Gionoffrio es ausdrückt [11]. Wir haben die ängstliche, geliebte Familie, wir haben die verzweifelte Protagonistin, irgendwo im Hintergrund ist vielleicht die Rettungsmission unterwegs (der SOS-Code ist zu hören). „The song is a state of unknowing, between this world and the next“ [11].
Viel kann ich dem nicht mehr hinzufügen. Das Lied ist ein Ausdruck eines Zustands totaler Einsamkeit. „JunebugAsiimwe“ fasst es auf Reddit [10] so zusammen: „I love how atmospheric and spacious the production is on this song. It feels like its own separate world from the rest of the Ninth Wave. Like we’re in another realm for a moment. And the lyrics are rather haunting and beautiful. Kate’s a masterful songwriter and producer.“ Und Sam Liddicott meint: „Such a beautiful and image-heavy track that takes the breath!“ [14]. So ist es! © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Graeme Thomson: ‪Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S. 262
[2] “‪Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S. 167
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.149ff (F-Dur), S.155f (d-Moll), S.71 (C-Dur) und S.245 (B-Dur)
[4] Kate Bush: „Hounds Of Love Songs“. Kate Bush Club. Ausgabe 18.
[5] Richard Skinner: „Classic Albums interview: Hounds Of Love“. Radio 1. 26.01.1992.
[6] Mike Nicholls: „The Girl Who Reached Wuthering Heights“. The London Times. 27.08.1985.
[7] Kris Needs: „Lassie“. ZigZag 11/1985.
[8] Doug Alan: Love-Hounds Interview. 11/1985.
[9] https://genius.com/Kate-bush-watching-you-without-me-lyrics (gelesen 03.05.2024)
[10] https://www.reddit.com/r/katebush/comments/qer0dx/watching_you_without_me_is_a_masterpiece/?rdt=40351 (gelesen 03.05.2024)
[11] https://songmeanings.com/songs/view/54750/ (gelesen 03.05.2024)
[12]  https://www.tumblr.com/madolan/96088668205/watching-you-without-me (gelesen 03.05.2024)
[13] https://katebush.proboards.com/thread/1722/watching-me (gelesen 03.05.2024)
[14] https://www.musicmusingsandsuch.com/musicmusingsandsuch/2021/9/1/feature-the-magnificent-watching-you-without-me-kate-bushs-hounds-of-love-at-thirty-six (gelesen 03.05.2024)
[15] https://www.carookee.de/forum/Kate-Bush/91/Watching_You_Without_Me.13942691.0.01105.html (gelesen 04.05.2024)
[16] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Der_Tod_und_das_M%C3%A4dchen_(Gedicht) (gelesen 09.08.2024)
[17] https://www.katebushencyclopedia.com/watching-you-without-me/ (gelesen 09.08.2024)
[18] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Nahtoderfahrung (gelesen 09.08.2024)

Running up that birthday wishes

Kate hat heute mit einer Geburtstags-Message überrascht und auf ihrer Webseite ein Dankeschön für die Glückwünsche gepostet:
Hope you’re all enjoying the summer although it seemed rather reluctant to arrive. I really loved all that rain!
Thank you so much to everyone who sent through birthday wishes. They’re very much appreciated.
It’s really lovely to know that you’re out there with your positive messages amongst all the negativity in the world right now.
I also want to say a big thank you to Shepherd’s Bush railway station.
Some friends sent me the notice board above.
It’s such a lovely gesture and I’m very touched.
Best wishes,
Kate

Katemas in Glastonbury und Einblicke in eine besondere Biografie

Katemas 2024 in einem kleinen Pub in Glastonbury – und mittendrin Beate.
Mit bestem Dank an © Mike Wade,

Von Beate Meiswinkel

Auf Initiative der HerausgeberInnen des Fanzines Homeground treffen sich Kate Bush-Fans seit ca. 1989 im englischen Glastonbury, um Kates Geburtstag zu feiern: Katemas! Man versammelt sich hoch oben auf dem Glastonbury Tor, einem mystisch markanten Hügel, der sich eindrucksvoll aus den Somerset-Levels erhebt. Dort ist man dem großen Himmel nah, man lauscht dem flüsternden Wind, kann in die Wolken gucken, und Running Up That Hill wird dank des strammen Aufstiegs zur körperlichen Herausforderung. Im Juli 1995 hatte ich erstmals Gelegenheit, an einem solchen Treffen teilzunehmen, um mit einer Gruppe fröhlicher und herzlicher Leute Geburtstagskuchen zu naschen und eine Grußkarte zu unterschreiben – in den Tagen des KBC war es noch möglich, Kate mit Post zu beglücken! In diesem Jahr konnte ich erneut dabei sein, erstmals seit 1999. So viele Jahre; here come the hills of time!

© Beate Meiswinkel

Den Running Up That Hill-Part des Treffens habe ich leider verpasst. Im Pub Rifleman‘s Arms, ebenfalls traditioneller Katemas-Schauplatz, traf ich etwas verspätet auf die gesellige Runde, die mich herzlich in ihrer Mitte willkommen hieß. Besonders gefreut habe ich mich über ein Wiedersehen mit meiner Freundin Sky. Es gab viel Interessantes zu erzählen und auch Spannendes zu sehen – so etwa zwei Gemälde von Del Palmer, die jemand aus seinem Nachlass erstanden und mitgebracht hatte. Im Gedenken an Del, Donald Sutherland und Ian Bairnson wurde ein Toast ausgebracht. Die Fish People T-Shirts sehen übrigens im echten Leben deutlich besser aus als auf den Fotos des Online-Shops. Wer also über eine Anschaffung nachdenkt – nur zu!

Mein persönliches Highlight in Sachen Memorabilia hatte eine Dame namens Vron mitgebracht. Dabei handelt es sich um ein gerahmtes Exemplar des Schutzumschlags jener legendären Autobiografie „Leaving My Tracks“, die Kate im Herbst 1981 veröffentlichen wollte – was leider nie geschah. Neben dem Coverporträt ist darauf auch eine Aufnahme aus der „Cathy“-Ära zu sehen. Das 144 Seiten starke Werk mit farbigen und schwarzweißen Illustrationen sollte als Taschenbuchausgabe 5,95 GBP kosten, das gebundene Buch 8,95 GBP. Besonders wertvoll sind die von Kate selbst verfassten Klappentexte – aus ihnen kann man erahnen, was uns hier leider entgangen ist. Ich bin sehr dankbar für die Gelegenheit, jene kurzen Einblicke lesen und fotografieren zu dürfen.
Wie man denn auf Glastonbury gekommen sei, um Kates Geburtstag zu feiern, fragte ich Krystyna FitzGerald-Morris vom Homeground, die mit ihrem Mann Peter gekommen war. „Das bezieht sich auf The Ninth Wave und Alfred Lord Tennysons ‚The Coming of Arthur’“, antwortete sie. Und tatsächlich hat Glastonbury einen starken Bezug zur Artus-Legende. Ob Kate selbst eine Verbindung zu dem Ort hat, ist nicht bekannt. Allerdings sollen die VeranstalterInnen des berühmten Glastonbury Festivals davon träumen, sie werde eines Tages dort als Headliner auftreten. Das wärs doch!
Ansonsten sprachen wir noch über einiges: Über die legendäre Convention anno 1994 in London, über die Freude, Kate im Rahmen der Before the Dawn-Konzerte live erlebt zu haben („Peter war der Einzige, der immer gesagt hat, das werde passieren“), die Wahrscheinlichkeit, ob es neben der CD doch noch irgendwann eine Before the Dawn-DVD geben könnte („That is neeever going to happen“), und ob wir irgendwann wieder ein neues Kate Bush Album erwarten können („Gaaanz sicher“).
Auch im kommenden Jahr wird wieder ein Katemas-Treffen stattfinden; und man würde sich sehr darüber freuen, wenn noch mehr Fans aus Deutschland dazukämen. Als Termin wurde schon mal Samstag, der 26.07.2025 notiert. Wer hat Lust?

Der Schutzumschlag der von Kate leider nie veröffentlichten Autobiografie „Leaving My Tracks“.
© Beate Meiswinkel

Happy Birthday, Kate

Nein, es wird jetzt nicht gemeinsam „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an, mit 66 Jahren veröffentlicht man neue Musik sodann“ geschmettert. Glückwünsche zum Geburtstag reichen vollkommen und neue Musik nehmen wir ja sowieso gerne an. 13 Jahre nach 50 Words For Snow und zehn Jahre nach den Before The Dawn-Konzerten wäre 2024 ein mehr als guter Zeitpunkt. Also: Daumen drücken und Tee trinken, dass sich im Herbst endlich was tut.

RUTH als Leitmotiv für Angie-Doku

Von Stranger Things bis Schicksalsjahre eine Kanzlerin – Kates Hit Running Up That Hill wird in der ARD-Dokumentation über Angela Merkel erneut zum Leitmotiv. Und das ist bei einer politischen Doku eher ungewöhnlich, werden Kates Songs doch in Spielfilmen oder Serien eingesetzt und eher nicht mit einem politischen Bezug – schonmal gar nicht bei einer Doku über Merkels Kanzlerschaft aus Anlass ihres 70. Geburtstages. In fünf Folgen zu je 30 Minuten setzen sich die Macher mit Merkels Aufstieg nach der Herbst-Revolution 1989 in der DDR bis zum Ende ihrer Kanzlerschaft auseinander. Dabei spielen Protagonisten und Wegbegleiter ebenso eine entscheidende Rolle, wie Youtuber LeFloid und andere junge Kommentatoren. Und immer wieder wird sehr effektvoll auch die Musik eingesetzt. Wiederkehrend ist vor allem die Textzeile „It doesn‘t hurt me“ aus RUTH über alle Folgen hinweg. Natürlich ist „Angie“ von den Stones unvermeidlich, aber es wird auch ungewohnt bissig. Beim Wechsel von der Physik in die Politik läuft etwa „I Promised Myself“ von Nick Kamen und bei der Frage nach dem „Königsmord“ an Alt-Kanzler Helmut Kohl, der von Spendenaffären geschüttelt wird, erklingt sinnigerweise „Murder On The Dancefloor“ von Sophie Ellis-Bextor. Das passt zum Titel, der der Sissi-Reihe aus den 50ern entlehnt ist. Respektlos ist die Doku allerdings zu keinem Zeitpunkt, zumal erstmals auch ihre Russlandpolitik kritischer hinterfragt wird. Oh, come on, Angie, Come on, come on, darlin‘, Let’s exchange the experience… Alle Folgen gibt es in der ARD-Mediathek.

Gitarren von Del Palmer werden versteigert

Nachdem jüngst die E-Gitarre von Ian Bairnson, mit dem er sein Solo für Kates ersten Hit Wuthering Heights gespielt hat, für 21.000 englische Pfund versteigert worden ist, stehen aktuell zahlreiche Gitarren und Bass-Gitarren von Del Palmer zur Versteigerung an. Beim Auktionsportal Thimbleby & Shorland können noch bis Sonntag 17 Uhr (englische Sommerzeit) Gebote abgegeben werden.

