Kann ja sein, dass Kate Bush auf ihrer neuen Platte vom Sex mit einem Schneemann singt – das bei weitem erotischste Stück auf „50 Words For Snow” ist trotzdem der Opener „Snowflake“ (die Lyrics finden Sie hier), worin die sinnliche Begegnung mit einer lang erwarten Schneeflocke geschildert wird. Im Refrain, den man in diesem Stück immerhin neun Mal zu hören bekommt, heißt es: „Die Welt ist so laut, falle weiter, ich werde dich finden”. Da wartet ein menschliches Gegenüber voller Sehnsucht auf die Ankunft des eisigen Geliebten. Ja, hier werden alle Register des schnulzigen Liebesfilmes gezogen. Dass die Rolle der Schneeflocke von Kate Bushs Sohn übernommen wird, heißt noch lange nicht, dass es hier um Mutterliebe geht…
Der Schneeflocke auf der anderen Seite geht es ja nicht anders: Sie schildert zu Beginn ihre Geburt in einer Wolke und wie sie sich nun auf den Weg macht. Im Film würde man sagen, jetzt folgt Shot auf Gegenshot, Ich-Kamera der Schneeflocke vs. Ich-Kamera des Erdenbewohners, der mit bangen Augen nach oben in den Himmel blickt. Die Schneeflocke schreitet zur Selbstbeschreibung, auf dass man sie auch erkennen möge: „Ich bin Eis und Staub” – setzt hier etwa jemand zu einer physikalischen Lehrstunde an? Oh nein, es gehört noch mehr dazu – „und Licht und Himmel” (sie kann ja schließlich als Erkennungszeichen keine rote Blume im Knopfloch tragen). Will sagen: Ich bin nicht nur rein stofflich, ich bin auch ein ätherisches Wesen (wie sympathisch: welcher Liebende versucht das seinem Wunschpartner nicht weiszumachen?) Sie sagt: Schau nach oben und du wirst mich sehen; halte dich bereit, mich zu fangen.
Nun wissen wir also, mit wem wir es zu tun haben und wo wir uns befinden, doch was sagt eigentlich die Uhr? Wenig überraschend: es ist Mitternacht am Weihnachtstag. Man darf sich bei dieser ersehnten Ankunft also durchaus noch einen religiösen Subtext dazudenken: Diese Begegnung wird nicht nur für die beiden Beteiligten Folgen haben. Hier wird mehr erwartet als eine rein körperliche Beziehung, aber die eben auch – fallen, das kann sowohl der Engel, der vom Himmel kommt (oder gar der Sohn Gottes), als auch die Frau, die – um einen literarischen Kronzeugen zu bemühen – halb gezogen wird, halb hinsinkt.
Die beiden Sehnenden kommen sich also näher, was im Text dadurch signalisiert wird, dass der Refrain in immer kürzeren Abständen wiederkehrt – ein Ausdruck für steigende Erwartung, „keep falling“, komm schon, komm her, diese Welt ist zu laut, rette mich. Und je näher der Zeitpunkt des Treffens rückt, desto empfindlicher werden die Sinne, man spürt die Präsenz des anderen: „ich höre Menschen, ich glaube du bist nah”. Die Haut ist äußerst sensibel, die Gänsehaut muss schon gar nicht mehr erwähnt werden, weil man sie in diesen Sätzen bereits mitdenken kann. Starke sexuelle Konnotationen erscheinen: „Du mit deinem langen weißen Hals” – dieses Bild der Schneeflocke ruft natürlich Bilder von aristokratischen viktorianischen Damen auf, die sich dehnen, um kurzzeitig einen sehr empfindlichen und stark erotisch aufgeladenen Teil ihres Körpers den Blicken der anderen darzubieten.
Und natürlich auch das eine Analogie zur romantischen Liebe: „Millionen von Schneeflocken über dem Wald”, aber wie wir wissen ist keine wie die andere. Das romantische Liebesideal: Irgendwo da draußen ist mein passender Partner, der Einzige, für mich bestimmt, ich muss ihn nur finden oder von ihm gefunden werden, „I’ll find you, I want you to catch me”. Zum Koitus kommt es in „Snowflake” nicht: Kurz vor dem geplanten Happy End wird die Kamera dezent weggedreht. Vielleicht besser so, später, beim Sex mit dem Schneemann, wird man ja sehen, was nach der Ekstase übrigbleibt: ein pitschnasses Bett.
Tina Manske
Veröffentlicht auf: www.culturmag.de
(Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.)
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