Neben den vielen Musikinstrumenten, teilweise auch welche, die Del für die Aufnahmen mit Kate genutzt hat, stehen auch Mikros und Lautsprecher, zwei Synthesizer, Aufnahmeequipment und ganz simpel Gitarrensaiten zum Verkauf. Danach wird es dann teilweise kurios. Gelistet sind etwa auch Bild von Künstlern sowie Bilder, die Del selbst gemalt hat, alte Weine (etwa ein Portwein von 1960, für den 90 Pfund geboten wurden), oder drei Flaschen Rotwein Chateau Lafite Rothschild von 1970 (Gebot: 410 Pfund). Ei Highlight ist eine alte Postkarte, die Harry Houdini zeigt und von ihm signiert wurde. Das Gebot dafür steht aktuell bei 270 Pfund.

Die höchsten Gebote gibt es für eine akustische Gitarre von Martin & Co (1280 Pfund), einen Adams & Deane Revolver aus dem 19. Jahrhundert (1260 Pfund), eine Tolkien-Edition, die auf 30 bis 50 Pfund geschätzt wurde und für die ein Gebot von 740 Pfund vorliegt und eine alte Rolleiflex-Kamera mit Zeiss-Objektiv für 720 Pfund. Ein paar Angebote wie der Revolver, Militärorden und entsprechende Postkarten sowie ein „Adolf Hitler card collecting book“ von 1936 (!) auf Deutsch muten schon sehr seltsam an.

Nicht angeboten werden Sammlerstücke mit Bezug zu Kate. Dass seine Familie keine Aufnahmen und Tonbänder aus seiner Zeit als Toningenieur verscherbelt, ist erfreulich. Allerdings dürfte er mit Sicherheit auch über zahlreiche Testpressungen oder handsignierte Platten und Singles verfügt haben.

Zwei Stunden Kate im Bremer Bürgerradio

Gleich zwei Stunden lang werden an diesem Mittwoch (26. Juni, 19 bis 21 Uhr) die beiden Radiomoderatoren Ulrich Havemann und Windy Jacob beim Bürgerfunk Radio Weser.TV in einer Sondersendung Musik von Kate spielen. Im Mittelpunkt stehen eher die unbekannteren und seltener gespielten Kate-Songs. Misty wird beispielsweise zu hören sein – eine komplette Trackliste verrät Windy Jacobs aber nicht – man soll sich schließlich überraschen lassen. „Kate Bush würde sich auch durchaus für eine mehrteilige Sondersendung eignen“, sagt Windy, aber so etwas ist natürlich auch im Bürgerfunk eher schwer umzusetzen. Ab und an gelingt ihm das; zu Pink Floyd konnte er 2021 eine vierteilige Sendung produzieren oder 2023 eine lange Mike Oldfield-Nacht. Bei Kate wird am Mittwoch aber nicht nur die Musik im Mittelpunkt stehen. „Daneben geht es auch um den Werdegang dieser außergewöhnlichen Künstlerin, die sich stets damit treu blieb, ihre Ideen selbstbestimmt zu verwirklichen“, steht im Flyer zur Sendung. Für den Part ist dann Ulrich Havemann verantwortlich. Das ist die nahezu perfekte Arbeitsteilung: Für Windy steht die Musik im Mittelpunkt, Ulrich Havemann „ist es ein Anliegen, die ‚Geschichte‘ der jeweiligen Band oder Einzelkünstlerin, wie etwa Nina Hagen oder Gianna Nannini zu präsentieren – also dem nachzugehen, wie eine Band entstanden ist.“
Windy Jacob macht Kulturarbeit in Bremen, Radio ist für ihn Leidenschaft. Dienstags und donnerstags geht er immer auf Sendung, auch mit einem eigenen Format und das regelmäßig seit vielen Jahren. Zu Kate hat er eine durchaus lange andauernde Beziehung: „Ich habe den ersten Auftritt von Kate Bush bei ‚Bio‘s Bahnhof‘ damals am 9. Februar noch sehr gut in Erinnerung. Ich hätte damals nie gedacht, dass ich 46 Jahre später mal eine Sendung mit der Musik von Kate Bush machen würde“, erzählt er.
In der Nähe von Bremen kann man das Programm über Antenne hören (92,5 Mhz), im digitalen Kabel (DVB-C) DAB+: Kanal 7D und ansonsten als Stream im Internet unter www.radioweser.tv.

Donald Sutherland stirbt mit 88 Jahren

Es ist vielleicht Kates schönstes Video: Cloudbusting mit Donald Sutherland aus dem Jahr 1985, in dem Sutherland den Wissenschaftler Wilhelm Reich verkörpert. Sutherland ist jetzt im Alter von 88 Jahren verstorben. Dem Kanadier geland mit MASH der Durchbruch, er spielte in zahlreichen Filmklassikern mit und gilt als einer der bekanntesten Charakterdarsateller Hollywoods, der sich früh auch immer schon politisch engagiert hat – etwa in der 70er Jahren gegen den Vietnamkrieg. Die Zusammenarbeit mit Kate und dann noch für ein Musikvideo war eher ungewöhnlich. Für den siebenminütigen Filn unter der Regie von Julian Doyle hatte Kate das Drehbuch zusammen mit Terry Gilliam geschrieben, der ursprünglich auch Regie führen sollte. Kate hatte von Anfang an bei der Besetzung Donald Sutherland im Auge: „The brief, really from the start, was that I wanted a great actor to play the father. I wanted it to be a piece of film rather than a video promotional clip. I wanted it to be a short piece of film that would hopefully do justice to the original book. And let people understand the story that couldn’t really be explained in the song. So we wanted a great actor. We thought of Donald Sutherland and thought ‚well, chances are we won’t get him, but why not try?’“ Sutherland war zum Zeitpunkt des Drehs für Filmaufnahmen in England, sagte allerdings ab, weil er zu beschäftigt war. Wie es dann doch zu den Aufnahmen kam, hat Sutherland viele Jare später in einem Interview sehr charmant erzählt: Barry Richardson, who was the hairdresser on Nic Roeg’s Don’t Look Now, asked me if I’d do a music video with Kate Bush. I told him no and we went on to other conversations. A couple of days later there was a knock on my door. I lived in the Savoy Hotel (in London). On the river. Suite 312. I loved it there. So cosseted. So private. Only the floor butler rang the door. I opened it. There was no one there. I heard a voice saying hello and I looked down. Standing down there was a very small Kate Bush. Barry had told her where I lived. What can you do? She wanted to explain what her video was about. I let her in. She sat down, said some stuff. All I heard was ‘Wilhelm Reich’. I’d taken an underground copy of his The Mass Psychology of Fascism with me when I went to film (Bernardo) Bertolucci’s Novecento in Parma. Reich’s work informed the psychological foundations of Attila Mellanchini, the character Bernardo had cast me to play. Everything about Reich echoed through me. He was there then and now he was here. Sitting across from me in the person of the very eloquent Kate Bush. Synchronicity. Perfect. She talked some more. I said OK and we made ‘Cloudbusting’. She’s wonderful, Kate Bush. Wonderful. I love that I did it. (What do I remember) about doing it? I remember being in the car and the hill and them taking me, taking Reich, away and looking back through the back window of the car and seeing her, seeing Reich’s son Peter, standing there. And I remember the first morning on set seeing her coming out of her trailer smoking a joint and I cautioned her, saying she shouldn’t smoke that, it’d affect her work, and she looked at me for a second and said she hadn’t been straight for nine years and I loved her.”

Einer der Söhne von Donald Sutherland, Kiefer Sutherland, hat auf X bewegende Worte für seinen Vater gefunden und seine schauspielerische Leistung gewürdigt: „Ich persönlich halte ihn für einen der wichtigsten Schauspieler in der Geschichte des Films. Er hat sich nie von einer Rolle einschüchtern lassen, egal ob gut, schlecht oder hässlich. Er liebte, was er tat, und tat, was er liebte, und mehr kann man sich nicht wünschen.“

Das Song-ABC: Mother Stands For Comfort

Dieser Song scheint ein Mysterium zu sein. Irgendwie läuft er unter dem Radar. Graeme Thomson [1] zum Beispiel widmet dem Song in seiner Biografie genau dreieinhalb Zeilen, und das in einem Buch von 459 Seiten!
Mother Stands For Comfort ist der vierte Song auf der ersten Seite des Erfolgsalbums Hounds Of Love. Es ist das einzige Stück dieser ersten Seite, das keine Single geworden ist. Der Song ist wohl einfach zu ungewöhnlich. Schon allein das Thema sperrt sich gegen eine Single: Der Song handelt von einem Sohn, der ein schreckliches Verbrechen begangen hat, und davon, wie seine Mutter ihn beschützt. Ein schwarzer Schwan unter lauter Schwanenprinzessinnen! Mother Stands For Comfort ist ruhig, zurückgenommen, fast psychopathisch emotionslos in der Instrumentation. Die Stimmung ist abgekühlt, erfroren. Jemand verlässt sich auf die bedingungslose Liebe seiner Mutter, ganz egal was er getan hat. Ich liebe Mother Stands For Comfort, es ist ein Song, der problemlos auf Bushs vorherigem Album The Dreaming hätte sein können. Aber wie für fast alle Titel dieses Albums gilt auch hier: für eine Single ist er zu abgründig.
Kate Bush „war schon immer eine Weberin lyrischer Rätsel, ihre Songs sind ein Wandteppich des Tiefsinnigen und des Eigenartigen“ [10, meine Übersetzung]. Mother Stands For Comfort zeigt Kate Bushs beispiellose Fähigkeit, so ganz unterschiedliche Themen wie das Mütterliche und das Makabre zu mischen und „eine psychologische Tiefe zu zeigen, die ebenso verstörend wie tröstlich ist“ [10, meine Übersetzung].
In seiner erfrorenen Stimmung klingt der Song so, als wenn er auch auf die zweite Seite in die Suite The Ninth Wave passen würde. Auch diese Suite balanciert Licht und Dunkelheit aus, so wie es dieser Song tut. In der Stimmung spiegelt er für mich Waking The Witch, er hat eine ähnlich spröde Kantigkeit. Aber er wirkt wie ein fremder Alien auf der A-Seite des Albums, die Seite, die Kate Bush mit Hounds Of Love übertitelt hat. Hounds of Love, das sind die Jagdhunde der Liebe und ihr treibender Rhythmus ist das beherrschende Element sämtlicher anderer Songs auf der A-Seite (so „Sound Chaser“ [9]). Mother Stands For Comfort ist ein eisigkalter Blick auf die Jagdhunde der Liebe von der bösen, toten Seite aus.

Kate Bush ist in mehreren Interviews auf den Inhalt des Songs eingegangen. Sie bezeichnet ausdrücklich den Protagonisten als „Son“, also als männliche Person. Aus dem Text des Songs geht das nicht klar hervor. „It’s really about the power of maternal love and that in the song, the son has done something criminal, and uh it’s irrelevant in a way what he’s done, because it’s the mother wanting to harbor her son and keep him safe. That’s her concern to look after her child, rather than the morality of the situation. Her love is much more important to her than what’s right or wrong“ [4]. Liebe kann verschiedene Gestalten annehmen, hier geht es um eine eher abseitige Art der Liebe, eine Liebe ohne moralische Grenzen. „There are many different kinds of love and the track’s really talking about the love of a mother, and in this case she’s the mother of a murderer, in that she’s basically prepared to protect her son against anything. ‚Cause in a way it’s also suggesting that the son is using the mother, as much as the mother is protecting him. It’s a bit of a strange matter, isn’t it really? (laughs)“ [5]. Auf eigenen Erfahrungen beruht das laut Kate Bush nicht. „No, certainly not on that level! But I have read reports, heard of things–through news, etc.– in the past, where that has happened“ [7].
Kate Bush arbeitet in diesem Song einen krassen Gegensatz heraus. Da ist eine Mutter, das Musterbeispiel an Fürsorge und Sicherheit – aber sie gewährt einem Mörder Schutz, der sie wohl auch psychologisch manipuliert. Das ist als Thema für einen Song weit von der Komfortzone entfernt. Die mütterliche Figur als Verbündete beim Verbrechen, das stellt unsere Wahrnehmung von Moral in Frage. Der Song betrachtet die Grenzen, bis zu denen mütterliche Liebe gehen wird, um ein Kind zu beschützen – und stellt sie zur Diskussion. Kate Bush zeigt uns die Ereignisse nach dem Mord. Da sie uns nicht wirklich aufklärt, bleibt es uns überlassen, uns die Vorgeschichte vorzustellen und zu überlegen, wer getötet wurde und warum ein Junge zum Mörder werden konnte. Und wir werden auch im Unklaren darüber gelassen, ob die Mutter wirklich so ist wie geschildert. Der Song ist die Sicht (und die Einbildung) des Sohnes, die Wirklichkeit könnte völlig anders sein. Wir bekommen nur einen Blick in seine (wirre) Seele und keinen in ihre.
Um das Abgründige dieses Songs besser zu verstehen, werde ich die Beziehung Mutter – Sohn anhand des Textes genauer anschauen. Ich folge dabei einem Gedankengang, den „Sound Chaser“ im Bush-Forum niedergeschrieben hat [9]. „She knows that I’ve been doing something wrong, But she won’t say anything.“ Hier stellt sich sofort eine entscheidende Frage: Ist die Mutter wirklich im Unklaren über das Verbrechen? Schließlich geht es um Mord („Mother will hide the murderer.“). Das Schweigen der Mutter ist der zentrale Aspekt, den Kate Bush in diesem Song hervorhebt. Die Mutter bleibt stumm und macht sich damit mitschuldig an den Verbrechen ihres Kindes. Das ist eine kraftvolle Aussage, unausgesprochene Dinge haben genauso viel Gewicht wie das gesprochene Wort.
„She thinks that I was with my friends yesterday, But she won’t mind me lying“ Diese etwas paradoxe Zeile vertieft diese Aussage noch und geht tiefer auf das ein, was in der Mutter vorgeht: Sie denkt, das ich bei meinen Freunden war, nie würde sie mich einer Lüge bezichtigen. Der Mutter ist nur der Schutz ihres Kindes wichtig. Sie verschließt ihre Augen vor dem, was passiert. Sie hält die Aussage ihres Kindes für wahr, auch wenn die Tatsachen dagegen sprechen. Mutter bildet den geschützten Raum um den Sohn. Die Realität und die Beziehung zu ihrem Sohn sind in ihrem Kopf getrennt.
„Mother stands for comfort / Mother will hide the murderer.“ Auch diese Zeile ist bemerkenswert, weil sie aufzeigt, das der Protagonist ebenso wie die Mutter auf zwei Ebenen denkt. Mutter steht für Schutz, das ist eine Aussage in der ersten Person. Mutter wird den Mörder verstecken – auf einmal wird in die dritte Person gewechselt. Das ist eine De-Personifizierung, das ist schizophren. Der Sohn distanziert sich von seiner Mörder-Natur, betrachtet die wie etwas Fremdes. Ganz klar entzieht er sich der Verantwortung, der Schuld. „Mutter wird den Mörder verstecken“ – diese Zeile hallt durch das ganze Lied, es ist ein Refrain, der die Erzählung zusammenhält und sich in die Psyche des Zuhörers einbrennt. In einem Satz fasst er die Essenz des Songs zusammen: Beschützerinstinkte kollidieren mit unseren Moralvorstellungen und das ist nur auszuhalten, wenn man schizophren darauf reagiert.
„It breaks the cage, and fear escapes and takes possession / Just like a crowd rioting inside / Make me do this, make me do that, make me do this, make me do that“ Die Distanzierung des Sohns geht weiter, er gibt die Schuld an seinem Verhalten einem diffusen „It“. Irgendwas Böses (der Wahnsinn, die zweite Natur?) bricht aus und  hat die Person übernommen. In einem unheimlichen Bild wird geschildert, wie es der Sohn empfindet, wenn dieses Böse in ihm um sich greift. Es ist wie eine Menschenmenge aus inneren Stimmen, die im Inneren randaliert und ihn die Taten begehen lässt. Diese Zeilen legen das innere Chaos offen, das der Protagonist erlebt. Es ist ein Kampf um Kontrolle, während widersprüchliche Emotionen und Impulse im Protagonisten streiten.
„Am I the cat that takes the bird? To her the hunted, not the hunter.“ Das ist ein weiterer Hinweis auf die Ambivalenz der Hauptperson. Für mich wird deutlich, dass der Protagonist Geborgenheit sowohl als Zufluchtsort als auch als Gefängnis empfindet („it breaks the cage“). Ist der Protagonist die Katze oder der Vogel? Der Schutz der Mutter bietet eine Atempause vor den inneren Dämonen, führt aber auch zu einer Unfähigkeit, sich den Konsequenzen seiner Handlungen zu stellen. Der Sohn ist sich aber sicher, die Mutter wird ihn beschützen. Die Komplexität dieser Beziehung wird spürbar und veranschaulicht den raffinierten Umgang des Liedes mit der menschlichen Psychologie.
„Mother hides the madman-“
Wieder diese Distanzierung, der Wechsel in die dritte Person. Der Erzähler ist sich seines Wahnsinns anscheinend bewusst, verdrängt sie aber. Kommt hier noch eine manipulative Komponente dazu? Manipuliert er seine Mutter, bewusst oder unbewusst? Wie kann er sich sonst so sicher sein?
„Mother will stay mum.“
Und hier haben wir ein schönes, tiefes Wortspiel. Selbst die Worte haben hier in diesem Song eine doppelte, schizophrene Natur. Mutter bleibt Mama, ungeachtet der Tat ihres Kindes. Und Mutter wird Stillschweigen bewahren („mum“ = Mama, „to stay mum“ = „den Mund halten“, „Mum’s the word“ = „Nichts verraten! / Kein Wort darüber!“).
Es ist die Einprägsamkeit solcher Zeilen, die Bushs geniales Songwriting auszeichnet. Jede dieser Textpassagen fügt dem emotionalen Aufbau des Songs eine weitere Schicht hinzu und macht ihn komplexer. Immer tiefer werden wir hineingezogen und dazu gezwungen, uns mit den Abgründen zwischen Richtig und Falsch, Liebe und Schutz, Ehrlichkeit und Manipulation auseinanderzusetzen. Und Kate Bush lässt uns dabei allein, nie löst der Song die Spannung auf, die er aufbaut.
Nun könnte man fragen, wie das denn auf die Hounds Of Love-Seite des Albums passt. Aber der Text ist voller Verweise auf das Konzept der Hound, der Jagd, so „Sound Chaser“ in [9]. Da steht „hide“ (verstecken), da steht „It breaks the cage“ und „escapes“ (ausbrechen, flüchten), es gibt „Cat“ und „Bird“ (Jagd-Motiv, der Vogelkäfig). Da findet sich „Hunted not the hunter“ (Gejagter, nicht der Jäger) mit seiner Vertauschung der Rollen gegenüber den anderen Songs. Mother Stands For Comfort ist ein dunkler Vertreter, es sind böse „Hounds“, es ist eine düstere, abgründige Form „Of Love“. 

Kate Bush malt dazu meisterlich eine Klanglandschaft, die beunruhigend und einzigartig ist. Die Drums von Stuart Elliott und der Bass von Eberhard Weber tragen stark zur Wirkung bei. Ein skeletthaftes Schlagzeugmuster im Rhythmus eines Schaukelstuhls, nur Kick und Snare, bildet die Grundlage, auf der das gesamte Percussion-Muster, Klavierakkorde und eine gewundene Kontrabassmelodie aufgebaut sind. Die meisten anderen Sounds wie zerbrechendes Glas stammen höchstwahrscheinlich vom Fairlight. Dazu kommen ein nahezu gehauchter Gesang und klagende Backing Vocals von Kate Bush. Ein sehr fremdartig klingendes, geisterhaftes Fairlight bestimmt die Chorus-Passagen. Die Chorus-Passagen sind sehr zärtlich gesungen, die Strophen dagegen in einem anderen Tonfall, eher erzählend. Zum Schluss gibt es hohe Kate-Stimmen, die Vokalisen singen. Sie klingen wie klagende Schreie, ein bisschen verrückt, psychotisch, irrational. Sind das die Stimmen im Kopf? Ganz am Ende ertönt nur noch das Fairlight, dieser Schluss ist merkwürdig und abrupt. Alles in dieser Komposition spiegelt den Wahnsinn der Geschichte wieder. Kate Bush hatte genaue Vorstellungen, was sie musikalisch wollte. Für sie schrie der Basspart förmlich nach Eberhard Weber. „Yes, I do love the bass, it’s a very beautiful instrument and, there’s no doubt, it does put a very strong mark on the track with the player’s personality really coming through. And, it depends, but often there are some tracks that are asking for someone’s particular style. And on this album I felt that Hello Earth and Mother Stands For Comfort were very much in the style of Eberhard Weber, actually it was partly Del’s suggestion. I’ve been a fan of his for a long time and a few years ago we brought him over for Houdini on The Dreaming. This time he came over specially from Munich, and stayed two days to do the two tracks“ [6].
Faszinierend ist, wie der Bass eingesetzt wird. Er ist kein prägendes Rhythmusinstrument, er schleicht im Untergrund des Songs hin und her und formt von unten die Melodie des Songs. Auch der kalte, synthetisch klingende Sound wurde mit Bedacht gewählt. „Quite often I find synthetic sounds create a coldness, that if the track is lonely or sad or dark, sometimes you want that kind of coldness, that machine-like coldness, which is very specific. And with acoustic instruments you get a real – normally – a very warm, human presence and something that’s intimate and really there, something that breathes, you know, it’s not this kind of dead, cold, machine. And I feel that both are very usable, depending on what you want to say.“ [5] Hier aber hier war dieser Sound genau passend. „Well, the personality that sings this track is very unfeeling in a way. And the cold qualities of synths and machines were appropriate here“ [6].
Die Art und Weise, wie das traurige Klavier im Kontrast zum außerirdisch anmutenden Synthesizer steht, passt zu meinem Verständnis des Textes. Das Klavier ist sehr warm und traditionell, wohingegen der Synthesizer klingt, als würde er von einem anderen Himmelskörper ertönen. Beides ist ineinander verschlungen, die zwei Seiten des Songs lassen sich nicht voneinander trennen. Mutterliebe und Verbrechen sind untrennbar miteinander verbunden. 
Zur Analyse der musikalischen Struktur beziehe ich mich auf die in [2] abgedruckten Noten. Der Song steht in einem streng durchgehaltenen 4/4-Takt, was für mich gut zur eingefrorenen Starrheit des Texts passt. Die Gesangsmelodie enthält viele Töne, die über die Taktgrenzen hinweggehen, das erzeugt einen schwebenden, bodenlosen Zustand. Der Rhythmus ist starr, aber der Gesang verliert so den Boden unter den Füßen. Sehr häufig ist die Tonfolge e-g-e-g-e-g in der Melodie in den Strophen, z.B. „She knows that I‘ve been doing something wrong“. Diese pendelnde Tonbewegung ist für die Strophen charakteristisch. Später gibt es die umgekehrte Folge g-e auf „Mother“ ( …. will hide the murderer z.B.) in Chorus und Outro. Meine Folgerung: diese kleine Terz steht für die Mutter und für die Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Zwei Töne, zwei Personen. Die Strophen sind eine Beschreibung der Situation des Protagonisten, die Chorus-Partien und das Outro beschreiben seine Sicht auf die Mutter.
Die Tonart ist ein a-Moll, fast überall gibt es nur Akkorde dieser Tonart. So starr wie der Rhythmus, so starr wird die Tonart eingehalten. Die einzige Abweichung ist der zweimal auftauchende B-Dur-Akkord (auf „lying“ in „but she won‘t mind me lying“ und auf „takes the bird“ in „Am I the cat that takes the bird“). Der B-Dur-Akkord wird auf dem letzten Ton der Silben wieder durch den leitereigenen C-Dur-Akkord abgelöst. B-Dur, das ist weit von a-Moll weit entfernt. Zur Symbolik der Tonarten beziehe ich mich wieder auf Beckh [3]. Die Tonart a-Moll ist schwermütig, poetisch. Sie steht für die romantische Zwienatur, die Zwielichtnatur, sie ist auch die Sehnsuchtstonart. Sie kann aber auch der Ausdruck finsterer Entschlossenheit sein. Offenbar ist diese Tonart genauso vieldeutig und zwiegespalten wie der Protagonist des Songs. B-Dur ist noch „nicht das Licht selbst, aber die Ahnung des Lichts, die Hoffnung des Lichts, der Glaube an das Licht“. Es ist die Liebestonart, sie steht für Glaubenszuversicht. Wird hier durch die Verwendung angedeutet, dass es ein bisschen Licht gibt in der Geisteswirrnis des Protagonisten? Ist da ein ganz kleiner musikalischer Schimmer von Hoffnung, von Liebe?

Man sieht, Mother Stands For Comfort ist sehr komplex. Es bleibt die Frage offen, was Kate Bush den Anstoß gegeben hat, diesen Song zu komponieren. Sam Liddicott stellt sich in seinem Essay über den Song auch diese Frage, kommt aber zu keiner eindeutigen Antwort. „I do wonder what started the process of Mother Stands for Comfort. Bush was often inspired by film, T.V. and literature, but I do not think there is any particular work that directed this track. It sort of makes me think of Bush writing songs for Hounds of Love and perhaps it was a cloudy day and quite moody. Alone with her thoughts, she came up with the incredible Mother Stands For Comfort!“ [11]. Bestimmt hat Kate Bush während der Komposition des Albums Filme geschaut, sie liebt das ja. „Sound Chaser“ hat mich auf eine Idee gebracht, welcher Film vielleicht dabei war: „[…] da ich den Song immer mit einer „Psycho/Norman Bates“-Atmosphäre verbinde (Kate –> Hitchcock-Fan)“ [9]. Ist der Song eine Reflexion über die Konstellation aus „Psycho“ von Hitchcock? Auch da gibt es diese den Mörder Norman Bates „beschützende“ Mutter, die immer stumm bleibt. Kate Bush war immer eine Hitchcock-Verehrerin: „Hitchcock was definitely a genius. His dreams must have been extraordinary. He must have plucked his ideas out of the sky, or had a private line to Mars“ [15]. Hitchcocks visueller Stil hat auch das Video zur Single Hounds Of Love geprägt. Die Grundkonstellation ist auf jeden Fall passend: „Norman Norman erwähnt sein Hobby, das Präparieren von Vögeln, und kommt auch auf seine Mutter zu sprechen. Er bezeichnet sie als „harmlos“, nur „manchmal ein bisschen bösartig“. Er äußert auch, dass er keine Freunde brauche, denn der beste Freund eines Mannes sei seine Mutter“ [14]. Auch die gespaltene Persönlichkeit von Norman Bates erinnert an den Protagonisten unseres Songs. „Einerseits sei er ein schüchterner, unauffälliger Mann, andererseits verkörpere der andere Teil seiner Persönlichkeit seine herrschsüchtige Mutter. […] Als Mrs. Bates begraben werden sollte, stahl er ihren Körper und konservierte ihn, um das Verbrechen gewissermaßen ungeschehen zu machen. So lebte er fortan mit seiner verstorbenen Mutter zusammen und sprach mit ihr, indem er ihre Stimme imitierte. Da er seine Mutter, auf deren Beziehungen er krankhaft eifersüchtig war, genaustens imitieren wollte, nahm er an, dass sie ihm gegenüber genauso empfinden und handeln würde. Wenn Norman sich für eine Frau interessierte, rebellierte die eifersüchtige Mutter in ihm und ermordete diese – in Frauenkleidern und Perücke“ [14].
Im Film ist Norman Bates eindeutig die Katze, die die Vögel (die Frauen) fängt, tötet und ausstopft. Im Song bleibt das offen: „Am I the cat that takes the bird?“. Wie im Song bekommen wir im Film bloß die Sicht des Sohnes auf die Realität und auf seine Mutter zu sehen, sie selbst bleibt stumm. Es gibt die Mutter nicht mehr, sie ist tot, existiert nur noch in der Einbildung. Vielleicht ist das in diesem Song auch so. Leider gibt es von Kate Bush zu solchen Ähnlichkeiten keine Aussagen, deswegen muss das als Idee stehen bleiben. Aber auf jeden Fall sollte sich der Protagonist des Songs vorsehen, im Film geht es nicht gut aus. Die tote Mutter übernimmt die Kontrolle über ihn, so der Text der Schlussszene [13]. Vielleicht denkt die Mutter im Song auch ganz anders über das Geschehen, wir bekommen ja nur die Sicht des  Sohnes zu hören, die Mutter bleibt stumm (tot?). Wäre der Schluss von „Psycho“ und damit die Sichtweise der Mutter nicht auch ein schönes Schlusswort für den Song?

„It’s sad… when a mother has to speak the words that condemn her own of son… but I couldn’t allow them to believe that I would commit murder. (A pause) They’ll put him away now… as I should have… years ago. He was always… bad. And in the end, he intended to tell them I killed those girls… and that man. As if I could do anything except just sit and stare… like one of his stuffed birds. (A pause) Well, they know I can’t even move a finger. And I won’t. I’ll just sit here and be quiet. Just in case they do… suspect me“ [13]. Das Lied, ein eindringliche Mischung aus Familie und Tod, wirft immer mehr Fragen auf, je näher man hinschaut. Beantwortet wird keine davon. Mit beschwörenden Melodien und scheinbar harmlosen Texten stößt uns Kate Bush in die Untiefen einer komplexen Beziehung zwischen Mutter und Kind. Mother Stands For Comfort ist ein Song gefrosteter, außer Kontrolle geratener Emotionen, der uns in einen psychologischen Abgrund hineinstürzt und uns darin allein lässt. Es erstaunt (und beglückt) mich jedes Mal wieder, Kate Bush auf dem Album Hounds Of Love zu erleben. Es macht mich fassungslos, wie man ein so lebensbejahende Lieder wie The Big Sky und Jig of Life schreiben konnte, aber dann auch das erschreckende, abgrundtiefe Mother Stands For Comfort!
„I really admire Kate’s ability to make such beautiful art about culturally intense or taboo topics. Her music sounds like it comes from another universe but at the core it is always cleverly human. Only Kate can make such a cold concept feel so warm“ [8]. Langsam hat sich die Tiefe dieses Songs herumgesprochen, die Zeitschrift Mojo wählte ihn auf Platz 38 der besten Songs von Kate Bush [12]. Sam Liddicott sagt es sehr schön so – und dem ist nichts mehr hinzuzufügen: „On an album as varied and stunning as Hounds of Love, Mother Stands For Comfort underlines how Kate Bush is SUCH an immensely talented and varied creator“ [11]. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.273
[2] „Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.124f
[3] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.78ff (a-Moll) und S.245 (B-Dur)
[4] Night Flight, Unedited version, November 1985
[5] „Classic Albums interview: Hounds Of Love“. Interview mit Richard Skinner. Radio 1. 26.01.1992.
[6] Interview mit Peter Swales (unedited). Musician. Herbst 1985.
[7] N.N. (australischer Interviewer). Interview 2, CBAK 4011 .
[8] https://www.reddit.com/r/katebush/comments/r3j5t7/mother_stands_for_comfort_a_personal_analysis/?rdt=41441 (gelesen 14.04.2024)
[9] https://www.carookee.de/forum/Kate-Bush/86/Mother_Stands_For_Comfort.13942741.0.01105.html (gelesen 14.04.2024)
[10] https://songmeaningsfacts.com/mother-stands-for-comfort-by-kate-bush-unraveling-the-enigmatic-lyrical-tapestry/ (gelesen 15.04.2024)
[11] https://www.musicmusingsandsuch.com/musicmusingsandsuch/2020/11/27/feature-the-black-sheep-of-the-family-kate-bushs-mother-stands-for-comfort-from-hounds-of-love (gelesen 15.04.2024)
[12] https://www.mojo4music.com/articles/the-mojo-list/kate-bushs-50-greatest-tracks/ (gelesen 15.04.2024)
[13] https://the.hitchcock.zone/wiki/Scripts:_Psycho_(revised_draft,_01/Dec/1959)_-_part_8 (gelesen 18.04.2024)
[14] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Psycho_(1960) (gelesen 22.04.2024)
[15] Ted Nico: Fairy Tales & Nursery Rhymes. Melody Maker. 24. August 1985

Das Song-ABC: There Goes A Tenner

There Goes A Tenner stammt vom Album The Dreaming aus dem Jahr 1982, einem Album, in dem die Komponistin und Sängerin ALLES will und auf dem jeder Song ein Experiment ist. Der Gesang geht weg von der auf den früheren Alben vorhandenen Süße und Leichtigkeit hin zu mehr Ernst, er ist tiefer und  kräftiger, erdiger. Es gibt noch mehr Stimmfärbungen als früher, den Inhalten angepasst, die Stimme ist dabei immer unter völliger Kontrolle. Themen des Albums sind Konflikte und der Kampf gegen Hemmnisse, Grenzen und Selbstzweifel.
There Goes A Tenner nimmt alle diese Dinge auf und zeigt sie uns fast exemplarisch. Auf den ersten Blick scheint der Song fast leicht, aber er ist viel komplexer, als er erscheint. Man sieht schon an meiner Literaturliste, wie viele verschiedene Aspekte es zu erfassen gab. Die Biografen machen es sich wieder recht einfach und schauen auf die Oberfläche. Typisch ist Graeme Thomson, der meint, der Song sei „eine tänzelnde Krimiparodie, die sich durch Kate Bushs weichen, melodischen Cockney-Akzent auszeichnet“ [1].
Der Song wurde am 2. November 1982 als Single veröffentlicht [7]. Die Kritiken zur Single waren nicht sehr positiv, um es neutral zu sagen. Beispiele kann man auf [7] nachlesen. Sie war ein Misserfolg: „There Goes a Tenner attracted no interest from radio stations and television stations. The single did not sell well and became Bush’s first single to miss the top 75 in the UK, peaking at number 93“ [8]. Daran änderte auch das skurrile Video nichts, das von Paul Henry inszeniert wurde und das Kate als Teil einer Bande zeigt, die eine Bank ausraubt [7].
Kate Bush schien sich klar darüber zu sein, dass der Song als Single nicht ideal war. Für sie war es aber offensichtlich einer der zugänglichsten Titel des Albums: „But I think I’ve reached a stage where, because The Dreaming didn’t work, we all felt–especially from an airplay point of view–that in order to get airplay, which you need for a single to work, we should go for one that was more obvious, and there is no doubt that There Goes a Tenner is one of the more obvious songs.“ [6]

Das Ungewöhnliche, Experimentelle des Songs wird gut von Rob Jovanovic beschrieben, der den „skurrilen Mix aus spöttischem Londoner Akzent, einem hohen, mädchenhaften Refrain und gut eingefangener irischer Klangfarbe“ hervorhebt [2]. Auch den vielgestaltigen Gesang stellt er heraus: „Der schizophrene Gesang passte gut zum Auf und Ab der Stimmung in diesem Song, und die tuckernde Melodie wurde häufig für sanfte Zwischenspiele unterbrochen“ [2].
„Mit einer Barpiano-ähnlichen Einlage beginnt There goes a Tenner, dazu setzen Bläser ein […] und durch die Trompeten und die Breaks hat man das Gefühl, die gehetzte Sängerin stolpert auf der Flucht vor was auch immer durch die Gegend“ [3]. Der Gesang der Protagonistin ist zurückgenommen, sie singt mit einem deutlichen Akzent. Aber immer wieder wird die Protagonistin von einem gegensätzlichen Impuls in Träumereien abgelenkt, eine hohe Stimme enthüllt Selbstzweifel [16]. Das sind fast comicartige Einlagen, in einer kindlichen Stimme gesungen („all my words fade“). Es gibt zudem dunkle, tiefe, düstere Töne im Chorus („We‘re waiting“), die wie eine Ermahnung aus dem Grab klingen. Karikatur und Düsternis treffen in diesem Song zusammen – es ist ein gereiftes Echo auf das ähnliche Coffee Homeground vom Album Lionheart. „Die atmosphärischen Einlagen lassen den Song noch seltsamer und zugleich wunderbarer werden [3].
Aber im Untergrund dieses Songs ist offenbar etwas nicht in Ordnung. There Goes A Tenner ist skurril, aber beunruhigend [16], „[der Song] hat einen düsteren Subtext“ [1]. Graeme Thomson hat dazu eine Vermutung. „Die an einen Krimi aus den Ealing-Filmstudios erinnernde Geschichte von Amateurganoven, die ihr „großes Ding“ planen […], lässt die Interpretation zu, dass Kate Bush hier unbewusst die eigenen Ängste und Unsicherheiten bei der Produktion ihres Albums kommentiert“ [1]. Für mich ist das ein nicht von der Hand zu weisender Aspekt, aber es gibt noch mehr zu entdecken.
Worum geht es in There Goes A Tenner? Graeme Thomson fasst es ganz kurz zusammen: „Zu der bläserdominierten Melodie erzählte Kate von einem Bankraub oder Überfall, der schief ging“ [2]. Kate Bush hat sich in Interviews recht ausführlich dazu geäußert. „It’s about amateur robbers who have only done small things, and this is quite a big robbery that they’ve been planning for months, and when it actually starts happening, they start freaking out. They’re really scared, and they’re so aware of the fact that something could go wrong that they just freaked out, and paranoid and want to go home“ [6].
Diese Bankräuber warten darauf, dass der Überfall beginnt, dieses Warten ist für Kate Bush eines der Hauptthemen des Songs: „One of the bits in the song is all about waiting, and how the first time they’re just waiting for something to go wrong, and the second time they’re just waiting for the guy to blow the safe up, because when he blows it up, there is so much that could go wrong“ [6].
Beeinflusst wurde Kate Bush durch alte Gangsterfilme, die ihr immer etwas unrealistisch erschienen. Da haben die Räuber alles unter Kontrolle. Kate Bush kann sich das nicht vorstellen: „It’s sort of all the films I’ve seen with robberies in, the crooks have always been incredibly in control and calm, and I always thought that if I ever did a robbery, I’d be really scared, you know, I’d be really worried. So I thought I’m sure that’s a much more human point of view“ [6]. Colin Irwin kommentiert die ganze Thematik so: „Personally I reckon the girl watches too many B-movies“ [4]. Da kann ich nur sagen: zum Glück! Ich sehe viele Einzelheiten des Songs in einem anderen Licht, wenn ich ihn in einem zweiten Durchgang höre. Es ist wie bei guten Kriminalfilmen, bei denen Details im Nachhinein auf einmal eine ganz andere Bedeutung bekommen. Ich wähle diesmal daher ein neues Vorgehen, ich analysiere den Song in zwei Durchgängen. Auf Details des Songs und des Textes kann ich so quasi im Vorbeigehen eingehen.
Der Gesamteindruck des ersten Durchlaufs ist klar: die Protagonistin erzählt die Geschichte des Bankraubs bis zum Scheitern durch eine große Explosion. Der Song ist dabei in ganz klar erkennbare Abschnitte gegliedert, die sich insbesondere in der Stimmfärbung klar voneinander unterscheiden (drei Strophen, zwei Pre-Chorus-Abschnitte, zwei Chorus-Abschnitte, zwei Post-Chorus-Abschnitte, ein Outro).

Geschrieben ist der Song in einem fast reinen 4/4-Takt, bis auf eine ganz kleine Ausnahme [9]. Dieser Takt sorgt dafür, dass der Song geradlinig und entschieden vorangeht. Vielleicht hat auch das dafür gesprochen, ihn zu einer Single zu machen. Notiert ist das mit 2b, das ist hier ein g-Moll. Der ganze Song enthält fast nur Akkorde dieser Tonart bis auf einige ganz wenige Ausnahmen. Außer den Akkorden der g-Moll-Skala kommt nur noch der As-Dur-Akkord vor [9].
Nach Beckh [10] besitzt die Tonart g-Moll eine eher tragische Färbung. Hier fehlt die Hoffnung, es ist ein „unter Tränen lächeln“. G-Moll steht laut Beckh für zu frühes Verzagen, zu frühes Aufgeben der Hoffnung. Als typisches Beispiel führt er die Arie der Pamina „Ach, ich fühl‘s“ aus der Zauberflöte von Mozart an. G-Moll, das ist tragischer Schicksalsernst. Diese Tonart ist eigentlich viel zu dunkel für das comicartige Geschehen, sie weist vielleicht schon auf das Scheitern des Einbruchs oder auf noch düstere Dinge hin.

„Okay, remember“.
Die Strophen werden in einem fast erzählenden Tonfall gesungen, nah an Sprache, mit Cockney-Akzent. Der Anfang der ersten Strophe zeichnet ein klares Bild einer Räuberin, die die Pläne durchgeht, die sie und ihre Partner ausgearbeitet haben. Die Wiederholung von „Okay, remember“ zeigt die Nervosität der Protagonistin. Sie versucht sicherzustellen, dass ihre Partner den Plan genau befolgen, um Fehler zu vermeiden und nicht erwischt zu werden.

„The sense of adventure / Is changing to danger“.
Aber diese Räuber scheinen überfordert zu sein. Kate Bush hat erwähnt, dass das Lied davon inspiriert ist, wie kontrolliert und ruhig Kriminelle in Filmen wirken, wenn sie Raubüberfälle begehen und wie schrecklich nervös sie selbst wäre, wenn sie eine Bank ausrauben würde. Der „sense of adventure“ bezieht sich darauf, dass die Erzählerin offenbar geglaubt hat, ein Bankraub würde Spaß machen und abenteuerlich sein. Das ist diese Romantisierung in Filmen, von der Kate Bush gesprochen hat. Jetzt aber bereut die Protagonistin dies offenbar. Das Abenteuer hat sich „in Gefahr verwandelt“. Die Realität der Situation gewinnt die Oberhand und die Protagonistin erkennt jetzt, dass Gefahr auf sie zukommt.

„My excitement / Turns into fright“
Die Aufregung verwandelt sich in Angst. Dieser Pre-Chorus-Abschnitt wird in einer etwas höheren Stimme gesungen, das ist melodischer und gesanglicher als in den Strophen, klingt weniger wie eine Erzählung. Während der gesamte Song fast durchgängig im 4/4-Takt steht, findet sich in den beiden kurzen Pre-Chorus-Abschnitten der ungewöhnliche 5/4-Takt [9]. „Der 5/4-Takt zeichnet sich in der Welt des Rhythmus durch seine einzigartige Struktur aus. Bei dieser Taktart gibt es fünf Schläge pro Takt, wobei die Viertelnote einen Schlag erhält. Dadurch entsteht ein ungerader, unregelmäßiger Rhythmus […]“ [11].
Warum gibt es diese kleine, kaum merkliche Ausweichung in einen anderen Takt? Das Lied würde auch wunderbar funktionieren, wenn hier auch der 4/4-Takt gegeben wäre. Es muss also eine Bedeutung haben, einen verborgenen Sinn besitzen. Der 5/4-Takt ist schon etwas recht Seltenes und er wird oft dann verwendet, wenn etwas von der Normalität Abweichendes ausgedrückt werden soll. „Gustav Holst verwendete den 5/4-Takt für die Eröffnung seines Meisterwerks „The Planets“ [….]. Mit „Mars – the bringer of war“ schuf er eine dramatische [Musik]“ [11]. Aber ich vermute, eine ganz andere Assoziation könnte Kate Bush zur Verwendung dieser Taktart inspiriert haben. „Ein weiteres bemerkenswertes Musikstück, das den 5/4-Takt verwendet, ist das Thema aus der bekannten Film- und Fernsehserie Mission Impossible, komponiert von Lalo Schifrin“ [11]. Diese Serie stammt aus den Jahren 1966 bis 1973 [12], Kate Bush als erklärte Fernseh- und Filmliebhaberin wird sie sicherlich gekannt haben. Eine Geschichte über einen scheiternden Bankraub und dazu „Mission Impossible“, ich finde das sehr einleuchtend.
„All my words fade / What am I gonna say? / Mustn’t give the game away“ Dies ist der erste Chorus-Abschnitt, gesungen wird mit einer hohen kindlichen Stimme, wie ein kleines Kind, das sich im Dunkeln fürchtet. Ist die Protagonistin in die Kindheit zurückversetzt, erinnert sie sich daran? Ich spüre das Bangen darum, dass alles gut geht. Hier gibt es eine Abweichung von g-Moll, der As-Dur-Akkord erklingt zu den Anfangssilben von „What am I gonna say / Must‘nt give the game away“[9]. Zur Bedeutung dieser weit von g-Moll entfernten Tonart beziehe ich mich wieder auf Beckh [10]. As-Dur ist die „zur tiefsten Tiefe hinunterführende Tonart“. Es ist die dunkelste der Dur-Tonarten, das „Licht in der Finsternis“, vom mysteriösem Charakter. Beckh verwendet Ausdrücke wie „Schwanengesang“ und „Durchgang durch die Todespforte“ [10]. Warum wird in den Chorus-Abschnitten aus dem ansonsten streng durchgehaltenen g-Moll des Scheiterns und der Tragik in so eine Tonart des Übergangs in eine Jenseits-Welt ausgewichen? Ein Versuch einer ersten Deutung: Die Protagonistin ist innerlich voller Angst, von düsteren Vorahnungen erfüllt.

„We‘re waiting“
Hier im Post-Chorus ist musikalisch alles anders. Ganz tiefe Stimmen sind zu hören, kaum zu verstehen. Das ist dunkel und unheimlich. Es gibt keine klare Melodie, nur miteinander verschwimmende Akkorde im vollen Orchesterklang. Die Nervosität der Protagonistin schlägt in Angst um, während sie auf den geplanten Zeitpunkt des Überfalls wartet („Wir warten…“).

„We got the job sussed“
Die zweite Strophe ist musikalisch genauso wie die erste Strophe gestaltet. Die Nervosität der Protagonistin schlägt in fehlgeleitetes Selbstvertrauen um („Wir haben den Job durchschaut …“). Alles scheint unter Kontrolle zu sein, die Protagonistin schildert die genaue Situation. Der Plan sieht offenbar vor, einen Tresor mit Sprenggelatine (englisch „gelignite“) zu sprengen. Aber langsam kommen die Ängste der Protagonistin wieder („I’m having dreams about things not going right“).

„Both my partners / Act like actors“
Der zweite Pre-Chorus ist musikalisch wie der erste Pre-Chorus, wieder finden wir die etwas höhere Stimme, wieder finden wir den 5/4-Takt. Langsam gleitet der Text ins Irreale. Faustregel in diesem Song: je höher die Stimme, desto irrealer.
„You are Bogart, he is George Raft / That leaves Cagney and me“ Dieser zweite Chorus ist musikalisch eine Kopie des ersten Chorus. Kate Bush vergleicht ihre Diebeskameraden und sich selbst mit Humphrey Bogart, George Raft und James Cagney allesamt Hollywood-Hauptdarsteller aus den 30er und 40er Jahren, die für ihre Rollen als Gangster und andere harte Kerle bekannt waren [13]. Damit wird angedeutet, dass das Team eher Schauspieler als echte Kriminelle sind. Sie sind eigentlich nicht besonders geschickt im Diebstahl und täuschen nur eine ziemlich überzeugende Fassade vor. Eine Männerstimme im Hintergrund fragt dabei „What about Edward G.?“, ein Verweis auf einen weiteren berühmten Schauspieler dieser Zeit, Edward G. Robinson. 
Kate Bush erklärt diesen Bezug auf diese Schauspieler so: „They are people I like. For me, Cagney is one of the greatest actors that has ever been. I just couldn’t believe his acting in White Heat. He’s always played the boy who grew up in a hard time and in a way he was only ever bad because of the things that had influenced him. He comes across as a very human person who had the potential to do something great but was always misled“ [5]. Das gibt eine gute Erklärung, wie Kate Bush die Protagonistin in diesem Song sieht: eigentlich ein guter Mensch, aber fehlgeleitet.
Paul Simper fragte Kate Bush in einem Interview [5], ob der Song von den Krimi-Komödien aus dem Ealing Studios beeinflusst sei. Kate Bush stimmt dem zu: „Yeah, that’s right. So it’s like maybe they get a bit cocky… I dunno, I’ve never done a robbery, but I think that in a situation like that you’d almost try to be like the person you admire so perhaps they’d be like Cagney and George Raft. They idea was nothing like deep – it was just handy! The real challenge of that song was to make it a story but also keep it like a Thirties tune“ [5].

„We’re waiting“
Auch der zweite Post-Chorus ist musikalisch wie der erste Post-Chorus gestaltet. Die Einbrecher warten erneut, während die Zündschnur am Sprengstoff glimmt. Jetzt klingt dieser Stimmenchor fast noch unheimlicher und grabestiefer als beim ersten Auftreten.
„You blow the safe up / Then all I know is I wake up, covered in rubble“ In dieser dritten Strophe ist der Safe explodiert. Sie haben zu viel Sprengstoff verwendet und Banknoten werden in die Luft gesprengt – eine weitere bekannte Szene aus Filmen wie „Butch Cassidy und Sundance Kid“ und anderen [14]. Menschen taumeln in den Trümmern der Bank umher. Die Protagonistin ist von der Explosion betäubt und es ist unklar, ob der Rest des Liedes von Ereignissen handelt, die tatsächlich geschehen sind. Es könnten auch weitere Angstträume sein, wie sie sie schon zuvor hatte. Es könnten aber auch die verwirrten Gedanken von jemandem sein, der gerade in die Luft gesprengt wurde.
„One of the rabble needs mummy („What’s all this, then?“)“ Der Text „What’s all this, then?“ soll nach der Transkription [13] im Hintergrund zu hören sein. Dieser Ausdruck ist für mich kaum zu hören, da muss ich mich auf die Transkription verlassen. Es ist ein Ausdruck, der in der gesamten britischen Kultur, insbesondere in der Komödie, stereotypisch mit Polizisten in Verbindung gebracht wird [14]. Er bedeutet sinngemäß etwa „Was ist denn hier los?“. Offenbar kommt die Polizei zum Tatort. 
„The government will never find the money“ Diese Textzeile ist sehr mysteriös und hat bei Deutungsversuchen im Internet zu Spekulationen geführt. Warum wird niemand das Geld aus dem Tresor finden? Offenbar wurde es vom Winde verweht, wie es der Text später sagt. Bei einem typischen Raubüberfall übernimmt die Polizei die Ermittlungen. Kate Bushs Verwendung des Wortes „Government“ (Regierung) ist also sonderbar [15]. Ist das eine politische Anspielung? Ist der Überfall vielleicht politisch motiviert? Kate Bush hat irische Wurzeln und die IRA hat solche Überfälle durchgeführt. Rob Jovanovic hebt ja auch die irische Klangfarbe des Songs hervor [2]. Es mag sein, dass dies ein sublimer politischer Subtext ist. Es gibt aber im Song keine weiteren Hinweise darauf.
„I’ve been here all day / A star in strange ways“ Diesen Satz kann man mit „Ich bin den ganzen Tag hier / Ein Star auf seltsame Weise“  wörtlich übersetzen, aber das trifft nicht den Doppelsinn. Kate Bush setzt hier ein Wortspiel ein [13]. Die Protagonistin denkt darüber nach, wie merkwürdig es ist, dass einer Kriminellen so viel Aufmerksamkeit zuteil wird und verweist dabei auf Strangeways, ein berühmtes Gefängnis in Manchester. Auf dieses Gefängnis nehmen auch die Smiths in ihrem Albumtitel „Strangeways, Here We Come“ Bezug [13]. Vielleicht ist die Protagonistin nach dem Überfall in dieses Gefängnis verlegt worden.

Ab „I‘ve been here all day“ setzt eingewoben in den Klangteppich eine langgeschwungene Melodie ein, wie ein Lied aus einer anderen Welt. Die musikalische Welt verändert sich und geht in die Welt des Outro-Abschnittes über.
„Apart from a photograph, they’ll get nothing from me / Not until they let me see my solicitor“ Hier hat die Protagonistin einen klaren Moment. Das ist eindeutig eine Verweigerung der Aussage, bevor es eine Rechtsberatung gegeben hat. Ein Solicitor bespricht sich als Rechtsanwalt mit seinem Klienten und berät diesen juristisch, tritt aber nicht selbst vor (höheren) Gerichten auf [17]. Da die Rechtsberatung noch nicht stattgefunden hat, haben wir hier eine klare zeitlich Einordnung: es muss kurz nach dem gescheiterten Raub sein.
„Ooh, I remember / That rich, windy weather“ Nach dem zweifachen Durchgang durch die Abschnitte Strophe – Pre-Chorus – Chorus – Postchorus folgt nach der dritten Strophe nicht ein Abschnitt Pre-Chorus – Chorus – Postchorus, es folgt jetzt ein anders gestaltetes Outro. Hier lösen sich die Dinge wirklich von der Realität. Die Protagonistin ist möglicherweise immer noch bewusstlos oder stirbt sogar. Ab hier ist in der langgeschwungenen Melodie wie aus einer anderen Welt ein Chor aus Kate-Stimmen zu hören, der aber nur Vokalisen singt, keinen Text. Vielleicht ist der Text des Outros eine Erinnerung oder ein halb unbewusster Traumzustand. „Reiches, windiges Wetter“ beschreibt einen Wirbel fliegender Banknoten ziemlich gut. „Ooh, ich erinnere mich an dieses reiche, windige Wetter“, das ist eine Erinnerung an vergangene Dinge.
„When you would carry me / Pockets floating in the breeze“ Taschen, die im Wind schweben …. Jemand, vielleicht einer der anderen Räuber, versucht, sie aus dem Chaos wegzutragen, während ringsum alles durch die Luft fliegt.
„Ooh, there goes a tenner / Hey, look, there’s a fiver“ Da der Sprengsatz zu heftig war, wird das Geld („Zehner“ und „Fünfer“) im Wind verstreut, was den Zweck des Raubüberfalls zunichte macht. Die Erzählerin kann jetzt nur noch auf das davonflatternde Geld starren. Aber der Satz ist merkwürdig, weg von der Realität. Die Protagonistin hat entweder ihre Situation vergessen oder träumt und fragt sich, woher das ganze fliegende Geld kommt.
„There’s a ten-shilling note / Remember them?“ Die 10-Schilling-Note wurde 1970 aus dem Verkehr gezogen, vor der Umstellung des britischen Pfunds auf das Dezimalsystem im Jahr 1971 [13]. Unter der Annahme, dass es im Safe einer Bank der 1980er Jahre keine alten Banknoten gegeben hätte, zeigt dies einen noch tieferen Abstieg in den Traum oder die Unwirklichkeit.

„That’s when we used to vote for him“
Und hier wird es endgültig mysteriös. Wer ist dieser Mann, der offenbar gewählt worden ist? Zur 10-Shilling-Banknote passt vielleicht Harold Wilson, der Premierminister von 1964 bis 1970. Und wenn das so ist, was will uns diese Zeile sagen? Ich habe nicht die geringste Ahnung! Aber damit bin ich nicht allein, Jamie Andrews befragte dazu Kates Bushs Bruder: „Unfortunately, even John Carder Bush did not know who „him“ is, when I asked him about it“ [18].
Das Outro lässt viele Fragen offen. Warum dieses Zurück in eine vergangene Zeit? Spielt da die Geschichte? Oder erinnert sich die Protagonistin an etwas weit Zurückliegendes? Ist der Song ein alles rekapitulierender Fiebertraum im Todeskampf nach der Explosion, ist es eine Erinnerung am Rande des Totenreichs? Nehmen wir dies als Prämisse an und gehen noch einmal in einem zweiten Durchgang durch den Song, schauen, ob es Sinn ergibt!
Die Tonart g-Moll macht unter diesen Voraussetzungen mehr Sinn. G-Moll, das ist ja nach Beckh [10] tragischer Schicksalsernst, hier fehlt die Hoffnung. Jetzt im Nachhinein passt diese Tonart viel besser. Die Geschichte ist tragisch von Anfang an, es hat nie Hoffnung gegeben. Der Song beginnt mit der ersten Strophe, mit der Textzeile „Okay, remember“. Das lässt sich also alles als Erinnerung auffassen. Das bemerkt man nicht zu Beginn des Hörens, die Idee kommt erst zum Schluss des Dings auf. In diesem Song geht es um das sich Erinnern der Protagonistin, das sagt die erste Zeile.
„All my words fade / What am I gonna say? / Mustn’t give the game away“ Dies ist der erste Chorus-Abschnitt. „Alle meine Worte verblassen / Was soll ich sagen? / Wir dürfen das Spiel nicht verraten“ – deutet sich hier das Sterben an, „verblasst“ die Protagonistin? Zu den Anfangssilben von „“What am I gonna say / Must‘nt give the game away“ kommt hier der As-Akkord vor [9]. Nach Beckh [10] ist As-Dur die zur tiefsten Tiefe hinunterführende Tonart, der „Schwanengesang“, der „Durchgang durch die Todespforte“. Es ist eine Tonart des Sterbens, so macht die Verwendung auf einmal viel mehr Sinn.

„We‘re waiting“
Diese dunklen, tiefen, düsteren Töne im Post-Chorus klingen wie eine Ermahnung aus dem Grab. Sind das eventuell die durch den Sprengstoff getöteten Mittäter, die auf das Sterben der Protagonistin warten? Auch das hört man beim ersten Durchhören nicht, dazu braucht man die Kenntnis der ganzen Geschichte. Sind wir hier in der durch den As-Dur-Akkord angekündigten Jenseits-Welt? Hören wir hier die Stimmen der anderen Seite? Warten hier die Toten im Jenseits auf die Protagonistin? Dieser Post-Chorus macht für mich aus diesem Blickwinkel sehr viel Sinn.
„I’ve been here all day / A star in strange ways“ In der dritten Strophe setzt ab „I‘ve been here all day“ eingewoben in den Klangteppich eine langgeschwungene Melodie ein, wie ein Lied aus einer anderen Welt klingt. Sind das himmlische Engelsstimmen? Der Text der dritten Strophe lässt sich so auffassen, dass die Protagonistin in einer Art Zwischenreich zwischen Leben und Tod gefangen ist, vielleicht schon lange.
„Ooh, I remember / That rich, windy weather“ Im Outro-Abschnitt ist in der langgeschwungenen Melodie wie aus einer anderen Welt ein Chor aus Kate-Stimmen zu hören, der aber nur Vokalisen singt, keinen Text. Vielleicht sind es wirklich Engelsstimmen aus dem Jenseits. Im Text wird wieder das Erinnerungs-Motiv beschworen. Das könnte wieder eine Erinnerung der sterbenden Protagonistin sein. Die Dinge lösen sich von der Realität, die Protagonistin ist im ewigen Kreislauf der Erinnerungen gefangen. Wieder kommt der As-Dur-Akkord dazu, auf „Remember“ bei „Oh I remember / That windy weather“ und zu „Tenner“ in „Oh There Goes a Tenner“ [9]. Spricht hier die Protagonistin an der Todespforte? Für mich enthält der gesamte Text des Songs die letzten Worte einer Sterbenden. Vielleicht ist sie schon seit langer Zeit in einer Art Zwischenreich, dem Fegefeuer – der Bankraub passierte, als es noch 10-Shilling-Banknoten gab.
There Goes A Tenner ist wunderbar. Es ist ein Song mit so vielen Details, dass es richtig Spaß macht, das alles zu entschlüsseln. Eine skurrile, comicartige Krimiparodie verdeckt für mich eine düstere zweite Ebene. Aber der Song ist auch einfach so bezaubernd, man muss nicht tiefer blicken. Kate Bush nimmt in ihren Äußerungen zum Song auch nur Bezug auf die erste Ebene. Einfach mal wieder hören, das ist mein Rat. © Achim/aHAJ

[1] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.241
[2] Rob Jovanovic, Kate Bush. Die Biographie. 2006. Koch International GmbH/Hannibal. Höfen. S.135
[3] https://www.musikansich.de/review.php?id=10175 (gelesen: 04.04.2024)
[4] Colin Irwin: Review The Dreaming. Melody Maker. 11.09.1982.
[5] Paul Simper: Dreamtime is over (Interview). Melody Maker. 16.10.1982.
[6] „The Dreaming Interview“. CBAK 4011 CD (picture disk).
[7] https://www.katebushencyclopedia.com/there-goes-a-tenner/ (gelesen: 31.03.2024)
[8] https://en.m.wikipedia.org/wiki/There_Goes_a_Tenner (gelesen 08.04.2024)
[9] “Kate Bush Complete”. EMI Music Publishing / International Music Publications. London. 1987. S.158f
[10] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner. Verlag Urachhaus. Stuttgart 1999. S.248f (g-Moll) und S.196ff (As-Dur)
[11] https://www.skoove.com/blog/de/takt-und-taktarten/ (gelesen 08.04.2024)
[12] https://en.m.wikipedia.org/wiki/Theme_from_Mission:_Impossible (gelesen 08.04.2024)
[13] https://genius.com/Kate-bush-there-goes-a-tenner-lyrics (gelesen 01.04.2024)
[14] https://www.reddit.com/r/katebush/comments/xj1j94/how_do_you_interpret_the_last_verse_of_there_goes/?rdt=53197 (gelesen: 04.04.2024)
[15] https://songmeanings.com/songs/view/54728/ (gelesen: 04.04.2024)
[16] https://www.daysoftheunderground.com/post/kate-bush-rock-folk (gelesen: 04.04.2024)
[17] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Barrister#:~:text=Ihm%20gegen%C3%BCber%20steht%20der%20Solicitor,vor%20Gericht%20(um%201900) (gelesen 08.04.2024)
[18] http://gaffa.org/dreaming/td_tgat.html (gelesen 09.04.2024)

Mit viel Tam Tam zur RSD-Single

Puh, da waren die Nerven dann doch kurzzeitig strapaziert. Der Plattenladen in Aachen öffnet pünktlich um 12 Uhr, man ist großzügig um 11.45 Uhr vor Ort und sieht: eine Schlange. Fünf Leute vor mir . Klar, die wollen alle am Record Store Day 2024 die Kate-Single. Was sollten die auch sonst da?! Sekunden später zehn Leute hinter mir. Und auch da ist klar, was die wollen. Also erst mal warten. Die Platte ist vorbestellt. Schon mal gut. Aber was, wenn sie nicht an der Theke liegt, sondern trotzdem eingeräumt ist und die fünf Vinylfans vor mir sich genau auf das Fach B wie Kate Bush stürzen? Die Tür öffnet, alle stürmen rein. Alle vor mir rennen zu den Platten, ich zur Theke . „Tach, ich hätte gerne…“ Ein Griff unter die Theke und da ist sie. Eine von 10.000 Stück. Jippiee. Split me open. With Devotion. You put your hands in. And rip my heart out. Schnell noch ein Foto vom Plattenladen, damit man den auch weiterempfehlen kann. Und weil eine Freundin beim Bild mit dem Satz reagiert hat: „Wart Ihr im Obstladen?“ Nein! Bester PLATTENLADEN in Aachen. Danke.

Handsigniert: Planar 3 und ETM-Testpressung

Kate ist in diesem Jahr zum Record Store Day in UK nicht nur offizielle Botschafterin, sondern verbindet das auch mit ihrem Engagement für die englische Organisation War Child, für die sie bereits mehrfach handsignierte Drucke oder zuletzt auch einen Teil der Einnahmen aus den Lost at Sea-Boxen zur Verfügung gestellt hat. Zur Record Store Day verlost War Child nun etwas wirklich außergewöhnliches: einen von Kate handsignierten roten Rega Planar 3 Plattenspieler. Allein der Plattenspieler ohne die Unterschrift dürfte schon um die 900 Euro kosten – mit Signatur ist er einzigartig. Obendrauf gibt es noch eine ebenfalls signierte Testpressung der Eat The Music-Single zum Record Store Day – ebenfalls einzigartig. Haken an der Sache: Man braucht schon richtig viel Glück. Plattenspieler und Single werden verlost, mit 5 Pfund ist man dabei. Kleiner Schönheitsfehler: Man muss in England leben, um teilnehmen zu dürfen (oder jemanden kennen, der dort lebt). Teilnahmeschluss ist der 5. Mai.

Update
Auf der Spendenseite für War Child hat es ein interessantes Update gegeben: Bisher war bei der Testpressung von der Eat The Music-Single zum Record Store Day die Rede, jetzt steht da „signed testing pressing of ‚The Dreaming‚“. Das könnte dann auf schwarzem Vinyl vielleicht eine Testpressung der Escapologist-Edition sein….

Das Song-ABC: Among Angels

Dies ist definitiv einer der ergreifendsten Songs von Kate Bush. Among Angels ist der Schlusstitel ihres Albums „50 Words for Snow“, ihres zweiten Albums von 2011. Wie viele Stücke dieses Albums zeigt er uns Kate Bush am Klavier, wieder einmal stellt sie die Fähigkeiten zur Schau, die sie als Teenager entwickelt hatte. Aber insbesondere in diesem Stück zeigt sich, welche Entwicklung sie seither in diesen Jahren gemacht hat, zu welcher Reife sie gelangt ist. Dieses karge, ergreifende Liebeslied an einen bedrängten, geliebten Menschen hat nichts mit Schnee zu tun, dem zentralen Thema des Albums. Es passt aber perfekt als Coda zur Atmosphäre dieses Albums voller glitzernder, winterkühler und übernatürlicher Träumereien.
Der Song ist offenbar einige Zeit vor dem Album entstanden, worauf Graeme Thomson hinweist. „Among Angels hatte sie allerdings bereits drei Jahre zuvor geschrieben und angesichts der Entstehungszeit, des Textes und der Stimmung, die Trauer, Liebe und Zweifel in sich vereint, fällt es schwer, den Song nicht als Reaktion auf den Tod ihres Vaters, der 2008 verstarb, zu verstehen“ [6].
Es passte einfach hinein in die Stimmung des Albums, es hatte seinen Ursprung in der gleichen Quelle der Inspiration. Deshalb wurde es aufgenommen, wie Kate Bush es in einem Interview sagte: „[…] although it has nothing to do with snow I felt that it’s, it had it’s place in there atmospherically, it just seemed to feel, you know, part of the same place that the other songs were coming from“ [7].

Als einziger live gespielter Song dieses Albums war er Teil von Kates Zugabe während der Before The Dawn-Konzerte, eine Live-Aufnahme wurde Ende 2016 auf dem gleichnamigen Konzertalbum veröffentlicht. Er war auch die B-Seite der Lake Tahoe-Picture-Disc, die zum Record Store Day 2012 veröffentlicht wurde [1]. Bei ihren Before The Dawn-Konzerten war Among Angels das einzige Stück, das Kate Bush allein auf der Bühne spielte, was zur Intimität des Songs beitrug. Among Angels ist ein Song, der von einem Gefühl der Einsamkeit und der Suche nach Trost und Erlösung handelt. Er handelt von der Verzweiflung, die wir empfinden, wenn wir uns an einem dunklen Punkt unseres Lebens befinden. Wir vergessen die Menschen, für die wir uns wichtig sind, die uns immer zur Seite stehen. Kate Bush nennt diese Personen die Engel. Das könnte man religiös interpretieren, aber das gibt der Text in seiner Gänze nicht her. Engel sind Menschen, die uns, ob physisch anwesend oder nicht, Trost spenden. Es sind Menschen, deren Liebe ewig und unerschütterlich ist und deren Unterstützung immer da ist. Das Lied ist damit eine tröstliche, zärtliche Aufmunterung.
Aber neben diesem Trost hat der Song auch eine sehr realistische, lebensnahe Perspektive. Er ist eindeutig auch eine Aufforderung zur Selbstreflektion: „Only you can do something about it / There’s no-one there, my friend“. Kate Bush ist Realistin, für sie haben wir alle die Fähigkeit, unsere eigenen Probleme anzugehen und unser eigenes Glück zu finden. Das Lied startet in dieser sehr geerdeten Stimmung, doch bald wird das spirituell überhöht und Kate Bush spendet uns himmlischen Trost zu zarten Akkorden: “I see angels standing around you / They shimmer like mirrors in summer / But you don’t know it”. „Während „Zweifel kommen und gehen“ („in and out of doubt“) spricht der Song von Liebe, Hoffnung, Tod, Glaube und Kampf“, so sagt es treffend Graeme Thomson [6]. 
Kate Bush schreibt selten aus einer rein persönlichen Perspektive, sie zieht die Distanz zu einer fiktiven Figur vor. Doch dieser Song kommt mir wie ein äußerst persönliches Lied vor. Dies gibt es manchmal bei Kate Bush, man denke an Moments Of Pleasure und A Choral Room. Vielleicht ist es an einen Freund gerichtet, vielleicht an die Sängerin selbst (der Tod ihres Vaters). Er zeigt tiefes Mitgefühl für die Person, an die es gerichtet wird. Der Song gibt jedoch nicht vor, zu wissen, wie man das heilt, was nicht in Ordnung ist. „Only you can do something about it“, lautet ja die erste Zeile. Dennoch ist das Lied voller Trost: „There’s someone who’s loved you / Forever / But you don’t know it“.

Among Angels ist der einzige Titel, bei dem Kate als alleinige Interpretin genannt wird. Es gibt kein Schlagzeug, keine Rhythmusinstrumente, wir hören das Klavier und einen fast schmerzenden, leisen Gesang, zärtlich, voller Emotion, wunderbar gesungen. Das ungedämpfte Klavier lässt die Obertöne durchgehend hören, was dem Ganzen eine ätherische Atmosphäre verleiht. In der Mitte des Songs kommen leise Streicher dazu im Streicherarrangement des amerikanischen Orchestrators Jonathan Tunick. Dies macht die Emotionen des Songs noch stärker. Ganz zart und ruhig sind diese Streicher, sie wirken wie ein zarter Schleier über der Musik, es sind verhallende Echos der Klaviertöne. „Fünf Minuten lang umkreist Kate Bush vorsichtig tastend die Melodie, bis sie sie schließlich packt und das Stück [….] zu Ende singt““, so sagt es Graeme Thomsom [6]. Der Song nimmt sich Zeit, lässt die Zeit stillstehen. Der Schluss ist ein Streicherakkord, der ganz allmählich verhallt. Der Beginn des Songs (Album-Version) ist bemerkenswert, es beginnt mit einer Art Fehlstart. Der Titel startet zunächst mit einem offenbar falschen Akkord, woraufhin Kate Bush ein „No“ als Entschuldigung murmelt und dann neu mit dem Grundakkord beginnt, mit einem D im Bassschlüssel. Dieser Fehler blieb „[…] auf der Aufnahme enthalten. Es waren eigentlich nur Kleinigkeiten, aber sie zeugen von einem tief empfundenen, neuen Verlangen, die Stimmung des Moments zu bewahren“ [6]. Kate Bush erläuterte das 2011 während ihres BBC Radio 4-Interviews: „I was going to take that off, so it just started with the top of the track, but a couple of friends said “No, no, no, don’t take it off!” Because it’s great because you actually get drawn into the song because you’re going “Oh, what happened there?“ [1]. Schön, dass sie es so gelassen hat!
Leider gibt es zum Album kein Songbook, für eine musikalische Analyse beziehe ich mich auf [4]. Es gibt häufige Taktwechsel in der Musik, was das Gefühl der Zeitlosigkeit verstärkt, weil es ein „Mitwippen“ verhindert. Notiert ist der Song in a-Moll, die Akkorde dieser Tonart bestimmen den Song. Tonika und Dominante der Paralleltonart C-Dur sind ebenfalls prominent vertreten. Aber es gibt auch Ausweichungen nach A-Dur, einer weiter entfernten Tonart.
Bei der Deutung der Tonarten beziehe ich mich auf Beckh [5]. Wie so oft sind die Tonarten bei Kate Bush auf den Punkt genau genutzt. Laut Beckh ist a-Moll schwermütig und poetisch. Es steht für die romantische Zwienatur, die Zwielicht-Natur, es ist die Sehnsuchtstonart. Damit gibt es genau die Grundstimmung des Songs wieder. A-Moll unterscheidet sich in seinem Charakter klar von C-Dur. Das ist die Tonart des klaren Lichts, die Tonart der nüchternen Klarheit. Bei aller romantischen Zärtlichkeit enthält der Song ja auch genau solche realistischen Momente der Klarheit. Aber da gibt es noch mehr. Nach Beckh „hat das schwermütige, poetische a-Moll schon durchaus Anteil an der Romantik von A-Dur“. A-Dur, das sind Lichteshöhen, das ist überirdische Leichtigkeit, das ist die Überwindung der Erdenschwere. A-Dur ist die Tonart des überirdischen Lichts, sie steht für höchste verklärte Seelenstimmung. Welche Tonart könnte besser für die Engel stehen und ihren Trost?
Zur Wirkung des Songs möchte ich Personen sprechen lassen, die ihn live bei den „Before The Dawn“-Konzerten erlebt haben. Stephen W. Tayler hat dabei mit Kate Bush zusammengearbeitet. “When I was invited by Kate to become the ‘Kate Vocal Navigator’ for the Before The Dawn live shows, we spent months with the crew and the band rehearsing and preparing. Every day at lunchtime, when the rehearsal stage was empty, Kate would come and practise a few songs at the piano with just me in the room, controlling her sound. One song she rehearsed every day was Among Angels. I was almost in tears every time she performed it. I was controlling her vocal live which was nerve-racking as it became a real struggle to concentrate. I was overwhelmed with emotion every time. You could hear a pin drop in the theatre.“ [2]
Die Musikjournalistin Jude Rogers war als Gast bei den Konzerten anwesend. „She came back for the encore, alone, and sat behind her piano. That’s when the weight of the night finally hit me. Pop shorthand still paints Kate Bush as a creature of wide, wild eyes and excess. She is much more about gentleness, thought, and small details.“ [3]

Among Angels ist ein wunderbarer, tiefsinniger Song. Er vermittelt eine Botschaft der Hoffnung und des Trostes in Zeiten der Verzweiflung. Gleichzeitig spricht er die universelle menschliche Erfahrung der Suche nach Sinn und Erlösung an. Stephen W. Tayler bringt es auf den Punkt: „I heard it for the first time when I was mixing the album 50 Words For Snow with Kate. The mood, simplicity, intimacy and emotion hit me right there and then. It’s such a profound and evocative song and such a stunning performance“ [2]. Wie bei allen großen Songs nützt er sich nicht ab, wie auch Stephen  W. Tayler feststellt: “I’ve heard Among Angels too many times to count, yet still feel the same emotions whenever I hear it, as if for the very first time.” [2] Das live zu hören, zum Abschluss eines großartigen Konzerts …. das muss eine überwältigende Erfahrung gewesen sein. Jude Rogers sagt es so und fasst für mich die Wirkung des Songs perfekt zusammen: „Among Angels says something magical in its shy notes and discordant moments: that people are there. There are angels that surround me, „like mirrors, that shimmer like summer“. I rest my „weary world in their hands“, lay my „broken laugh at their feet“. The music takes me to another place too, like a late Talk Talk song, quietly, effervescently. On Tuesday, that meant everything. Kate and I, for a moment, were alone, together.“ [3]
Among Angels ist einfach „Elegant und außergewöhnlich – ein grandioser Abschluss“ [6], wie es Graeme Thomson kurz und (zu) knapp zusammenfasst. Mich überwältigt der Song jedesmal, wenn ich ihn höre. Ich muss dann immer einen Moment ganz still sitzen und warten, bis die Emotionen abklingen.
Among Angels ist der Schlusspunkt von 50 Words For Snow. Neue Musik hat Kates Bush seitdem nicht veröffentlicht. Wir warten und warten und haben die Hoffnung irgendwie verloren. Der Song gibt uns ja Trost und Hoffnung und so will ich auch diesen Text mit etwas Hoffnung enden lassen. Könnte irgendwann etwas Neues kommen? Im Jahr 2011 hat sich Kate Bush in einem Interview dazu geäußert. „Well I’ve already got some ideas for the next one but I need to take some kind of break because I’ve been working so consistently for quite a long time now and I just need to sort of step back for a bit really, I think that’s very important ’cause I think if you work incessantly I think it’s quite dangerous. I think you start to lose you know a sort of picture of… I mean that’s just me; maybe it works for other people.“ [7]
Das gibt doch Hoffnung! Ein neues Album muss für Kate Bush eine neue Welt sein, so sagte es sie auch in diesem Interview: „I suppose I like to think that each album is really different from the one before. That’s really important to me ’cause I don’t want to feel like I’m making the same record all the time. I want it to be just a completely new challenge […].“ [7] Hoffen wir, dass sich irgendwann diese neue Welt für uns öffnet! © Achim/aHAJ

[1] https://genius.com/Kate-bush-among-angels-lyrics (gelesen 24.03.2024)
[2] https://www.loudersound.com/features/kate-bush-40-greatest-songs-of-all-time/2 (gelesen 24.03.2024)
[3] https://thequietus.com/articles/16137-kate-bush-beyond-the-hits (gelesen 25.03.2024)
[4] https://chordify.net/chords/kate-bush-songs/among-angels-chords (gelesen 24.03.2024)
[5] Hermann Beckh: Die Sprache der Tonart in der Musik von Bach bis Bruckner; Stuttgart 1999. S.78f (a-Moll), S.71f (C-Dur) und S.136f (A-Dur)
[6] Graeme Thomson: Kate Bush. Under the ivy. 2013. Bosworth Music GmbH. S.406f und S.416
[7] https://musicfeeds.com.au/features/podcast-kate-bush-talks-50-words-for-snow/ (gelesen 31.03.2024)